Gastbeitrag von Frank-Christian Hansel.
Peter Sloterdijk ist nach Gunnar Heinsohn nunmehr der letzte verbliebene deutsche Meisterdenker und große Diagnostiker des zivilisatorischen Zustands. Er sezierte früh den Zynismus, entlarvte die Heuchelei der Moderne, beschrieb die Erosion des klassischen Bürgertums, den Niedergang der Bildung, den Verlust von Vertikalspannung, den Zerfall verbindlicher kultureller Formen. All das geschah in den Nullerjahren vor beziehungsweise quasi parallel zum Aufkommen der AfD. Seine Thesen lagen in der Luft – nicht als Parteiprogramm, sondern als intellektuelle Vorahnung einer kommenden Zäsur.
Heute jedoch, da sich diese Gedanken in einer politischen Formation materialisiert haben, zieht Sloterdijk die Notbremse. Er spricht hier nicht mehr als Analytiker, sondern als Distanzierungsinstanz, als Grenzbeamter des kulturell Erlaubten. Die AfD, so lässt er sich vernehmen, sei eine Ansammlung „bürgerlich verkleideter Hooligans“, da sei kein Weinkeller, keine Bibliothek, kein Bürgertum, keine Kultur. Wirklich?
Der Philosoph, der den Zynismus der Moderne entlarvte, spricht nun selbst in zynischer Distinktionssprache. Er ersetzt Analyse durch Milieu-Spott, ersetzt Theorie durch Habitus-Kritik, ersetzt soziologische Tiefe durch kulturaristokratische Pose. Was früher als scharfe Diagnose formuliert wurde, wird heute zur sozialen Grenzziehung: Hier das wahre Bürgertum – dort der Pöbel in Verkleidung. Doch genau an diesem Punkt wird Sloterdijks innerer Widerspruch sichtbar:
Sloterdijks eigentliche Angst: der neue „Heidegger-Moment“
Es geht dabei nicht um Heideggers Philosophie. Es geht hier um das Verhältnis von Geist und Politik und um die Furcht eines Intellektuellen, im Rückblick mit einer stigmatisierten Bewegung assoziiert zu werden. Sloterdijk weiß, was mit Heidegger geschah – und er weiß, wie gnadenlos der heutige Diskurs jede gedachte Nähe zu einer vermeintlich falschen, medial nachhaltig dämonisierten politischen Kraft ahndet. Denn er weiß, wenn er es nicht verdrängt hat: Viele jener kritischen Gedanken, die heute – leider allein – von der AfD artikuliert werden, standen vor ihr in seinen eigenen Texten, Vorträgen und Essays:
Kritik an Gleichmacherei, Kritik am Niedergang des Bildungsbegriffs („Schulen, die nur noch an Schulen erinnern“), Kritik an einer emotionalisierten, infantilen Politik, Diagnose einer postheroischen Gesellschaft, seine Medienkritik, die Kritik am Steuerstatt etc.
Damals war das Philosophie. Heute gilt Ähnliches als „rechts“ verschrien. Und genau hier setzt Sloterdijks Schutzreflex ein: Er zieht eine scharfe, demonstrative Grenzlinie – nicht aus geistiger Notwendigkeit, sondern, so der Eindruck, aus Angst vor Kontamination. Er will nicht in den Verdacht geraten, einer Bewegung geistig nahzustehen, deren Wurzeln er zum Teil selbst beschrieben – wenn nicht zeitdiagnostisch durchaus mitverursacht – hat. Der Hinweis auf zwei Sendungen des Philosophischen Quartetts als Katalysatoren mögen hier genügen:
und
.
Seine Abgrenzung heute erweist sich insofern nicht als philosophische Position, sondern als prophylaktische Geste. Sein kaltes Urteil über die AfD ist reflexhaft präventiv. Er verteidigt nicht die Wahrheit – er verteidigt seine Anschlussfähigkeit.
Die große Blindstelle: AfD als neue bürgerliche Kraft
Der blinde Fleck liegt dabei weniger in seiner Abneigung als im Ausblenden einer neuen Form bürgerlicher politischer Artikulation. Denn die AfD ist nicht bloß „wütend“. Sie ist nicht nur Protest. Sie ist nicht „Rand“. In großen Teilen ihrer Basis verkörpert sie genau das, was einst bürgerliche Chiffren ausmachte: Eigentum, Risiko, Leistung, Ordnungsvorstellungen, familiäre Kontinuität, Heimatbindung, Verantwortungsgefühl, Skepsis gegenüber Staat und (faulen) Eliten.
Kurz: Sie ist durchaus bürgerlich im Sinne von nicht links/woke, aber eben vielleicht ohne Salon. Und genau hier wirkt Sloterdijks Maßstab aus dem Rahmen gefallen. Für ihn entscheidet sich Bürgerlichkeit an ästhetischen Requisiten: Weinkeller, Bibliothek, Geschmacksbildung, Kulturbesitz. Doch gerade diese klassischen Marker sind es, die heute ihre gesellschaftliche Trägerschicht gewechselt haben.
Stattdessen entstand eine neue, rauere, vielleicht ungeschliffenere, aber real existente Bürgerlichkeit – ohne Abonnement, ohne Feuilleton, ohne Einladung zum Talk. Ein Bürgertum, das nicht kuratiert, sondern diffamiert wird. Was Sloterdijk verachtet, ist in Wahrheit keine Unkultur – sondern eine umkodierte Kulturform, eine Bürgerlichkeit ohne kulturelle Legitimation durch die alten Eliten.
Entscheidend ist dabei ein Begriff, den Sloterdijk noch nicht zu denken bereit ist, das, was Ulf Poschardt als „Shitbürgertum“ beschreibt. Shitbürgertum, das sind diejenigen, die sich erheben über die, die arbeiten statt diskutieren, riskieren statt sich finanzieren zu lassen, denken statt nachplappern, verlieren statt abgesichert zu sein, die die Nase rümpfen über den harten Kern jener neuen bürgerlichen Selbstbehauptung, die sich heute politisch Bahn bricht – letztlich in der AfD. Dass ausgerechnet Sloterdijk, der sich mit anthropotechnischen Prozessen, Selbstformung und kultureller Disziplinierung befasste, diese neue Selbstformierung als bürgerliche Dissidenz nicht erkennen will, ist die eigentliche Enttäuschung.
Der verweigerte Gedanke: Die Seinslogik der AfD
Sloterdijk reduziert die AfD auf Verhalten. Auf Tonfall. Auf Stil. Auf Gestus. Er sieht Lautstärke, Schärfe, Provokation – aber er weigert sich, den ontologischen Kern zu erkennen, das, was man ihre Seinslogik nennen könnte. Die AfD ist nicht primär Verwaltung. Sie ist nicht einfach eine weitere Partei im Konkurrenzbetrieb. Sie versteht sich – ob man es mag oder nicht – als kultureller Gegenentwurf: gegen die linke Dominanz im Bildungswesen, gegen die moralische Umerziehung, gegen die Auflösung nationaler und familiärer Strukturen, gegen die Auflösung sprachlicher und kultureller Ordnung, gegen Identitätspolitik und Schuldreligion, gegen die Selbstauflösung der europäischen Völker. Das ist kein Hooliganismus, sondern metapolitische Übung.
Dass Sloterdijk das nicht sehen will, sondern in der Rhetorik des Anstands stecken bleibt, zeigt: Er hat sich vom Diagnostiker zum Kulturbeamten gewandelt – vom Seismographen zum Zensor.
Sloterdijk vs. Poschardt – Distinktion gegen Kulturkampf
Gerade im Vergleich mit Ulf Poschardt, der ebenfalls lange aus parteilich liberaler Ecke mit dem Phänomen AfD haderte und sie missbilligend als gestaltende Kraft verneinte, wird das volle Ausmaß von Sloterdijks verharrender Verweigerung sichtbar. Während Sloterdijk sich an Ästhetik, Ton und Distinktion festklammert, beschreibt Poschardt den eigentlichen Schauplatz der Gegenwart: den Kulturkampf. Poschardt erkennt, dass sich die politische Auseinandersetzung längst von Programmen und Steuern gelöst hat und auf eine tiefere Ebene gewandert ist: Sprache, Begriffe, Deutung, Geschichte, Moral, Geschlecht, Nation, Identität, Schuld, Zugehörigkeit.
Das ist der Raum, den Gramsci „kulturelle Hegemonie“ nannte – und genau dort herrscht seit Jahren eine links-liberale, identitätspolitische Elite, deren Macht nicht mehr durch Argumente, sondern durch Ausschluss, Diffamierung und moralische Erpressung gesichert wird.
Poschardt benennt, was Sloterdijk nicht zu sagen wagt: Dieser Kulturkampf ist real – und er ist notwendig. Nicht, weil Krieg ein Ideal wäre, sondern weil eine ideologische Vormachtstellung entstanden ist, die jede Abweichung zu einem moralischen Verbrechen erklärt. Das, was Poschardt „Shitbürgertum“ nennt, ist genau diese neue Funktionselite: moralisch aufgerüstet, staatlich und medial abgesichert, kulturell hegemonial, ökonomisch oft risikoarm, intellektuell jedoch erschöpft.
Gegen diese Klasse formierte sich eine Gegenbewegung. Nicht aus Bosheit, sondern aus Selbsterhaltung. Und diese Gegenbewegung findet mitunter als treibende Kraft in der AfD ihre politische Gestalt, was Poschardt schweren Herzens zunehmend anzuerkennen bereit ist.
Sloterdijk hingegen scheint diesen Vorgang pathologisieren zu wollen. Er sieht nur schlechten Stil, wo ein Weltkonflikt tobt. Er hält den Ton für das Problem – und übersieht den Inhalt. Er bleibt auf der behavioristischen Oberfläche, während unter ihm ein neuer Bürgerbegriff entsteht. Er analysiert Gesten, aber nicht Notwendigkeiten. Er sieht Hooligans – und übersieht eine Gegen-Elite im Entstehen.
Das Paradox Sloterdijk
Sloterdijk erscheint damit heute in einem tragischen Widerspruch zu seinem eigenen Werk: Er sprach von Immunreaktionen – und diffamiert nun eine Immunreaktion. Er beschrieb Zynismus – und redet nun selbst zynisch über eine gesellschaftliche Schicht. Er analysierte Vertikalverlust – und verspottet nun den Versuch, neue Vertikalität herzustellen. Er kritisierte die Moderne – und verteidigt nun ihren ideologischen Endzustand.
Was ihn schockiert, ist nicht wirklich die AfD. Was ihn ängstigt, ist etwas anderes:
Dass sich seine eigenen früheren Gedanken eine politische Form gesucht – und gefunden haben. Davor weicht er zurück. Er beschimpft, was er einst beschrieb. Er verachtet, was er einst kritisierte. Er grenzt sich ab von dem, was er selbst mitgedacht hat.
Nicht die AfD ist sein größtes Problem. Sein größtes Problem ist seine Vergangenheit als Denker im Angesicht der öffentlichen Meinung. Die AfD ist wohl nicht Sloterdijks politische Heimat. Aber sie ist unbestreitbar auch ein Produkt jener Risse, die er selbst beschrieben hat – und ein Symptom jener Dekadenz, die er einst mit Scharfsinn analysierte. Und vielleicht liegt seine größte Schwäche heute nicht in einer falschen politischen Einschätzung – sondern in der Weigerung, sich zur Konsequenz seiner eigenen Gedanken zu bekennen.
Nicht die AfD ist das eigentliche Phänomen. Sondern ein Philosoph, der vor seiner eigenen Wirksamkeit erschrickt. Das wäre sehr schade. Denn einen besseren haben wir nicht.
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Frank-Christian Hansel ist Fachpolitischer Sprecher der AfD im Berliner Abgeordnetenhaus für Wirtschaft, Energie, Klima, Flughafen. Der oben veröffentlichte Beitrag erschien zuerst auf seinem Blog.
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