Ein Gastbeitrag von Herwig Schafberg
Am 27. Januar ist der Tag, an dem 1945 sowjetische Truppen Auschwitz erreichten, wo zuvor Millionen Juden von Schergen der nationalsozialistischen Gewaltherrscher ermordet worden waren.
Und am 30. Januar jährt sich nicht bloß der Tag, an dem mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler 1933 der Auftakt zur nationalsozialistische Gewaltherrschaft gegeben wurde, sondern auch der Tag, an dem Hitler 1937 – also vor nun 80 Jahren – den Architekten Albert Speer zum Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt ernannte.
Wie wichtig Hitler die Aufgabe des Generalbauinspektors „zur planvollen Gestaltung der Reichshauptstadt Berlin“ war, läßt sich besonders daran ermessen, daß dessen Behörde den Reichsministerien gleichgestellt und bestimmt wurde, daß „bei Meinungsunterschieden… der Generalbauinspektor die notwendigen Anordnungen“ trifft und die städtischen Ämter von diesem zur Zuarbeit verpflichtet werden konnten.
Zur Neugestaltung der Reichshauptstadt Berlin war geplant, daß große Teile der dicht bebauten Innenstadt abgerissen und stattdessen repräsentative Gebäude errichtet werden sollten.
Abriß von Häusern vor dem Stadthaus zur Neugestaltung der Reichshauptstadt um 1938 (Quelle: Fotosammlung des Landesarchiv Berlin, F Rep.290 (02), Nr. 0012763)
Julius Lippert, der im März 1933 zum Staatskommissar für die Reichshauptstadt sowie im Dezember 1936 zum Stadtpräsidenten ernannt worden war und dann auch noch als Berliner Oberbürgermeister fungierte, wies Albert Speer auf die Wohnungsprobleme hin, die durch den Häuserabriß verschärft würden, und erhielt den Auftrag, ein Wohnungsbauprogramm auszuarbeiten, das aber nur teilweise realisiert wurde. Und ein weiteres Programm kam nicht einmal über das Planungsstadium hinaus. Insofern wurden statt der geplanten 30 000 lediglich 12 000 Wohnungen gebaut.
Da der Abriß von Häusern sowie der Neubau von Wohnungen nicht zügig genug voran kamen, versuchte Albert Speer, die Judenfeindlichkeit des nationalsozialistischen Regimes für die Beseitigung der Wohnungsprobleme in Berlin zu nutzen.
„Aus Nachbarn wurden Juden“. Das ist der Titel eines Buches von Hazel Rosenstrauch, zu dem unter anderen Ruth Gross mit ihren Erinnerungen beitrug. „Als die Macht Hitler und der NSDAP übergeben wurde, war das Leben der jüdischen Minderheit sehr viel mehr von der Angleichung an ihre Umgebung als von der Gemeinschaft bestimmt“, heißt es im einleitenden Kapitel:
„Es gab religiöse Juden und solche, die bestenfalls zu den hohen Feiertagen in die Synagoge gingen und vom Judentum ungefähr so viel verstanden wie ihre christlichen Nachbarn vom Christentum.“
Und von Christen und Atheisten, Deutschnationalen, Liberalen und Sozialisten gab es viele, die gar nichts von ihrer jüdischen Herkunft wußten, bis sie den „Ariernachweis“ erbringen mußten.
Mit den so genannten Nürnberger Gesetzen von 1935 wurden „zum Schutze des deutschen Blutes“ Mitbürger jüdischer sowie anderer „nichtarischer“ Abstammung wegen ihrer „Rassenzugehörigkeit“ aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen und ihnen der Status von Reichsbürgern verweigert. Damit war eine Rechtsgrundlage für die seit 1933 zunehmende Diskriminierung deutscher Juden geschaffen: Dazu gehörte die Novellierung des Mietrechts, darauf basierende Gerichtsurteile und auch Empfehlungen der Hausbesitzerorganisationen, denen zufolge Wohnungen nur noch an „Arier“ vermietet werden sollten.
Sollten Mitbürger jüdischer Herkunft also keinen Anspruch mehr auf Wohnraum haben?
Die „Nürnberger Gesetze“ waren erst wenige Wochen zuvor verabschiedet worden, als schon in einem Brief von Lippert zu lesen war, „daß seitens der städtischen Wohnungsunternehmen an Juden überhaupt nicht mehr vermietet wird, darf ich als Selbstverständlichkeit ansehen“.
Doch wie sollte man mit jüdischen „Altmietern“ verfahren? Sollte man ihnen die Wohnungen kündigen und diese an „Arier“ vermieten?
„Aus Mieterkreisen wird der Wunsch an uns herangetragen, mit Rücksicht auf die Knappheit an kleinen Wohnungen nichtarische Mieter zu kündigen und diese Wohnungen deutschen Familien zur Verfügung zu stellen“, schrieb die WFG (Wohnungsfürsorgegesellschaft) im Februar 1936 an das städtische Amt für Siedlungs- und Wohnungswesen. „Wir bemerken hierzu, daß wir Neuvermietungen von Kleinstwohnungen an Nichtarier schon seit langer Zeit nicht mehr vornehmen“, heißt es in dem Schreiben weiter; aber „von Kündigungen bisheriger Verträge haben wir bisher Abstand genommen, solange die vertraglichen Verpflichtungen ordnungsgemäß erfüllt wurden“. Die WFG fand allerdings „das Verlangen der Mieterschaft verständlich“ und hielt es „wegen der Wichtigkeit dieses Problems“ für erwünscht, wenn es bald eine Entscheidung des Staatskommissars für die Reichshauptstadt gäbe, wie man mit jüdischen Altmietern verfahren sollte.
Doch Julius Lippert wollte „zunächst davon absehen, Richtlinien für die Kündigung der Wohnungen jüdischer Mieter bei den städtischen Gesellschaften aufzustellen.“ Das teilte er dem Oberbürgermeister im April 1936 mit, nachdem dieser ihm von einem Gespräch mit den Geschäftsleitungen städtischer Baugesellschaften im März 1936 berichtet hatte.
In diesem Bericht heißt es, daß die Gesellschaften von derartigen Richtlinien abgeraten und versichert hätten, daß sie von sich aus jede Gelegenheit nutzen würden, um sich von jüdischen Mietern zu trennen:
„Dass die städtischen Wohnungsunternehmen an Juden (im Sinne der Nürnberger Gesetze) nicht mehr neu vermieten, ist selbstverständlich“, berichtete er ferner. „Im übrigen habe ich aus dem Gespräch den Eindruck gewonnen, daß die Gesellschaften von sich aus gegen die jüdischen Inhaber vermieteter Wohnungen bereits mit allen möglichen Mitteln vorgehen…“
„Im Zentrum des alten Berlin – zwischen der Friedrichstraße und dem Hackeschen Markt gelegen, war die Oranienburger Straße,“ heißt es dementsprechend in den Erinnerungen von Ruth Groß aus ihrer Kindheit: „Wir sind 1936 dorthin gezogen,“ erzählte sie; denn „die Primus-Heimstätten-Gesellschaft, Bauherr und Verwalter der Neubausiedlung ´Weiße Stadt` in Reinickendorf, hatte uns gekündigt, da sie ihren Mietern nicht mehr zumuten konnte, mit Juden in einem Haus zu wohnen.“
Ihr neuer Hauseigentümer in der Oranienburger Straße, ein Apotheker, mochte zwar den 30 Mietparteien in seinem Haus neben den drei anderen im Hause eine weitere jüdische Familie durchaus als Mitbewohner „zumuten“; doch „irgendwann waren wir die letzten, die alte Frau Koninski und ihr Sohn konnten noch auswandern und sich verabschieden. Die anderen zwei Familien waren eines Tages fort – wie alle anderen“, erinnerte sich Ruth Groß.
Solange es möglich war, nutzte freilich das Stadtplanungsamt die Lücken im bestehenden Recht, um Mieter jüdischer Herkunft vor Kündigungen zu bewahren.
„Erfahrungsgemäss geben Juden ihre Wohnungen von sich aus auf, wenn mehrere arische Mieter in der Partei oder in ihren Formationen Dienst tun und wenn die Volksgenossen in sich und mit dem Hauswart zusammen halten“, schrieb die GSW (Gemeinnützige Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft) an das Stadtplanungsamt im November 1937, schränkte jedoch ein:
„Allen jüdischen Mietern nur wegen ihrer Rassezugehörigkeit den Mietvertrag aufzukündigen, halten wir für bedenklich. Solange den Juden der Aufenthalt in Deutschland gestattet ist, wird auch Wohnraum für sie vorhanden sein müssen…“
In seinem Antwortschreiben teilte das Amt im März 1938 mit: „Sie sind durch Weisungen und Vereinbarungen früherer Zeit gebunden, gewisse Kategorien von Wohnungssuchenden nicht zu berücksichtigen (z.B. Alleinstehende, Juden usw.)“, fügte aber hinzu: „Ich stelle fest, dass diese Einschränkungen für die Bewohner der Abrißblocks nicht beachtet werden können“. Es stellte damit der GSW indirekt frei, Wohnraum an Juden zu vermieten, wenn die aus Häusern kamen, die zum Abriß bestimmt waren. Und in einem weiteren Schreiben an die GSW schrieb das Stadtplanungsamt unmißverständlich:
„Ich bitte Sie deshalb vorläufig Mietverträge auch mit Nichtariern abzuschließen, sofern diese Abrißmieter aus den Bereichsgebieten oder ihnen gleichgestellten Personen sind und keine Möglichkeit haben, beim nichtarischen Hausbesitz unterzukommen.“
Doch auch das Stadtplanungsamt war auf Dauer nicht in der Lage, die nationalsozialistischen Machthaber auf dem Weg der schrittweise verschärften Judenverfolgungen aufzuhalten.
Das Regime wollte zur Mitfinanzierung seiner Kriegsvorbereitungen in den Besitz jüdischen Vermögens kommen und brauchte seit dem Übergang zur geplanten Expansionspolitik keine außenpolitische Rücksicht zu nehmen, die bisher einer Verschärfung der Judenverfolgungen im Wege gestanden hatten.
Neue Schritte zur Entrechtung von Juden wurden im Allgemeinen propagandistisch wirksam eingeleitet wie vom NSDAP-Organ „Angriff“, der am 11. Juli 1938 titelte: „Die jüdischen Mieter müssen aus deutschen Häusern verschwinden“
Kurz darauf – am 29. Juli 1938 – folgte in der vom Reichsbund der Haus- und Grundbesitzer herausgegebenen Zeitschrift „Deutsche Wohnwirtschaft“ ein Aufsatz mit der Überschrift: „Deutsches Haus ohne Juden“: „Die gesetzliche Organisation des deutschen Hausbesitzes hat unter ihrer zielbewußten Führung seit dem nationalsozialistischen Umbruch im Hinblick auf ein kommendes nationalsozialistisches Mietrecht unter völliger Abkehr von herkömmlichen Prinzipien eine ganz neue Grundhaltung von Vermieter und Mieter zueinander gefordert, die wir nationalsozialistische Hausgemeinschaft genannt haben“, heißt es dort mit Hinweis auf die demgemäß geänderte Jurisdiktion.
„Wir haben auch immer wieder hervorheben müssen, daß eine Hausgemeinschaft, gegründet auf das Gedankengut der Bewegung, mit jüdischen Hausgenossen unmöglich ist. Wir haben damit die Forderung erhoben, dass die Einführung der Freikündbarkeit jüdischer Mietverhältnisse auch von Vermieterseite lediglich dem gesunden Rechtsempfinden aller deutschen Mieter und Vermieter entspricht…“
Es dauerte nun nicht mehr lange, bis das Stadtplanungsamt Ende August in einem Brief an die Bezirksbürgermeister mitteilte, daß die Vermietung von Wohnungen der GSW an Juden aus Abrißhäusern „im Hinblick auf die Entwicklung der Judenfrage“ nicht länger zulässig wäre.
Die Lage wurde nun auch für jüdische Altmieter schwieriger.
In dem oben genannten Aufsatz aus der Zeitung „Deutsche Wohnwirtschaft“ wurde ein rechtskräftiges Gerichtsurteil zitiert, nach dem ein gemeinnütziges Wohnungsunternehmen jüdischen Mietern die Wohnung kündigen müßte, „solange noch eine größere Anzahl deutscher Volksgenossen in unzureichender Behausung lebe“.
Das verunsicherte insbesondere die Berliner De-Ge-Wo (Deutsche Gesellschaft zur Förderung des Wohnungsbaues), die zu jener Zeit noch fast 200 jüdische Mieter hatte. Sie wandte sich schon einen Tag nach dem Erscheinen der Zeitung mit Verweis auf dieses Urteil Rat suchend an ihren Aufsichtsratsvorsitzenden Weber, Direktor der WBK (Wohnungsbau-Kreditanstalt):
„In Anbetracht dieser der De-Ge-Wo bisher nicht bekannten Rechtslage beabsichtigen wir, gegen die jüdischen Mieter der De-Ge-Wo… die Mietaufhebungsklage zu erheben. Da es sich hierbei um eine grundsätzliche Entscheidung in einer wichtigen Angelegenheit größeren Ausmaßes handelt, bitten wie Sie, uns mitzuteilen, dass der von uns beabsichtigte Schritt Ihrer Auffassung entspricht.“
Dr. Weber mochte aber der DeGeWo nicht eigenmächtig zu den Mietaufhebungsklagen gegen die Juden raten und wollte vom Stadtplanungsamt wissen, ob „die Stadtverwaltung „dagegen keine irgendwie gearteten Bedenken“ hätte. Und im Entwurf für ein Antwortschreiben des Amtes an Weber wurde empfohlen, „bis zur weiteren Klärung Zurückhaltung zu üben“.
Wir wissen nicht, ob dieses Schreiben abgeschickt wurde. Wir wissen ebenso wenig, ob es nur ein besonders strenges Rechtsverständnis oder vielleicht auch Skrupel waren, die den oder die Verfasser der genannten Schreiben des Stadtplanungsamtes wiederholt Zurückhaltung empfehlen und den Direktor der WBK zögern ließ.
Wir kennen allerdings ein Schreiben des Stadtplanungsamtes von Ende August 1938 an die Bezirksbürgermeister über die „Zuweisung von Ersatzwohnungen an von der Neugestaltung der Reichshauptstadt betroffene jüdische Abrißmieter“: „Bisher wurden diese… auch in Wohnungen der Gemeinnützigen Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft Berlin m.b.H. eingewiesen. Dieses Verfahren läßt sich im Hinblick auf die Entwicklung der Judenfrage nicht mehr aufrecht erhalten.“ Und weiter heißt es diesem Schreiben:
„Der Generalbauinspektor vertritt im Einvernehmen mit der Gauleitung Berlin der NSDAP den Standpunkt, dass es arischen Mietern… nicht mehr zugemutet werden kann, mit Juden in der gleichen Hausgemeinschaft zu leben…“
In einer Aufstellung des Generalbauinspektors vom 17. November 1938 – also kurze Zeit nach den judenfeindlichen Pogromen sowie Boykottmaßnahmen der Nationalsozialisten in der so genannten Reichskristallnacht am 9. November – wurde die geschätzte Zahl an „Judenwohnungen“ in Berlin mit etwa 40 000 festgehalten. Und im Januar 1939 wurde in seiner Behörde ein Referat gebildet, in dem eine „Judenkartei“ zum Zweck der „Erfassung und Neubesetzung der durch Juden freigewordenen Räume“ geführt wurde.
Um die Aufhebung von Mietverträgen mit Juden zu erleichtern, wurde im April 1939 ein „Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“ verabschiedet, nach dem „ein Jude sich auf den gesetzlichen Mieterschutz nicht berufen“ könnte, wenn nachgewiesen wurde, daß „die anderweitige Unterbringung des Mieters sichergestellt“ wäre.
Damit wurde die zwangsweise „Ausmietung von Juden“ und deren Zusammenlegung in
so genannten Judenhäusern rechtlich erleichtert.
Daraufhin ordnete der Oberbürgermeister im Mai 1939 an, daß alle Juden ihre Wohnungen in Häusern nichtjüdischer Besitzer räumen und in Wohnhäuser ziehen sollten, die anderen Juden gehörten und die bereits überwiegend von jüdischen Mietern bewohnt waren. Infolgedessen wurden schätzungsweise 15.000 bis 18.000 Wohnungen „requiriert“.
Nach Beginn des 2. Weltkrieges im September 1939 ließ Albert Speer zwar den Abriß von Wohnungen zur Neugestaltung der Reichshauptstadt stoppen, jüdische Wohnungsbesitzer wurden aber unvermindert aus ihren Wohnungen vertrieben und die „Arisierung“ jüdischen Grundbesitzes auf Grundlage der Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens weiter verfolgt.
Bei einer Besprechung im Propagandaministerium am 20. März 1941, an der auch Vertreter von Speers Behörde teilnahmen, wurde allerdings festgestellt, daß noch 20 000 Wohnungen in Berlin von Juden bewohnt wären, die zur Beseitigung des Wohnungsmangels in Höhe von 160-180 000 geräumt werden müßten.
„Anfang 1942 wurde Frau Hirschel ihre große Wohnung in der Kaiserallee gekündigt, und sie sollte mit ihrem Sohn eine wesentlich kleinere in der Düsseldorfer Straße beziehen“, erzählte Maria Gräfin von Maltzan in ihrem Buch „ Schlage die Trommel und fürchte dich nicht“. Obwohl intime Beziehungen zwischen „Ariern und „Nichtariern“ streng verboten waren, war die Gräfin klammheimlich mit Hans, dem „rassejüdischen“ Sohn von Frau Hirschel liiert, und schrieb:
„Da ich wußte, daß täglich Menschen deportiert wurden und bereits viele Freunde der Hirschels dieses Los ereilt hatte, wollte ich unter keinen Umständen, daß Hans mit seiner Mutter dorthin zog, was diese als selbstverständlich ansah, und Hans hielt es für seine Pflicht, bei ihr zu bleiben. ´Hans, wenn ihr nach Theresienstadt gebracht werdet, bedeutet das euren Tod`, beschwor ich ihn. Als ich merkte, daß ich ein Kind von ihm erwartete, kämpfte ich regelrecht um ihn. Hans besprach sich mit seiner Mutter, und als er ihr versicherte, daß ich das Kind austragen wolle, hatte Luzie Hirschel die Größe zu sagen: ´Du gehörst nun zu Frau und Kind.`
So zog Hans zu mir. Zur Tarnung ließ ich ihn einen Abschiedsbrief an seine Mutter schreiben, in dem er ihr mitteilte, im jetzigen Deutschland könne er nicht weiterleben und werde sich daher im Wannsee das Leben nehmen. Mit diesen Zeilen ging sie ein paar Tage später zur Polizei, die natürlich – ganz wie von mir erhofft – keinerlei Lust hatte, nach der Leiche eines jüdischen Selbstmörders zu suchen. In den Akten wurde er nun als tot geführt. Das war das Wichtige, auf das es mir ankam.“
Im Februar 1942 ernannte Adolf Hitler Albert Speer zum Rüstungsminister sowie zum Generalinspektor für Straßenbau und Festungswesen.
Er blieb aber nebenbei Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt. Es gibt Hinweise, nach denen Mitarbeiter in seinem Amt als Generalbauinspektor gemeinsam mit der Gestapo von Oktober 1941 und März 1943 Listen zur Deportation von Berliner Juden erstellten. Das geschah anscheinend mit Wissen Speers, der im Dezember 1941 Martin Bormann, dem Sekretär des „Führers“ Adolf Hitler schrieb, daß die „Aktion in vollem Gange“ wäre. Speer gelang es zwar, die in Berliner Rüstungsbetrieben beschäftigten Juden zunächst vor der Deportation zu bewahren. Doch nach der Niederlage in der Schlacht von Stalingrad Anfang 1943 setzte sich Joseph Goebbels, Reichsminister für Volksaufklärung und Berliner Gauleiter der NSDAP, gegen Speer durch und wirkte darauf hin, daß Berlin „judenfrei“ würde.
In seinem Tagebuch notierte Goebbels am 18. Februar 1943:
„Die Juden in Berlin werden nun endgültig abgeschoben werden. Mit dem Stichtag des 28. Februar sollen sie zuerst einmal alle in Lagern zusammengefaßt werden und dann schubweise, Tag für Tag bis zu 2000, zur Abschiebung kommen. Ich habe mir zum Ziel gesetzt, bis Mitte, spätestens Ende März Berlin gänzlich judenfrei zu machen…“
Anscheinend klappte das nicht so planmäßig, wie der „Volksaufklärer“ Goebbels es gerne gehabt hätte; denn am 2. März 1943 schrieb er: Die Juden wären „am vergangenen Samstag schlagartig zusammengefaßt worden und werden nun in kürzester Frist nach dem Osten abgeschoben. Leider hat sich auch hier wieder herausgestellt, daß die besseren Kreise, insbesondere die Intellektuellen, unsere Judenpolitik nicht verstehen und sich zum Teil auf die Seite der Juden stellen. Infolgedessen ist unsere Aktion vorzeitig verraten worden, so daß uns eine ganze Menge von Juden durch die Hände gewischt sind. Aber wir werden ihrer doch noch habhaft werden. Jedenfalls werde ich nicht ruhen, bis die Reichshauptstadt wenigstens gänzlich judenfrei geworden ist…“
Das Schicksal sollte auch eine Nachbarfamilie treffen, wie Ruth Groß erzählte. Diese Familie ihrer Freundin Erika Hecht „gehörte zu den letzten jüdischen Familien, die 1943 noch in Berlin waren. Herr Hecht hatte im Ersten Weltkrieg ein Bein verloren und eine Auszeichnung erhalten. Sie glaubten lange, dadurch geschützt zu sein“, erinnerte sich Ruth Groß ferner. „Die Familie Hecht mußte noch umziehen in eine Wohnung am anderen Ende der Oranienburger Straße, Nähe Hackescher Markt. Dort war ich noch ein- oder zweimal, dann stand ich vor der versiegelten Tür. Ich kam nach Hause und sagte ´Bei der Erika ist die Wohnung versiegelt`. Nach 1945 kam Herr Hecht aus Theresienstadt zurück“, erzählte Ruth Groß weiter. Auch Erika überlebte das Grauen in Auschwitz. Doch „Mutter Hecht war in Theresienstadt, Tochter Eva in Auschwitz geblieben.“
Mit der Deportation von Juden in den Osten waren weitere Schritte auf dem Weg zurück gelegt, der sie am Ende nach Auschwitz-Birkenau und in andere Vernichtungslager brachte.
Das Schicksal erlitt vermutlich auch Luzie Hirschel. Am späten Abend vor ihrem Abtransport nach Theresienstadt brachte die Gräfin von Maltzan Hans, ihren für tot erklärten Geliebten, zu seiner Mutter, „damit sie Abschied voneinander nehmen konnten“, erinnerte sich die Gräfin: „Der Abschied der beiden bleibt mir unvergeßlich. Luzie Hirschel vergoß keine Tränen, sondern sprach die einfachen Worte: ´Mein Leben hat so reich begonnen – das Ende ist bitter.` Mich fragte sie dann: ´Wird Hänschen überleben?` ´Wenn ich überlebe, überlebt er auch`, antwortete ich. In ihre Augen trat ein kleines dankbares Leuchten.
Auf dem Heimweg fragte mich Hans: ´Maruska, meinst du, daß Mutter überlebt?` Ich konnte darauf nur antworten: ´Das wissen die Götter. Wir wissen über Theresienstadt zu wenig.` Daß auch aus Theresienstadt Transporte nach Auschwitz zusammengestellt wurden, habe ich lieber für mich behalten“, schrieb Maria Gräfin von Maltzan. „Von Luzie Hirschel haben wir nie wieder etwas gehört.“
Berliner Juden, die vor der Deportation am 12. April 1942 in den Osten von der Gestapo für ein Gruppenfoto zusammengestellt wurden (Quelle: „Aus Nachbarn wurden Juden“, Transit-Verlag)
Die vom Stadtplanungsamt so genannte „Entwicklung der Judenfrage“ fand also die von der Staats- und Parteiführung gewollte „Endlösung“. Und viele Menschen in Behörden und in anderen Betrieben – manche wie in der WFG mit vorauseilendem Gehorsam, andere wie der WBK-Direktor eher zaudernd – hatten in all den Etappen mitgewirkt, die sich im Rückblick als Vorstufen auf dem Weg zur millionenfachen Ermordung jüdischer Männer, Frauen sowie Kinder herausstellten.
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Zum Autor: Herwig Schafberg ist Historiker, war im Laufe seines beruflichen Werdegangs sowohl in der Balkanforschung als auch im Archiv- und Museumswesen des Landes Berlin tätig, arbeitet seit dem Eintritt in den Ruhestand als freier Autor ist und ist als solcher besonders an historischen sowie politischen Themen interessiert.
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