Ein Gastbeitrag von Volker Fervers
„Mehr als 200 Wahlhelfer sterben in Indonesien“ – Woran denken Sie, wenn Sie diese Überschrift am Sonntag, dem 28. April in Spiegel Online [1] lesen? Vielleicht an ein Zugunglück? Einen Dammbruch? Eine eingestürzte Brücke? Oder an ein Massaker?
Weit gefehlt! Die Spiegel-Erklärung folgt: „Ihr [der Wahlhelfer] Einsatz bei der indonesischen Parlaments- und Präsidentschaftswahl endete für mehr als 270 Helfer tödlich. Sie starben laut der Wahlkommission an den Folgen von Erschöpfung.“
Lieber #SPON, ihr könnt doch nicht ernsthaft so eine Nachricht verbreiten und auf den Glauben der Lesergemeinde hoffen. Da wünscht sich der ungeneigte Leser ein wenig mehr Journalismus und weniger Nachrichtendienst-Copy-Gepaste. https://t.co/Nuh7umEiVf
— Anselm Maria Sellen (@amsellen) April 28, 2019
Spiegelbild des Grauens
Was unglaublich klingt, aber durch ein Bild des Grauens [2] belegt wird: inmitten schier endlos scheinender Reihen mit Papiersäcken voller Stimmzettel liegen regungslos sieben mutmaßliche Wahlhelfer am Boden. Von einem weiteren sieht man nur noch einen Fuß. Ein einziger noch kann sich auf den Beinen halten, indem er sich in den Schritt greift. Eine Leichenhalle?
Das Rätsel der Bewegungslosigkeit lässt sich vom Leser leicht lösen. Bei dem Artikelbild handelt es sich ja um ein Bild. Es wäre erstaunlich, wenn sich da jemand bewegen würde.
Warum aber liegen die Leute auf dem Boden? Die Legende verrät es uns: „Pause in einem Lagerraum neben den Wahlurnen in Jakarta Mitte April“. In der mit Kartons vollgestellten Halle steht kein einziger Stuhl, kein Sofa, keine Couch. Wenn man genauer hinsieht, kann man nicht nur die Legende lesen, sondern auch erkennen, daß sich die im ersten Anschein an Erschöpfung hingeschiedenen jungen Männer die bequemste Position gesucht haben, um mit ihrem Handy zu spielen.
Nachgerechnet
Welchen Eindruck vermitteln der reißerische Titel und das Titelbild? Was steht an Fakten hinter diesem Artikel? Zunächst die Fakten, soweit bekannt. [3]
Indonesien hatte im Juli 2018 geschätzte 262 Millionen Einwohner mit 193 Millionen Wahlberechtigten. Am 17. April fanden gleichzeitig Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Dabei waren 7 Millionen Wahlhelfer tätig. Die Auszählung der Stimmen wird noch bis Ende Mai dauern.
Bei einer Sterberate von 6,5 Promille pro Jahr auf die Gesamtbevölkerung von 262 Millionen Menschen sterben jährlich mehr als 1,7 Millionen Indonesier.
Es gab 7 Millionen Wahlhelfer. Das ergibt im Zeitraum von 10 Tagen beginnend mit der Wahl am 17. April bis zur Bekanntgabe der Opferzahl am 27. April eine Zahl von über 1.200 Toten, die ganz ohne Wahl gestorben wären. Falls nur 270 Wahlhelfer nach der Wahl gestorben sind, haben wir es im Gegenteil mit einem interessanten Fall zu tun: Wahlen helfen Leben retten!
„Man merkt die Absicht und ist verstimmt“
Was treibt nun den Autor zu einer Phrase wie „In Indonesien haben Hunderte Wahlhelfer ihren Einsatz für die Demokratie mit dem Leben bezahlt“? Geht’s nur noch mit der Tränendrüse, um an Klicks zu kommen? Dann sei euch gesagt: die Leser, die ihr noch habt, erkennen falsches Pathos im Jahr 1 nach Relotius zehn Meilen gegen den Wind.
PS: Haltungsjournalismus ist aber auch out.
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Quellen:
[1] https://www.spiegel.de/politik/ausland/indonesien-mehr-als-200-wahlhelfer-sterben-durch-ermuedung-und-erschoepfung-a-1264793.html [2] https://www.spiegel.de/politik/ausland/bild-1264793-1421434.html [3] https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/id.html