Sonntag, 17. November 2024

Gefährdet Corona unsere Freiheitsrechte? Italienische Beobachtungen

Die zahlreichen Corona-Toten in Italien führen nicht nur zur Schließung des öffentlichen Lebens, sondern auch zu Fragen und Diskussionen um die Zukunft des eigenen Landes, der Europäischen Union – und unserer Freiheit. Ein Gastbeitrag von Wulf W. Wagner.

Gebannt schaut die Welt dieser Tage nach Italien. Die rasant steigenden Zahlen der Opfer des Coronavirus (allein am Sonntag waren es 651 Tote) schockieren ebenso wie die Bilder von verzweifelten Ärzten oder von den Militärkolonnen, mit denen die Särge aus Bergamo abtransportiert werden, weil die Kapazitäten der örtlichen Krematorien erschöpft sind. Da Deutschland bei der Ausbreitung des Virus (zum Glück nicht bei den Todesfällen) immer ein paar Tage hinter seinem südlichen Nachbarn liegt, gleicht der Blick über die Alpen einem Blick in unsere nähere Zukunft.

Auch politisch könnte Italien sich als ein Orakel für künftige deutsche Verhältnisse erweisen. Die Heftigkeit, mit der das Virus sich ausbreitet, und die weitgehende Hilflosigkeit der politischen Führung führen dazu, dass hier wesentlich entschiedener – und auch offener – über die Folgen der Corona-Krise für das Land und seine Menschen, aber auch für die Europäische Union diskutiert wird.

Die folgenden Ausführungen geben Beobachtungen eines in Berlin und in Palermo lebenden Kunsthistorikers wieder. Zwar ist die Metropole Siziliens, wo ich mich gerade aufhalte, ungefähr so weit vom Epizentrum der Virusausbreitung in der Lombardei entfernt wie Hamburg, doch entspricht der Alltag der Sizilianer längst dem des ganzen Landes.

Grün-weiß-rote Ermunterung

Seit Tagen schon weht an einigen Balkonen der Piazza Marina die italienische Trikolore. In Schaufenstern geschlossener Läden der Via Maqueda liegen die Landesfahnen mit dem kleinen Hinweis: „Andrà tutto bene!“ („Alles wird gut gehen!“). Einfache Worte, die hier und da auch an Balkonen meines Viertels in der Altstadt zu lesen sind.

Weiter darf ich nicht mehr, denn längere Spaziergänge oder Sport im Freien, was lange noch möglich war, sind nunmehr auch untersagt. Via Internet hört man auch aus anderen Städten des Landes vom Aufhängen der Trikolore durch die Bevölkerung. Auf Youtube kreisen Filmchen von Italienern, die in ihren Wohnungen isoliert abends auf die Balkone treten, um gemeinsam mit ihren Nachbarn die Nationalhymne oder andere bekannte italienische Lieder zu singen. Zeichen des Zusammenhalts einer großen Kulturnation.

Ob dies in Deutschland denkbar wäre, wenn auch bei uns die Bewegungsfreiheit weiter eingeschränkt würde? Zweifel sind angebracht. Schon twitterte die Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales in Berlin, Sawsan Chebli (SPD), ihre Bedenken gegen die italienische Heimatliebe. Was sie wohl sagen würde, wenn sie sähe, wie jetzt in Großanzeigen zum Kauf italienischer Waren aufgerufen wird?

Zusammenhalt in der Krise

Patriotische Zusammengehörigkeitsgefühle gelten insbesondere bei den Intellektuellen der Bundesrepublik schon lange als verpönt. Man wird sie wieder lernen. Genauso, wie man wieder lernen wird, die Alten und die Familie zu achten, wie es am 16. März der Soziologe und vormalige Präsident der staatlichen Rundfunk- und Fernsehanstalt RAI Francesco Alberoni in der Zeitung „La Verità“ sagte: „Mit dem Virus kehren Staat und Familie zurück.“

In der Bundesrepublik hingegen darf ein in den öffentlich-rechtlichen Medien auftretendes, mit dem Grimme-Preis gefördertes „Browser Ballett“ verkünden: „Wir sagen Ja zu Corona. (…) Es rafft die Alten hin. (…) Das ist nur gerecht.“ Und auch die von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beworbene Hip-Hop-Band K.I.Z. schreit ihren kreischenden Fans auf einem Konzert zu: „Dabei sterben nur alte weiße Männer!“ In Italien wären derartige Entgleisungen undenkbar.

Meine junge Vermieterin gelangte gerade von Lampedusa, wo sie in der Migrantenbetreuung arbeitet, nach Palermo, um sich selbstverständlich um ihre Eltern zu kümmern, bei denen sie nun wohnt. Und bewegend ist die Geschichte eines kleinen Jungen, der „112“ wählte und die Beamten bat, doch ein mit „Andrà tutto bene“ beschriebenes Bettlaken ins Altenheim zu bringen, denn Besuche sind dort nicht mehr möglich.

Offene Debatten

Und noch in etwas anderem unterscheidet sich Italien sehr von Deutschland: Es sind die vielen freien Denker und die zahlreichen alternativen Medien, in denen sie auftreten können. Italien hat eine bedeutende politische und mediale Opposition; nicht nur gegenüber der derzeitigen linken Regierung, sondern auch intellektuell gegenüber dem, was hier „pensiero unico“ genannt wird, und was man mit „gleichgeschaltetem Denken“ oder der Verpflichtung zur Politischen Korrektheit nur unzureichend übersetzen kann.
Die schwere Krise, in der Italien nunmehr China bei den Todeszahlen überholt hat, zeigt, wie unbedingt notwendig eine politische und geistige Opposition ist. Die politische Opposition besteht aus dem breiten Wahlbündnis „Centrodestra“ (Mitterechts) mit seinen inhaltlich durchaus verschiedenen Haltungen: von der moderat-konservativen Partei „Forza Italia“ Silvio Berlusconis – der gerade zehn Millionen Euro für ein neues Krankenhaus spendete –, über die am Konkreten ausgerichtete „Lega“ Matteo Salvinis, bis zu den nationalen „Fratelli d’Italia“ („Brüder von Italien“) unter Giorgia Meloni.

Staatspräsident Sergio Mattarella rief diese Opposition auf, mit der Regierung zusammenzuarbeiten. Das wird gehört, aber die Antworten der politischen wie medialen Opposition sind selbstbewusst. So etwa die von Salvini, der bereits als Innenminister (2018–2019) klarmachte, dass ihm das Wohl der Nation wichtiger ist als ferne Brüsseler Wünsche. Und so befasst er sich nun kritisch mit den von der linken Regierung vorgeschlagenen wirtschaftlichen Hilfsmaßnahmen, hört wie stets achtsam zu, was ihm aus der Bevölkerung zugetragen wird, und stellt sich konstruktiv quer: „Wir sind dabei, die Vorschläge aus dem ganzen Bereich der produktiven Welt zusammenzutragen“, um diese Ideen in das Programm der Regierung einzubringen. Denn vieles fehlt, so Hilfen für die ganz normale steuerzahlende Bevölkerung, vor allem für die Freiberufler. Unter Salvinis fünf Vorschlägen an den Präsidenten findet sich daher jener zur Aussetzung der Steuern für 2020 für die arbeitende Bevölkerung.

Auch Giorgia Meloni, deren Partei derzeit den größten Zuwachs verzeichnet, findet klare Antworten, etwa zur Idee der Regierung, den Europäischen Stabilitätsmechanismus zu unterzeichnen. Im Interview mit der Zeitung „Il giornale“ sagt sie: „Rom wollen sie [Berlin und Paris] einbinden in den Fonds zur ,Staaten-Rettung‘, der für uns ein Kommissariat bedeutet, das Ende der Freiheit, Unterwerfung. Sicher alles zu unserem Besten, so sagen sie. Wie es Griechenland erlebt hat.“

Kritische Blicke auf Europa

Überhaupt die EU. Über Wochen kam von dort keinerlei Solidarität. Aus Frankreich kamen „Witze“, die Bundesrepublik verweigerte die Weitersendung von Atemmasken aus China. Merkel bespricht sich mit Macron und von der Leyen, Italien wird nicht beachtet; diese Zurücksetzung wird hier schon lange zur Kenntnis genommen. Umso stärker wird nun überall von „nationaler Solidarität“ gesprochen. Und je weniger die eigene Regierung handelt, umso tätiger treten die Regionalregierungen hervor.

Doch die Opposition ist nicht nur politisch, sie ist – der Höhe des Volkes Machiavellis gemäß – auch intellektuell. Das aber ist von entscheidender Bedeutung. Denn vieles überblicken wir heute noch nicht; um so mehr kommt es auf eine kritische Haltung gegenüber den Mächtigen und Meinungsmachern an. Die Meinungen über die Gefahr des Coronavirus gehen auseinander, im Internet finden sich sachliche medizinische Beiträge, die der Hysterie in den staatlichen Medien widersprechen; es finden sich breite Analysen zur Situation von Wissenschaftlern und Kennern der Wirtschaft; und es finden sich die unvermeidlichen Verschwörungstheorien. Gerade weil unser wirkliches Wissen noch so im Unklaren liegt, sich Widersprüche zeigen, ist es von entscheidender Bedeutung, dass die mündigen Bürger die Möglichkeit einer breiten, kontroversen Information haben.

Hier zeigt sich einer der gewaltigsten Unterschiede zwischen Italien und der Bundesrepublik. Nonkonformistische, nicht politisch-korrekte, konservative und „rechte“ Bewegungen und Intellektuelle sind hier breit aufgestellt. Freie Denker – um nur die drei jungen Intellektuellen, den Philosophen Diego Fusaro, den Verleger Francesco Giubilei oder auch den Blogger Luca Donadel zu nennen – halten die durch Corona verdeckten Themen aufrecht: neben dem Stabilitätspakt etwa auch Defender Europe 20, ein Manöver nahe der russischen Grenze in Nordeuropa, zu welchem tausende US-Soldaten eingeflogen werden. Andere wie „Radio Radio“ befragen in langen Interviews Wissenschaftler, und die jungen Akademiker von „Il primato nazionale“ suchen nach Lösungen auch in der italienischen Geschichte.

Gefahren für die Freiheit

Schon jetzt weiß man in Italien, dass danach nichts mehr so sein wird wie vorher. Und daher werden Diskussionen, die in der Bundesrepulik verdrängt würden, hier bereits in einer anderen Tiefe offen geführt: zum Beispiel jene Frage nach der eigenen Souveränität; die Frage, was Euro und EU überhaupt bringen; wie letztere umzugestalten oder auch ob sie zu verlassen sei. Und was werden die Voraussetzungen sein – auch die ideologischen –, wenn Brüssel Finanzhilfen verteilt? Professor Paolo Becchi fragte am 15. März in „Libero“, wohin die gegenwärtige Aussetzung fundamentaler Verfassungsrechte führt. Wie steht es mit den Einschränkungen der Bewegungs- und Versammlungsfreiheit? Wird die Situation genutzt, um nun eine unliebsame Opposition zu beseitigen?

In Italien sind die alternativen Medien mit Tageszeitungen, Zeitschriften und Internetportalen nicht nur breiter aufgestellt, sie werden auch deutlicher gehört. Selbstverständlich treten die Chefredakteure Vittorio Feltri von „Libero“ oder Maurizio Belpietro von „La Verità“ in Fernseh-Talkrunden auf; selbstverständlich können sich so streitbare Journalisten wie die kräftige Maria Giovanna Maglie oder der beliebte bekennende Populist Mario Giordano ausführlich äußern.

Das wäre bei uns etwa damit vergleichbar, wenn der Chefredakteur der „Jungen Freiheit“ Dieter Stein oder Frank Böckelmann von „Tumult“ im abendlichen Fernsehprogramm zu Wort kämen oder wenn sich Roland Tichy von „Tichys Einblick“ häufiger bei ARD und ZDF äußern dürfte.

Die Pflicht des Bürgers, wachsam zu bleiben, betrifft nicht nur die Gefahren für seine Gesundheit, sondern vielmehr noch seine demokratisch legitimierte Freiheit, zu der gerade auch die Versammlungs- und Meinungsfreiheit gehören. Hierzu gehört ein breites Informationsangebot ebenso wie eine kritische Haltung gegenüber dem medialen Mainstream.

Eine freie Gesellschaft muss andere Meinungen aushalten, sonst ist sie keine mehr. Italien ist uns da weit voraus. Deshalb lohnt sich der Blick Richtung Süden auch jenseits der aktuellen Coronavirus-Krise.Seit Tagen hängt auch an meinem Balkon die italienische Fahne – als Zeichen meiner Solidarität mit diesem wunderbaren Kulturvolk.

Dr. Wulf D. Wagner lebt als Kunsthistoriker und Publizist in Berlin und Palermo. 2019 übersetzte er den Band „Ich bin Matteo Salvini“ (Manuscriptum) ins Deutsche. Sein Beitrag erschien zuerst bei PREUSSISCHE ALLGEMEINE.

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