Seit September 2022 wendet sich die iranische Gesellschaft in ihrer ganzen Breite vom Islam. Der Islamismus ist in weiten Kreisen ohnehin verpönt, unterschwellig, aber umso sicherer ist es zu spüren. Christentum, Zoroastrismus und kleinere religiöse Gruppen erleben klandestines Wachstum. Ein Gastbeitrag von Dr. Sebastian Sigler
Ja, das Regime in Teheran selbst scheint nicht mehr an die Offenbarungen Mohammeds zu glauben, denn nationales Pathos und nationalistische Töne haben in offiziellen Verlautbarungen längst Vorrang vor dem Koran. Zugleich steigert das Mullah-Regime die Methoden des Terrors, mit denen Khomeini ab 1979 die Iraner zu drangsalieren begann. Polizei und Militär hängen nicht nur Tausende auf, sondern greifen in wahllosem Kontrollwahn zur Drohung mit Gesichtserkennung für Frauen, die sich weigern, sich mit einem Zwangskopftuch unterdrücken zu lassen. Kann das Mullah-Regime diese Form der extremen Diktatur durchhalten?
Katajun Amirpur ist Journalistin und Professorin für Islamwissenschaften in Köln. Hervorgetreten ist sie mit einer grundlegenden Biographie des iranischen Revolutionärs Ayatollah Chomeini, und nun berichtet sie über den aktuellen Aufstand gegen seine geistigen Erben, die Führer des Mullah-Regimes in Teheran. Die epochalen Umwälzungen im Iran deuten sich jedenfalls an, und die Autorin registriert dieses seismische Beben genau. In ihrer Einleitung geht sie auf ganz gezielt den Tod einer jungen Frau ein, die von der Sittenpolizei ermordet wurde, weil sie das religiöse Zwangskopftuch nicht tragen wollte: „Die Frauen, die federführend sind, aber auch die ethnischen, sprachlichen und religiösen Minderheiten sowie ganz unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen – Arbeiter, Angestellte, Lehrer, Studenten, Professoren. Jeder denkt: Was Jina Mahsa Amini passiert ist, als sie am 16. September 2022 im Gewahrsam der Sittenpolizei zu Tode kam, hätte mir, meiner Mutter, meiner Schwester, meiner Cousine auch passieren können, es betrifft uns alle.“
Brutale Diktatur der Revolutionsgarden
Hinter der Fassade der strikten Gottesherrschaft hat sich längst eine brutale Diktatur der Revolutionsgarden etabliert, der es um Machterhalt und geopolitischen Einfluss geht, wie Katajun Amirpur sehr genau aufschlüsselt: „Die sogenannten Revolutionswächter, Pasdaran, wurden eigens dazu gegründet, das Regime zu verteidigen. Diese Handlanger haben viel zu verlieren und zu fürchten – vor allem die Rache einer Bevölkerung, die sie jahrzehntelang terrorisiert haben. (…) Das Regime besteht aus Revolutionären und weiß daher, dass es keinesfalls nachgeben darf, wenn es an der Macht bleiben will. Deshalb erstickt es jeden Protest im Keim. Schon Alexis de Tocqueville wusste, dass der gefährlichste Moment für eine schlechte Regierung der ist, in dem sie sich zu Reformen bereit erklärt.“
Ein prominenter Rundfunkmann, Mohammad Omrani, sorgte im Oktober 2022 für beklommene Aufmerksamkeit, als er über unabhängige Medien folgende Botschaft sandte: „Ich schweige nicht länger, ich bin ein alter Mann, ich will in Frieden sterben. Ihr seid bewaffnet? Nun, auch wir sind bewaffnet.“ Langsam sprach er dann die Namen der jüngsten Opfer des islamischen Regimes: „Mahsa, Nika, Navid – unser Blut. Das ist unsere Waffe. Ihr müsst davon gehört haben, dass Blut über das Schwert siegt. Und nun werdet ihr es sehen. Welcher Schrei ist lauter als der unserer getöteten Kinder?“ Ja, und auch der Mut von Katajun Amirpur ist enorm, wenn sie dies berichtet und weiter über das generelle Problem im Iran schreibt: „Der Islam ist nicht die Lösung, er ist Teil des Problems. Vom Widerstand gegen den Islamismus zur Abwendung vom Islam ist es für viele Iranerinnen und Iraner offenbar nur ein kleiner Schritt. Das zeigt sich an der Hinwendung zu anderen Religionen, vor allem zum Zoroastrismus, aber auch zu Buddhismus und zu Christentum.“
Seit 1979 ein Gottesstaat?
Nicht minder mutig ist der renommierte Beck-Verlag, und dieses Buch schmückt sein Programm. Denn Katajun Amirpur beschreibt auf der Grundlage weitgehend unbekannter Quellen, zahlreicher Besuche in Iran, Gesprächen mit Dissidenten sowie Berichten von Zeitzeugen die Wandlungen des Regimes in Teheran. Bereits 1979 vom mörderischen Islam durchtränkt, kommt jetzt zunehmend staatliche Repression dazu. Doch die Iraner – und besonders die Iranerinnen – haben begonnen, die Fassade des Islamismus niederzureißen, auch wenn dahinter Guillotine und Maschinengewehre lauern.
Immer noch wird in westlichen Denkschulen, bevorzugt übrigens im politisch linken Spektrum, das Mantra nachgebetet, der Iran sei „seit der Revolution von 1979 ein Gottesstaat“, Allah selbst regiere das Land mit Hilfe eines Rechtsgelehrten, der – so wird verharmlost – „stellvertretend die Staatsgewalt innehat“.
Der Beck-Verlag, der einmal mehr ein sehr mutiges Buch herausbrachte, korrigiert dies ideologisch geschönte Bild und spricht von einer „Ideologie, der das westliche Bild vom Staat der Mullahs willig folgt“. Muss der Name „Claudia Roth“ hier eigens genannt werden? Wohl kaum. Katajun Amirpurs überraschendes Buch macht dagegen eindrucksvoll deutlich, warum diejenigen unter den Iranerinnen, die diese Revolution mehrheitlich tragen, trotz aller Opfer endlich Erfolg haben könnten. Dem Werk sind recht viele Leser zu wünschen.
Katajun Amirpur, Iran ohne Islam, München 2023, Hardcover mit SU, 240 S., 25 Euro, ISBN 978-3-406-80306-2, erschienen am 16. März 2023.
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