Gastbeitrag von Meinrad Müller
Ja, ich maße mir an, euch anzugreifen. Ich maße mir an, euch wachzurütteln. Ich maße mir an, euch zu zwingen, den Blick auf das zu richten, was ihr nicht sehen wollt.
Die Luft in euren geistigen Höhen wird dünn. Sehr dünn.
Ich kenne euch. Ich war einer von euch. Ich habe die gleichen Diskussionen geführt, die gleichen Begriffe benutzt, die gleichen Feindbilder gepflegt. Ich habe mich mit euch über den „rechten Rand“ empört, über die „Hetze“, über die „Propaganda der Angst“.
Und ich weiß genau, wie ihr diesen Text lesen werdet.
Ihr werdet mich einordnen.
Ihr werdet versuchen, mich in eine Schublade zu stecken.
Ihr werdet euch fragen: „Ist das noch Kritik aus unseren Reihen – oder ist er schon verloren?“
Und dann kommt der Punkt, an dem ihr merkt, dass ihr mich nicht mehr einordnen könnt.
Weil ich euch etwas nehme, das ihr für unantastbar hieltet.
Weil ich euch mit etwas konfrontiere, das ihr nicht mehr wegdiskutieren könnt.
Ich nehme euch eure moralische Unfehlbarkeit.
Denn wenn ihr ehrlich seid, dann wisst ihr es längst. Ihr fühlt es. Die Welt, in der ihr euch eingerichtet habt, wankt. Eure Gewissheiten, eure Erklärungen, eure Reflexe, sie greifen nicht mehr.
Ihr habt geglaubt, dass ihr die besseren Menschen seid.
Ihr habt geglaubt, dass ihr für das Gute kämpft.
Ihr habt geglaubt, dass ihr unfehlbar seid.
Aber was, wenn ihr euch geirrt habt?
Was, wenn ihr nicht die Helden seid, sondern die Architekten eines gigantischen Versagens?
Das wollt ihr nicht hören:
Mannheim.
Solingen.
Bad Oeynhausen.
Magdeburg.
Aschaffenburg.
Ihr kennt die Namen. Ihr kennt die Opfer.
Ein Polizist, der eine Versammlung schützte – ermordet.
Ein junger Mann, der seinen Abschluss feiern wollte – erschlagen.
Eine Kindergarten-Gruppe, ein zweijähriges Kind – abgeschlachtet.
Und was habt ihr getan?
Ihr habt geschwiegen.
Ihr habt abgelenkt.
Ihr habt vertuscht.
Weil ihr genau wisst, dass sich in jedem dieser Fälle eine unausweichliche Wahrheit verbirgt:
Es waren nicht „die Männer“.
Es war nicht „die Gesellschaft“.
Es war eure Politik.
Euer Dogma.
Und jetzt? Jetzt seht ihr die Trümmer.
Aber anstatt zu sagen: „Wir haben Fehler gemacht“, greift ihr zu denselben Reflexen wie immer.
– Totschweigen. Ihr werdet so tun, als gäbe es diesen Text nicht.
– Empörung als Schutzmechanismus. Ihr werdet mich als „Verräter“ brandmarken.
– Verzweifeltes Abstreiten. Ihr werdet nach Statistiken suchen, nach Relativierungen, nach Ausreden. Nach Umarmungen von denen, die euch füttern.
Aber in euch drin wisst ihr, dass es nichts mehr zu relativieren gibt.
Denn die Angst ist längst da.
Die Unsicherheit ist längst real.
Die Gewalt ist längst Alltag.
Und wer sie möglich gemacht hat, das wird die Geschichte nicht vergessen.
Also, Genossen, was bleibt euch noch?
Werdet ihr eure Fehler eingestehen?
Werdet ihr euch der Realität stellen?
Oder werdet ihr in euren bröckelnden Denkmustern versinken – unfähig, euch einzugestehen, dass ihr auf der falschen Seite der Geschichte steht?
Die Uhr tickt.
Eure Zeit läuft ab.
Die Opfer vergessen nicht.
Die Angehörigen vergessen nicht.
Und die Geschichte wird sich erinnern.
Jetzt gibt es kein Entkommen mehr.