Im Moskauer Butyrka-Gefängnis (Vorschaufoto) und in dem „Massengrab mit nicht abgeholter Asche“ verschwanden noch Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg Opfer des Stalinismus aus Österreich und Deutschland. Ein Gastbeitrag von Reinhard Olt
Am 14. März dieses Jahres beging der weit über die Grenzen Österreichs hinaus bekannte und an zahlreichen internationalen Opernbühnen wirkende Tenor Adolf Dallapozza seinen 80. Geburtstag. Kammersänger Dallapozza, Gast an zahlreichen internationalen Opernhäusern und Ehrenmitglied der Wiener Volksoper, entstammt einer Südtiroler Familie. Nur wenige wissen von dem tragischen Schicksal, das Adolfs älteren Bruder Emil, am 19. September 1925 in Branzoll geboren, 1951 ereilte. Die Eltern – der Vater verstarb 1964, die Mutter 1980 – erfuhren über dessen nähere Umstände niemals etwas, die Geschwister erst nahezu 60 Jahre später die Wahrheit. Zwar hatte die Familie neun Jahre nach Emils Verschwinden über das Rote Kreuz die Mitteilung erhalten, dass er in der Sowjetunion verstorben sei. Nähere Auskünfte waren aber aufgrund des apodiktischen Hinweises, weitere Nachforschungen seien zwecklos, unterblieben.
Es war der 11. Juni 1951, als Emil Dallapozza spurlos verschwand. Er war – da Österreich bis 1955 in vier Besatzungszonen geteilt war – in die Fänge der sowjetischen Spionageabwehr-Sondereinheit SMERSch geraten. Grund der Festnahme: „Spionage für den französischen Geheimdienst“. Aus den Akten geht hervor, dass Emil Dallapozza in St. Pölten die Kennzeichen zweier sowjetischer Kraftfahrzeuge notiert sowie Notizen über eine dort stationierte Militäreinheit gemacht hatte und auf „frischer Tat“ beim „Sammeln von Informationen“ ertappt worden war. Laut Protokoll des Militärtribunals bekannte er sich im Verhör in Baden bei Wien, wohin man ihn schaffte, zu seiner Schuld. Am 25. August 1951 verurteilte ihn das Tribunal zum Tode durch Erschießen.
Tausendfaches Schicksal
Grundlage war der berüchtigte Paragraf 58 Absatz 6 des Strafgesetzbuchs der UdSSR. Man verbrachte Emil Dallapozza ins Butyrka-Gefängnis nach Moskau, eine wegen ihrer Brutalität und entwürdigender Haftbedingungen berüchtigte Anstalt. Dort schrieb er ein Gnadengesuch: „Der ergebenst Gefertigte Emil Dallapozza … macht von der sowjetischen Rechtswohltat Gebrauch und bittet um Umwandlung der Todesstrafe in eine Freiheitsstrafe. Zur Bekräftigung seiner Bitte weist er noch auf seine Unbescholtenheit und seine Parteilosigkeit hin, wodurch erwiesen ist, dass seine Straftat keinem politischen Hassgefühl entsprungen ist.“ Am 29. September 1951 lehnte das Oberste Gericht der UdSSR, am 23. Oktober das Präsidium des Obersten Sowjets sein Gnadengesuch ab. Emil Dallapozza wurde am 10. November 1951 erschossen, sein Leichnam eingeäschert und die Asche auf den Donskoje-Friedhof verbracht.
Wie dem Südtiroler erging es auch dem 1923 geborenen Deutschen Herbert Killian. Der vormalige Wehrmachtsleutnant wurde am 12. April 1950 in Radebeul verhaftet, am 28. September wegen Spionage zum Tode verurteilt und am 12. Februar 1951 in Moskau erschossen. In seinem Gnadengesuch beteuerte er, „nur unter Zwang“ gehandelt zu haben. Dreimal sei er für seinen Auftraggeber in die Sowjetische Besatzungszone gereist. Wegen „Spionage für den amerikanischen Nachrichtendienst“ – dem Sammeln von Daten über sowjetische Einheiten und Flugplätze in Berlin, Chemnitz, Cottbus und Bautzen – verurteilte ihn ein Militärtribunal in Berlin zum „Tode durch Erschießen“. Zusammen mit Killian wurden auch Erich Reinhold und Felix Müller zum Tode verurteilt; gegen 21 weitere Deutsche wurden hingegen „nur“ 25 Jahre Arbeitslager als Strafmaß verhängt.
Das tatsächliche Schicksal all derer, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg unter solchen oder ähnlichen Umständen ums Leben kamen, war bis vor wenigen Jahren völlig unbekannt. Zwar hatten Angehörige der Vermissten während der „Tauwetterperiode“ unter Nikita Chruschtschow 1956/57 offizielle Todesmitteilungen erhalten, doch die Todesursachen waren allesamt fingiert: Lungen-Tbc, Nierenversagen, Gehirnblutung.
Entscheidende Hinweise auf ihr wahres Ende kamen erst Jahrzehnte später von Arsenij Roginskij, Chef der einst von Andrej Sacharow gegründeten Bürgerrechtsorganisation „Memorial“. Laut „Memorial“ wurden zwischen 1945 und Stalins Todesjahr 1953 insgesamt 7000 Menschen in der „Butyrka“ erschossen; unter ihnen mehr als 1000 deutsche und 132 österreichische „Spione“. Roginskij nahm Kontakt zu Stefan Karner auf, dem damaligen Leiter des in Graz ansässigen „Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung“ (BIK). Dank „Entgegenkommens des Moskauer Staatsarchivs aufgrund jahrelanger vertrauensvoller Zusammenarbeit“ sei es dann, so Karner, „möglich geworden, die Schicksale dieser besonderen Gruppe unter den letzten Opfern Stalins zu rekonstruieren“.
Gnadenlose Justiz
Die 24 Jahre alte Buchhalterin Hermine Rotter aus Wien schrieb in ihrem Gnadengesuch: „Ich flehe zu Ihnen, ohne Eltern, ohne Heimat, da ich sonst niemand mehr habe, mein nacktes Leben zu retten und mich von dem grässlichen Tode freizusprechen. Ich schwöre dem russischen Staat meinen heiligen Eid, sollte das Hohe Gericht mir diese Gnade des Lebens erteilen, meine ganze Kraft, Arbeit, Fleiß und guten Willen zu geben und Ihnen in der Sowjetunion zu beweisen, dass ein junges Wiener Mädchen einen großen Fehler begangen hatte, aber als Wiedergutmachung Ihnen ihr Leben durch Arbeit und ein gutes Herz schenkt. Ich zünde für jeden Soldaten Ihres Landes, welcher im Kriege starb, abends in meinem Herzen ein Lichtlein an und denke dabei als Wienerin, alles gutzumachen, was ich an Ihnen verbrochen habe.“ Es half nichts: Am 9. Oktober 1951 wurde Hermine Rotter im Keller der „Butyrka“ erschossen – wegen „antisowjetischer Spionage“. In derselben Nacht wurde ihr noch nicht erkalteter Leichnam im Krematorium auf dem Friedhof des ehemaligen Klosters Donskoje verbrannt. Ihre Asche schüttete man ins wenige Schritte entfernte Grab Nr. 3, das „Massengrab mit nicht abgeholter Asche aus den Jahren von 1945 bis 1953″, als das es heute offiziell bekannt ist.
Von 2201 Zivilisten, die sowjetische Organe bis 1953 in Österreich verhafteten, erhielten mehr als 1000 hohe Haft- und Lagerstrafen. 132 Personen verurteilte das Militärtribunal zum Tode. Niemand in Österreich wusste, dass im Kurort Baden bei Wien derartige „Prozesse“ stattfanden, bei denen die Beschuldigten keine Chance hatten, sich zu verteidigen. Die Anklage war stets dieselbe: Spionage; ebenso das Urteil: Tod durch Erschießen.
In den meisten Fällen waren es aber wohl Lappalien, derer sich die Verhafteten „schuldig“ gemacht hatten, getrieben oft aus schierer materieller Not. So im Falle des Stefan Buger, Fahrdienstleiter bei der österreichischen Eisenbahn. Vor dem Militärtribunal legte er seine „finanzielle und materielle Not“ dar, die ein Angehöriger des französischen Geheimdienstes namens Fuczik ausgenutzt habe: „Ich hatte einen Monatslohn von 690 Schilling, auf Lebensmittelkarten nichts bekommen, alles nur am schwarzen Markt. 1 kg Schmalz 400 Schilling, Zucker 220 Schilling, Mehl 45 Schilling, ein Ei 230 Schilling, Fleisch 300–350 Schilling. Meine Familie unterernährt, Kinder hatten Hunger und nicht einmal das Notwendigste an Brot und Fett zuhause“, gab Buger zu Protokoll. Als Gegenleistung für Informationen über Fracht und Häufigkeit des Verkehrs sowjetischer Güterzüge soll Buger „4000–4500 Schilling an Geld oder Produkten wie Schmalz, Mehl, Zucker“ erhalten haben. 1948, nach Fucziks „Verschwinden“, brach er jeglichen Kontakt zum Geheimdienst ab. Was Buger nicht wusste: Fuczik war wegen Spionage zu 25 Jahren GULag verurteilt worden und hatte seinen Namen preisgegeben. Stefan Buger wurde am 11. Juli 1952 in Moskau hingerichtet.
Zynische Mitteilungen
Ein anderer Fall, den die Grazer Wissenschaftler klärend rekonstruierten, ist der des Leo Thalhammer. „Der Fabrikarbeiter Leo Thalhammer wurde aufgefordert, auf die Kommandantur zu kommen und wurde seither nicht mehr gesehen“, hieß es in einer Meldung der „Arbeiterzeitung“ Ende September 1951. Seine Frau Anna ahnte sogleich, dass etwas Schlimmes passiert sein musste: „Den Leo ham’s sicha daschossn.“ Sein Schwager Ernst Feichtinger, laut KGB-Akten ein Agent des amerikanischen Geheimdienstes CIC, hatte ihn als Informanten angeworben. Er sollte berichten, was bei den Messerschmitt-Werken in Wiener Neustadt hergestellt wurde. In seinem Gnadengesuch vom 6. Dezember 1951 bot Thalhammer „mein ganzes Können für den Aufbau von Russland an, um meine Tat gutzumachen“. Vergeblich: Am 1. März 1952 wurde er zusammen mit seinem Schwager Feichtinger in Moskau exekutiert. 1956 erhielt die Familie die Nachricht, er sei infolge „Zerreißens der Aorta“ verstorben – eine vordergründig zwar korrekte, aber doch zutiefst zynische Darstellung.
Isabella Maria Lederer wiederum wurde die leibliche Verwandtschaft mit einem vormaligen SS-Offizier zum Verhängnis, der für den US-Geheimdienst arbeitete. Die Grazerin wurde von ihrem Bruder angeworben. Ob sie bloß an Geld kommen wollte, um ihre drei Kinder durchzubringen, oder tatsächlich politische Motive hatte, bleibt ungeklärt. Sie fuhr oft nach Wien, um Flugblätter zu verteilen, auf denen dazu aufgefordert wurde, die Fronten zu wechseln. Stets mit dabei waren ihr 17 Jahre alter Sohn Horst und ihre vierjährige Tochter Roswitha.
Über ihre Festnahme berichtete im Mai 1952 sogar die „Austria Presse Agentur“. Am 18. Juli 1952 sah Horst Lederer seine Mutter zum letzten Mal im „Gerichtssaal“ des sowjetischen Militärs in Baden. Als das Urteil verlesen wurde, konnten beide das Gehörte kaum fassen: wegen „antisowjetischer Agitation“ Tod durch Erschießen für die 42 Jahre alte Soldatenwitwe und Mutter dreier Halbwaisen; 25 Jahre „Arbeitsbesserungslager“ für den minderjährigen Sohn. Drei Tage nach dem Urteilsspruch schrieb auch Isabella Lederer ein Gnadengesuch: „Ich bitte aus tiefstem Herzen das Präsidium, die verzweifelte Bitte einer Mutter zu erfüllen, das furchtbare Urteil zu ändern und mir die Möglichkeit zu geben, einmal wieder mein Leben bei meinen Kindern zu verbringen.“ Am 11. September wurde die Bitte um Gnade abgelehnt, vier Wochen später das Todesurteil im Keller der Moskauer „Butyrka“ vollstreckt. Sohn Horst hatte Glück: Die Sowjetmacht verfrachtete ihn „nur“ nach Alexandrowsk in Sibirien, im Juni 1955 schickte sie ihn nach Hause.
Späte Gerechtigkeit
Dank der Forschungen der Grazer Historiker bekamen die Opfer wie der gebürtige Südtiroler Emil Dallapozza zumindest ihre Namen zurück und die Angehörigen sowie die Nachgeborenen Einsichten über ihr gnadenlos-trauriges und menschenverachtendes Schicksal. Tiefschürfende, dokumentierte Befunde und Erkenntnisse darüber bietet unter anderem das von Stefan Karner und Barbara Stelzl-Marx herausgegebene Buch „Stalins letzte Opfer. Verschleppte und erschossene Österreicher in Moskau 1950–1953″.
Prof. Dr. phil. Dr. h.c. Reinhard Olt war von 1985 bis 2012 Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und von 1994 bis zu seinem Ausscheiden deren politischer Korrespondent in Wien. Er hatte Lehraufträge an diversen deutschen und
österreichischen Hochschulen inne. Sein Beitrag erschien zuerst bei der PAZ, mit deren ausdrücklicher Genehmigung wir ihn hier zweitveröffentlichen.
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