Sonntag, 8. Dezember 2024

4. Kapitel – Moskau

I

Sima fuhr. Ich versuchte, mich noch ein wenig auszuruhen. Kraft zu sammeln. Für Moskau. Denn die Stadt wollte ich selbst fahren. Der Mond am klaren Nachthimmel begleitete uns, wir konnten ihn nicht überholen …

Moskau …

Von uns beiden war Sima der erste, den es erwischte. In Schachowskaja trat ein Polizist einen Schritt in die Fahrbahn und dirigierte uns mit der Kelle heraus. Sima zeigte alle Dokumente. Wir hatten nichts falsch gemacht. Eine normale Verkehrskontrolle. Ab Wolokolamsk, 99 Kilometer vor dem äußersten Moskauer Ring, wurde die M9 zur Autobahn. Erst vierspurig, später sechsspurig. Dann achtspurig, mit einem Mittelstreifen aus Betonteilen. Laternen beleuchteten die Fahrbahn. Der Verkehr wurde dicht. Alles war voller Lichter.

Sima, fahr da vorne an der nächsten Tankstelle bitte raus.“

Es war soweit. Ich wollte einen Espresso trinken, bevor ich mich ins Abenteuer stürzte. In der Tankstelle, die sich gediegen präsentierte und sicher keiner deutschen Autobahnraststätte nachstand, begriff ich zum ersten Mal, was Sima gemeint hatte, als er sagte, Moskau wäre sehr teuer. Neben begehrenswerten Outdoorartikeln für den russischen Mann (Gaskocher, Grill, Äxte, Motorsägen, Angelzeug) und Klamotten für Touristen (Baseball-Kappen, T-Shirts) fesselte mich besonders eine einfache Schachtel Mon-Cherie-Pralinen. Sie lag im Süßigkeitenregal und darunter stand ein Preis, den ich zunächst gedanklich überhaupt nicht verarbeiten konnte. Er schien mir irgendwie vom Mond zu sein. Oder ein Druckfehler: 799,- Rubel. Das waren nach dem geltenden, sehr günstigen Kurs umgerechnet 13 Euro. Ein Jahr früher wären es 17 Euro gewesen! Kaum zu glauben. Ich suchte nach einem Souvenier. Hätte es eine rote Baseball-Kappe mit einem schönen, eingestickten „Rossija“ gegeben, hätte ich mir eine gekauft. Aber leider …

Sima war auf der Klo. Ich nahm meinen Espresso (79,- Rubel/1,30 Euro) und trat in die Nacht hinaus. Trotz der späten Stunde ging es lebhaft zu. Ich wollte den Bus im Auge behalten. Wer wusste, ob hier nicht Kriminelle unterwegs waren? Unser deutsches Kennzeichen fiel bestimmt sofort auf. An einer Glasfront klebte ein riesiger Stadtplan von Moskau. War das ein Zeichen? Denn ein Gedanke ließ mir schon die ganze Zeit keine Ruhe: Es war überhaupt nichts dabei, um Moskau herum zu fahren. Der Autobahnring versprach weder eine Herausforderung, noch ein bleibendes Erlebnis zu werden. Im Prinzip wusste ich längst, was ich zu tun hatte, deshalb stand ich ja so unter Strom. Ich wollte Moskau nicht umfahren. Ich wollte mitten durch Moskau hindurch fahren! Vielleicht würde ich der größten Stadt Europas nie wieder so nahe kommen. Nicht in ihr gewesen zu sein, den Moskauer Asphalt nie berührt zu haben, nie an Moskaus Ampeln gewartet, sich nie mit gespannten Sinnen in der russischen Metropole orientiert zu haben – das würde ich später gewiss bereuen. Jetzt war die Gelegenheit! Was gab es da zu zaudern? In meiner Studienzeit hatte ich einige Jahre als Taxifahrer gejobbt. Eine große Stadt zu durchqueren, empfand ich schon immer als elementare Erfahrung. Würde sie gut zu mir sein, sich mir öffnen, mich aufnehmen und willig hindurchlassen? Oder würde sie sich heimtückisch verhalten, sich sperren, herumzicken und mir fremd bleiben? Ich war schnell darin, das zu erfassen. Eine einzige Nachtfahrt durch Moskau würde mir genügen, um sagen zu können: Ich war da, ich habe sie berührt, gespürt, bin in ihr gewesen – ich habe es getan!

Ich stand vor dem Stadtplan und taxierte die Lage. Meine aus dem DDR-Schulatlas stammende Erinnerung passte: Moskau sah aus wie ein eiförmiges Wagenrad. Sehr einfach im Prinzip: außen ein Ring – die Felge. Simas Autobahnumfahrung. In der Mitte das Zentrum – die Nabe des Rades. Dorthin führten sternförmig Straßen aus allen Richtungen – die Speichen. Man brauchte also nur einer „Speiche“ bis ins Zentrum zu folgen und auf einer anderen wieder heraus zu fahren. Was sollte da schief gehen? Soweit die Theorie. In der Praxis war die größte Stadt, die ich selbst durchfahren hatte, Berlin. Moskau war größer und hatte dreimal soviel Einwohner. Das bedeutete eine enorme Bevölkerungsdichte. Und das wiederum sehr viele Autos. Ergo würde uns Stau erwarten. Wenn überhaupt je, dann war die beste Zeit, Moskau zu durchfahren, genau jetzt, heute Nacht. Mit dem heißen Espresso in der Hand prägte ich mir den Weg ein. Die M9 immer geradeaus. Vermutlich würde das Zentrum ausgeschildert sein. Bis zum innersten Ring weiter fahren. Kurz vor dem Roten Platz nach rechts abbiegen, das Zentrum im Süden umfahren und dann auf der gegenüberliegenden Seite hoffentlich irgendwo einen Wegweiser zur M7 finden – unserer nächsten Fernstraße, auf der wir bis zum Ural bleiben würden. Das war der Plan.

Wie gesagt: Ich hatte kein Navi, keine Karte und ich konnte kein Russisch. Gut, Sima war dabei. Doch ich musste erst noch sehen, wie er meinen Plan aufnehmen würde. Kurz nach Ein Uhr setzte ich mich hinters Steuer, drehte den Zündschlüssel um und fuhr los. Richtung Moskau. Richtung Abenteuer. Richtung bist-du-wahnsinnig-oder-was?

II

Als wir wieder auf der Autobahn waren, teilte ich Sima mein Vorhaben mit. Er trug es mit Fassung. Das heißt: er schwieg. Da musste er jetzt durch. Ich selbst war viel zu aufgeregt, um mich von seiner Anti-Haltung beeindrucken zu lassen. Das einzige, was ich mir am Stadtplan an der Tankstelle eingeprägt hatte, war der Straßenname der M7 auf der anderen Seite des Zentrums: „Schossee Entusiastov“, danach würde ich suchen müssen. Das war der erste Name der M7, die in Moskaus Zentrum begann. Die Chaussee des Enthusiasmus. Wir werden sehen…, dachte ich.

Wenn schon durch Moskau, dann mit der richtigen Musik. Ich legte die CD einer DDR-Rockband ein: Das Beste von Pankow. Mit 90 Stundenkilometer näherten wir uns dem Ring. Sima nickte ein letztes Mal in Richtung der Vorwegweiser. Noch hast du die Chance, sagte seine Geste. Schwupp, der Wegweiser flog über uns weg. Schwupp, der nächste. Dann kam die Ausfahrt. Ich blieb. (Pankow: „Mach’s gut, Inge Pawelczick, du wilde Wahnsinnsmaus …!“) Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Ich wurde euphorisch. Alles war voller gelber Lichter. Über uns, neben uns, vor uns. Brücken, Tunnel, irre mehrstöckige Kreuzungen. Ich machte Fotos während der Fahrt, rief „Waaaaahnsinn!“ Auch Sima mimte nicht länger den Gleichgültigen. Er holte sein Handy heraus und begann, Moskau zu knipsen. („Ja, Werkstattleben, das ist hektisch, das macht mich verrückt elektrisch …“ sang Pankow.) Wegweiser. Da – Zentr! Alles perfekt. Wir kamen auf eine Erhöhung, eine Brücke. Die Aussicht war hervorragend von hier oben. Vom linken bis zum rechten Horizont dehnte sich Moskau bei Nacht. Lichter, wie der Sternenhimmel. („Die Düsen gehen an – die Flügel fahren aus – durch das kleine Gitterfenster – schießt sie in den Himmel raus – und sie fliegt!“) Rechts Wolkenkratzer, blau beleuchtet. Zu ihren Füßen glitzerte schwarz die Moskwa. Schriftzüge in grün und weiß. Das musste das Bankenviertel sein. Ich fuhr langsam, damit wir Fotos machen konnten. („Und sie denkt an die Sekunden nach den Erdkundestunden … als der Globus heimlich rollte – und sie flog wohin sie wollte…“)

Die Ost-West-Ausdehnung Moskaus auf der Straße betrug etwa 40 Kilometer. Ich musste nur den richtigen Weg beibehalten. Die Orientierung wiederzufinden, nachdem man sie verloren hätte, würde die Sache ungleich verkomplizieren. Aber noch war alles kein Problem. Zentr. Ich fuhr und fuhr. Der nächste Ring. Wieder Vorwegweiser. Zweiter Autobahnring. Sollte ich? Nein. Zentr. Geradeaus hieß mein Weg. Mitten hinein ins Herz Moskaus. Bis es nicht mehr weiter ging.

Die Stadt war dermaßen groß … dass ein Land wie Russland eine Stadt wie Moskau überhaupt hervorbringen konnte, musste an einem metaphysischen Gesetz des Ausgleichs liegen. Als hätte jede einzelne kleine der Milliarden russischen Birkchen einen Tribut gezahlt, dafür, dass sie alle selbst Wald bleiben durften. Und heraus kam – quasi als Ablass für den ungeheueren Wald – eine ungeheuere Stadt. Wie der Rest des Landes Nicht-Stadt ist, so ist auf umgekehrte Weise Moskau Nicht-Wald. Wie sich im Land alles in der Weite verliert und ausbreitet, so verdichtet und bündelt es sich in Moskau. („Alarm – ich leb‘ allein in dieser Stadt, allein – Alarm! will endlich bei Isolde sein … ich glaub‘, wenn es sie wirklich gibt … dann ist sie auch in mich verliebt …“)

Die Kreuzungen wurden größer, die einmündenden Straßen breiter. Dass wir uns dem Zentrum näherten, war offensichtlich. Ich hatte keine Ahnung von berühmten Gebäuden, Museen, Moskauer Institutionen oder Ähnlichem zu meiner Rechten oder Linken. Ich kannte nichts hier. Und es interessierte mich auch nicht wirklich. Was mich interessierte, war der Sieg – Pobjeda! – der Beweis, dass ich Moskau ohne die Hilfe elektronischer Geräte, ohne Karten und Kenntnisse, nur mit meinen beiden Leitsystemem Instinkt und Verstand durchfahren konnte. Ein geradezu steinzeitliches Unterfangen. Animalisch, archetypisch, erregend. Die Stadt und ich. Ein One-Night-Stand. („Ich warte schon lange … so lange … ich warte schon lange … und ich wette du willst …“) Was mich interessierte, waren die 40 Kilometer, war „Zentr“ und die M7. Und vielleicht ein kleines bisschen Kreml. Das würde mir genügen.

Wir standen das erste Mal an einer Ampel. Neben mir ein Taxi. Viele Taxis. Ich schaute hinüber, als wüsste ich genau, was ich hier tue. Grün. Alle los. Ich auch. Ein leichter Anflug von Nervosität. Wann endlich erreichten wir den letzten Ring, das T, an dem ich würde nach rechts abbiegen müssen? Immer noch fuhr ich geradeaus. Sima suchte ebenfalls. Dann kam unsere Kreuzung. Ich war mir ziemlich sicher. Vorne ragten goldene Kuppeln über grüne Dächer – der Kreml. Mein erstes Mal. („Doris, ich hatte es noch nie gemacht, Doris, und du hast es mir beigebracht …“) Sima hatte mir gesagt, der Kreml sei für Autos gesperrt. Nun gut, dann konnte ich ihn wenigstens von hier aus ein kleines bisschen sehen. Das dürften keine 1500 Meter mehr sein.

Wir umfuhren das Zentrum im Süden und hielten Ausschau nach irgendeinem Hinweis, der uns zur M7 leiten würde. Als ich mich schon auf der gegenüberliegenden Seite des Zentrums wähnte (ich kann heute selbst mit Satellitenbildern meinen exakten Weg nicht mehr rekonstruieren), entdeckte ich ein kleines weißes Schild: M7. Leider waren wir schon vorbei gefahren. Sollte ich korrekt bleiben – oder auf der achtspurigen Straße ein Wendemanöver hinlegen? Wie ahndet die Moskauer Polizei solche Verstöße? Ein kurzer Blick in den Rückspiegel. Hundert Meter hinter mir und hundert Meter vor mir alles frei. Beherzt gewendet. Und schon war der Verkehr da. Ich ließ mich mittreiben, bog dann in die Ausfahrt zur M7 ein und fand auch bald die ersehnte Beschilderung „Schossee Enthusiastov“. Es lief wie am Schnürchen. Als hätte jemand ein Drehbuch für diese Nacht geschrieben mit dem Untertitel: die vollkommene Fahrt. Absolut affengeil, wie ein Bekannter immer zu sagen pflegte. Die „Schossee“ trug ihren Namen zu Recht: Ich war enthusiastisch, außer mir, hätte brüllen können vor Glück. Übermutig schlug ich Sima auf die Schulter. „Ha-haaa! Ich wusste, dass es gehen muss! Ich wusste, dass ich es kann!“ Ich triumphierte. Über alle Zweifel. Über alle Zaghaftigkeit. Über Sima. Über Raum und Zeit. Jawohl! Ich hatte Moskau durchfahren. Ohne Navi. Ohne Stadtplan. Ohne mich ein einziges Mal zu verfahren. Einen Giganten mit 12 Millionen Einwohnern. Fünf mal so groß, wie Paris! Mittendurch. Wie ein Messer in die Sahnetorte war ich bis zum Kreml vorgestoßen! Jau! Das war … als hätte ich … das war … Scheiße, was war denn das?

III

Die Enthusiastov war schlagartig dicht. Stau auf drei Spuren plus Seitenstreifen. Nichts ging mehr. Keine Chance, zu wenden, wegen der Betonteile auf dem Mittelstreifen. Stehende Lichter bis zum Horizont. Mitten in der Nacht. Sonntagnacht um Zwei. Ich stöhnte. Alle Euphorie war wie weggeblasen. Stadteinwärts lief der Verkehr. Aber stadtauswärts … Was war hier eigentlich los? Und wie lange würde das so weitergehen? (Pankow schien alles zu wissen: „Gib mir ein Zeichen … die andern brauchen’s nicht zu seh’n“) Der stehende Tross setzte sich in Bewegung. Ein paar Sekunden. Dann wieder Stop. Nervöse Moskauer versuchten die Spur zu wechseln. Seitlich vom Seitenstreifen ging noch etwas. Ich klinkte mich ein. 200 Meter. Dann war Schluss. Oder doch nicht? Der nächste Irre versuchte, sich noch irgendwie durchzuquetschen. Halb auf dem Dreck, neben der Fahrbahn. Geländewagen, sogar ein LKW. Ich wieder mit dabei. Wieder 100 Meter. Wieder stehen. Nach einer Weile hatte ich die noch vorhandene Grundgeschwindigkeit des Staus erfasst: knapp über Null. Zu langsam für meine Nerven. Zu langsam nach diesen zwei harten Tagen und dem Adrenalinstoß von eben. Ich war ausgepowert. Hatte keine Geduld mehr. Wollte endlich schlafen. Rechts der Straße Buschwerk und Bäume. Ein Weg in ein Wäldchen. In einer Kurzschlussreaktion bog ich von der Enthusiastov in das schrottige Niemandsland ein. Die Piste war furchtbar. Löcher, so groß wie Kleinwagen und von unbekannter Tiefe, denn es hatte geregnet und in einigen stand noch das Wasser. Aber ich konnte nicht anders. Der Wunsch war Vater des Gedankens, ich hoffte, hier Meter gut machen zu können. Denn der Weg verlief etwa parallel zur Enthusiastov. Vielleicht würde sich der Stau umfahren lassen. Und wenn nicht – auch egal. Nur in Bewegung bleiben. Alles, nur nicht warten müssen. Zum Warten war ich zu erschöpft. Das hielt ich nicht aus. Der Weg wurde immer schlechter. Angst stieg in mir auf – Angst, das Auto zu ruinieren, Angst, in eine Sackgasse gefahren zu sein, nicht wenden zu können und den ganzen Weg rückwärts wieder herausfahren zu müssen. Ich kämpfte mit der Verzweiflung, steuerte den Bus im Kriechtempo. Er bewegte sich auf und ab, verschränkte sein Fahrwerk bis zum Anschlag, stand schräg, wurde gebeutelt, fuhr in abgrundtiefe Löcher . . . und wieder heraus. Oh Mann, gutgegangen. Und dennoch – was für eine Strapaze für die Nerven. Nirgends eine Wendemöglichkeit. Rechts und links nur Buschwerk und Eisenschrott. Ein halbverrottetes Betriebsgelände. Dahinter Plattenbauten. Ich begann, in Gedanken zu beten: „Bitte bring mich hier heil wieder heraus, nur noch heil heraus. BITTE!…“ Dann sah ich das Ende des Weges. Wir stießen wieder auf die Enthusiastov. GottseiDANK!

Der Stau war immer noch da.

Ich konnte nicht mehr und parkte den Bus am äußersten Rand des Seitenstreifens. So blieb immer noch genug Platz zwischen uns und dem Stau. Dann sagte ich Sima, wir sollten hier schlafen, bis sich der Stau aufgelöst hätte. Er war einverstanden. Ich legte mich hinten rein, steckte mir Ohropax in die Ohren und machte die Augen zu. Es war unheimlich laut. Große LKW dröhnten vorbei, so dass ich jedes Mal dachte, die Fahrtgeschwindigkeit hätte sich wieder normalisiert. Doch immer, wenn ich hochschaute, krochen sie ganz langsam vorbei. Irgendwann gab ich die Hoffnung auf und versank in einen Zustand, der weder Schlaf, noch Wachsein war.

Ein chaotischer Sinnes- und Gedankenstrom wühlte sich durch mein Hirn und folterte mich. Vielleicht eine Stunde lang. Dann kapitulierte ich; es war zwecklos. Wir mussten hier weg. Ich richtete mich auf. Diese Lautstärke! Das Tempo des Verkehrs hatte angezogen. Und dann sah ich etwas, das vorhin noch nicht dagewesen war: orangefarbene Rundumleuten und gelbe Blinklichter, die sich nicht vom Fleck bewegten. Vielleicht 300 Meter vor uns. War das die Stelle? Ging es danach weiter? Anscheinend. „Sima, wir fahren. Ich glaube, da vorne ist der Stau zu Ende.“ Als wir die Stelle erreicht hatten, erblickte ich einen bis zur Unkenntlichkeit zerquetschten Kleintransporter. Die Fahrerkabine war eingedrückt, als wäre ein Monstrum darauf getreten. Es sah schlimm aus. Auf dem Boden lag etwas. Zwei Männer deckten gerade eine Plane darüber. Ich hatte es – was immer es war – zu spät gesehen, hatte nur noch einen Blick erhascht und fragte Sima „War das ein Mensch?“

Sima antwortete tonlos: „Fragmente von Mensch.“

4:30 Uhr. Wir fuhren schweigend. Irgendwo würde ich einen Platz zum Schlafen finden müssen. Aber einen ruhigen. Nicht an der Straße. Erst 50 Kilometer nach dem äußeren Moskauer Ring verlor sich das altindustrielle Gepräge rechts und links der M7 und ging allmählich wieder in größere Wälder und Sumpfwiesen über. Irgendwo, etwa 65 Kilometer nach Moskau, bog ich von der Straße ab und fuhr in eine kilometerweit offene Brachlandschaft hinein. Aufgeworfene Erde, Sandwege, Steine, Betonplatten, angeflogene Birken, Grasbüschel und Gestrüpp. Hier gab es nichts. Nur diese gigantischen Strommasten aus Eisenfachwerk. Und vielleicht ein paar Kaninchen und Rebhühner. Gleich am Anfang des Weges hatte ein Schild gestanden: „oxota sapreschtscheno“. Sima übersetzte: „Jagen verboten“.

Ich fuhr so weit hinein, bis man uns von der Straße aus nicht mehr sehen konnte. Eine ebene Stelle gesucht, dann war Schluss. Finito. Ausruhen. Auch mein motorisierter Gefährte hatte es sich mehr als verdient. 2486 Kilometer seit Abfahrt. Sima scherzte trocken: „Bis chierher hat Kapitalist Land vollgeschissen. Aber Sibirien muss sauber bleiben!“ Er bekam wieder den Bus. Ich baute das Zelt auf. Als wir uns gegen 5:30 Uhr hinlegten, war es schon wieder hell geworden. Nicht schön hier, aber was soll’s? Wir hatten unsere Ruhe. Endlich.

Was für eine Fahrt, was für eine Nacht.

David Berger
David Bergerhttps://philosophia-perennis.com/
David Berger (Jg. 1968) war nach Promotion (Dr. phil.) und Habilitation (Dr. theol.) viele Jahre Professor im Vatikan. 2010 Outing: Es erscheint das zum Besteller werdende Buch "Der heilige Schein". Anschließend zwei Jahre Chefredakteur eines Gay-Magazins, Rauswurf wegen zu offener Islamkritik. Seit 2016 Blogger (philosophia-perennis) und freier Journalist (u.a. für die Die Zeit, Junge Freiheit, The European).

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