Ein Beitrag zur Kultur- und Frömmigkeitsgeschichte eines Adventschorals. Von Dr. Juliana Bauer
Zur Kulturgeschichte des Advent: Im Vielerlei der säkularisierten, häufig nur allzu sehr Dekor-verkitschten Vor-Weihnachtszeit und dem stetig wiederkehrenden, oft sinnentleerten Gedudel von Weihnachtsliedern in Discountern und Kaufhäusern, auf „Weihnachtsmärkten“ häufig unterbrochen von schnöder Diskomusik oder – neuerdings auch durch den wesensfremden Ruf des Muezzins „veredelt,“ gerät die Zeit des Advents immer weiter in Vergessenheit wie auch die mit diesem Festkreis mannigfach verknüpften tiefsinnigen Traditionen und Bräuche.
Betroffen von dieser Vergessenheit scheint auch die Fülle des Liedguts zu sein, das gerade der Advent über Jahrhunderte hinweg als eigene Gattung hervorbrachte. So möchte ich an dieser Stelle interessierten Lesern ausgewählte adventliche Choräle vorstellen. Den Anfang werde ich mit dem antiken Hymnus Veni Redemptor Gentium machen. Zunächst aber soll ein kleiner Überblick über die Geschichte des Advents in die für Christen heilige Zeit, die Zeit der Erwartung, der Hoffnung und der Verheißung einführen.
Im 4./5.Jh. begann sich der Advent als Vorbereitungszeit auf die Ankunft des Herrn, des Adventus Domini bzw. als tempus ante natale Domini (die „Zeit vor der Geburt des Herrn“) verstärkt zu entwickeln und somit eine eigenständige liturgische Zeit im Kirchenjahr zu prägen. Der uns von Kindheit an bekannte zeitliche Rahmen von vier Sonntagen legte Papst Gregor der Große für die westliche Kirche bereits um das Jahr 600 fest: Mit der Vesper zum 1. Advent beginnt dieser seither in der Mehrheit der Bistümer und endet am Abend vor dem Tag der Geburt Jesu am 25.Dezember.
Der ältere liturgische Zeitraum des Advents, der dem römischen vorausging, war jedoch jener des Bistums Mailand. Dessen Bischof Ambrosius (339 – 397) bestimmte, analog zur sechswöchigen österlichen Fastenzeit, eine Dauer von sechs Wochen, an der die Diözese Mailand einschließlich weiterer Diözesen Oberitaliens noch heute festhalten. Den gleichen temporären Rahmen berücksichtigte die Kirche im gallisch-irischen Kulturraum – unter dem Einfluss des dortigen Mönchtums beging man seit dem 6./7.Jh. den Advent als Buß- und Fastenzeit, die nach dem 11. November, dem Tag des Hl. Martin begann. Ihr entsprechend herrschten dort in den liturgischen Texten eschatalogische Themen vor, die insbesondere die Umkehr und Buße der Menschheit sowie die Wiederkunft Christi als Weltenherrscher und das Weltgericht betonen.
Die Texte des ambrosianischen und des römischen Adventskreises hingegen wurden von den Glaubensinhalten der Konzile von Nicäa (325) und Ephesus (431) geprägt und stellen bis heute die Inkarnationstheologie, d.h. die Menschwerdung des Gottessohnes Jesus in Maria, die Einheit seiner göttlichen wie menschlichen Natur und die Erhebung Mariens als Theotokos, als Gottessgebärerin, in den Mittelpunkt.
Intende, qui regis Israel – Veni redemptor gentium
Ein Hymnus von Bischof Ambrosius von Mailand (386)
- Intende, qui regis Israel, Höre, der du herrschest über Israel,
super Cherubim qui sedes, der du thronest über den Cherubim,
appare Ephraem coram, excita erscheine vor Ephraim, richte auf
potentiam tuam et veni! deine Macht und komm!
2 Veni, redemptor gentium, Komm, Erlöser der Völker,
ostende partum virginis, zeige uns die Geburt aus der Jungfrau,
miretur omne saeculum, staunen soll alle Welt (alle Zeit):
talis decet partus deo. eine solch‘ Geburt geziemt Gott.
3 Non ex virili semine, Nicht aus des Mannes Samen,
sed mystico spiramine sondern aus geheimnisvollem Hauch
verbum dei factum est caro ist Gottes Wort Fleisch geworden
fructusque ventris floruit. und die Frucht des Leibes erblüht.
4 Alvus tumescit virginis, Es wölbt sich der Leib der Jungfrau,
claustrum pudoris permanet, das Tor der Scham bleibt verschlossen,
vexilla virtutum micant, die Banner der Tugend erstrahlen,
versatur in templo deus. es weilt Gott in seinem Tempel.
5 Procedat e thalamo suo, Er ging aus seinem Brautgemach,
pudoris aula regia, aus der Königshalle der Scham,
geminae gigas substantiae, der Held von zweifachem Wesen,
alacris occurat viam. eifrig, seine Bahn zu eilen.
6 Egressus eius a patre, Sein Ausgang führt vom Vater,
regressus eius ad patrem, seine Heimkehr führt zum Vater,
excursus usque ad inferos, sein Abstieg bis zur Hölle,
recursus ad sedem dei. seine Rückkehr zu Gottes Thron.
7 Aequalis aeterno patri, Wesensgleich dem ew‘gen Vater,
carnis tropaeo accingere, zu tragen des Fleisches Siegeszeichen,
infirma nostri corporis die Schwachheit unseres Leibes
virtute firmans perpeti. mit immerwährender Kraft zu stärken.
8 Praesepe iam fulget tuum Schon erglänzt deine Krippe,
lumenque nox spirat novum, ein neues Licht haucht die Nacht aus,
quod nulla nox interpolet das keine Nacht auslösche/verdecke
fideque iugi luceat und in beständigem Glauben leuchte.
Der Hymnus ist das wohl älteste Weihnachts-Lied der lateinischen Christenheit. Er stammt aus der Feder des genannten Mailänder Bischofs und verbreitete sich in allen Bistümern der lateinischen Kirche. Der Text, der die Menschwerdung Christi zum Thema hat, stellt uns ein Beispiel der zahlreichen liturgischen Hymnen vor Augen, die Ambrosius während seiner Jahre als Bischof (374 – 397) schuf.
Deutsche Übersetzungen des Mittelalters
Im Laufe seiner jahrhundertealten Weitertradierung wandelte sich Veni redemptor gentium (Komm, Erlöser der Völker) vor allem im Deutschland des späten Mittelalters zu einem der wichtigsten Advents-Choräle, wo der in Latein gehaltene ambrosianische Text in Nachdichtungen verschiedene deutsche Übersetzungen erfuhr. Als älteste poetische Übertragung ins Deutsche gilt jene des Freiburger Cappellanus und Domdechanten Heinrich von Laufenberg (1391/99 – 1460) Kum har, Erlöser Volkes Schar, die 1418 in einer Straßburger Liederhandschrift erschienen war. Eine weitere Übersetzung aus dem 15.Jh. findet sich in einem Manuskript der Bibliothek des Marzellen-Gymnasiums in Köln.
Kum har, Erlöser Volkes Schar
erzoig die geburt der megde klar
des wundert alle welt gemein
wann solch geburt zimpt got allein
Während der Reformationszeit nahm die Rezeption des Hymnus einen nachhaltigen Aufschwung. Eine damalig bekannte, wiederum relativ freie Übersetzung des Ursprungstextes stellt jene von Thomas Müntzer aus dem Jahr 1523 dar. Als einen von zehn Hymnen publizierte er ihn im Anhang seiner Edition „Deutsch Kirchen ampt“ als Laudes „…auff das advent.“ Ein Jahr später schrieb Martin Luther eine eigene Fassung, mit der er sich eng an den Originaltext anlehnte. Es soll daher zunächst der ambrosianische Hymnus betrachtet werden, um anschließend dem Choral Luthers zu folgen.
Inhaltliche Betrachtung des ambrosianischen Hymnus
Ambrosius verfasste den Hymnus in acht Strophen zu je vier achtsilbigen Zeilen. Durch die seit dem Mittelalter übliche Weglassung der ersten Strophe Intende, qui regis Israel/Höre, der du herrschest über Israel wurde die erste Zeile der ursprünglich zweiten Strophe Veni redemptor gentium zu Titel und Einleitung des Chorals. Beide Strophen stimmte der Bischof jedoch inhaltlich und stilistisch aufeinander ab, sodass durch den Verzicht auf die ursprünglich erste Strophe nicht nur deren biblische Gesamtaussage verloren ging, sondern in sämtlichen späteren Übertragungen die Strophe wegfällt, die den eigentlichen Ausgangspunkt zu dem Wandel vom Weihnachts- zum Adventshymnus bildete.
1 Intende, qui regis Israel, Höre, der du herrschest über Israel,
super Cherubim qui sedes, der du thronest über den Cherubim,
appare Ephraem coram, excita erscheine vor Ephraim, richte auf
potentiam tuam et veni! deine Macht und komm!
2 Veni, redemptor gentium, Komm, Erlöser der Völker,
ostende partum virginis, zeige uns die Geburt aus der Jungfrau,
miretur omne saeculum, staunen soll alle Welt (alle Zeit):
talis decet partus deo. eine solch‘ Geburt geziemt Gott.
Mit der stellenweise fast wörtlichen Übernahme der Verse 2 -3 aus Psalm 80
Du Hirte Israels, der du Josef leitest wie eine Herde, höre doch!
Der du thronest auf den Cherubim, erscheine glanzvoll!
Vor Ephraim, Benjamin und Manasse erwecke deine Macht
und komm zu unserer Rettung!
führt Ambrosius den Gläubigen gleichermaßen die göttliche Herkunft Jesu wie auch seine Abstammung aus dem Volk Israel vor Augen. Durch seine Anrufung als den, der „herrschet über Israel“ und über den Cherubim thront, wird Christus als mächtiger Herrscher „apostrophiert“ (Fritz Wagner) und mit Jahwe, d.h. mit Gott selbst, den der Psalmist herabruft, gleichgesetzt. Fast drängend wirkt die Bitte des Psalmisten um Gottes Erscheinen – im Hymnus um das Erscheinen Jesu als Messias/als Christus, fast flehend bittet Ambrosius um das Kommen des göttlichen Herrschers.
In einer Art Antithese erweitert er zu Beginn der zweiten Strophe die „Herrschaft“ Christi als Herrscher über Israel und verleiht ihm den Titel des Erlösers der Völker. Damit schlägt er den Bogen zu einer Predigt von Paulus, der vor dem jüdischen Volk darauf verweist, die Botschaft Jesu ebenso an „die Nationen/die Heiden“ zu richten (Apg 13,46). In der in Strophe 2 geradezu beschwörenden Anrufung Christi um die Offenbarung seiner wunderbaren Geburt befindet sich Ambrosius mitten im Geheimnis der Menschwerdung des Gottessohnes und mit diesem im zentralen Thema seines Hymnus.
3 Non ex virili semine, Nicht aus des Mannes Samen,
sed mystico spiramine aus geheimnisvollem Hauch
verbum dei factum est caro ist Gottes Wort Fleisch geworden
fructusque ventris floruit. und die Frucht des Leibs erblüht.
4 Alvus tumescit virginis, Es wölbt sich der Leib der Jungfrau,
claustrum pudoris permanet, das Tor der Scham bleibt verschlossen,
vexilla virtutum micant, die Banner der Tugend erstrahlen,
versatur in templo deus. es weilt Gott in seinem Tempel.
So beginnt er in der dritten Strophe mit der Schilderung der Geburt Jesu in Anlehnung an die jeweils ersten Kapitel des Lukas- und des Johannesevangeliums. Durch „die kunstvolle Verknüpfung von poetischen und dogmatischen Begriffen“ (Fritz Wagner) komponierte Ambrosius in diesen beiden wie auch den folgenden Strophen „ein dichtes“ und zugleich „dichterisches Bild“ (Wagner), in dem er die dogmatische Aussage zur Herkunft Jesu aus Gott, konkreter aus dem Geist Gottes, poetisch artikuliert, um im Folgenden die mariologische Motivik explizit aufzugreifen. In Strophe vier beschreibt er als Zeichen der Göttlichkeit Jesu die Jungfräulichkeit Marias und leitet mit dem letzten Vers, in dem er Maria als den Tempel Gottes bezeichnet, zum Höhepunkt des Heilsgeschehens über: der Geburt Jesu.
Diese setzt Ambrosius in Strophe 5 zunächst in enge Verbindung zu Psalm 19,5 – 6, um dann, in Anlehnung an Lukas, der Jesu Kommen mit dem aufgehenden Licht aus der Höhe gleichsetzt (Lk 1,78), dessen Eintritt in das Erdenleben mit dem Erscheinen der Sonne und ihrem Lauf zu veranschaulichen. Innerhalb der Sonnen-Metapher spielt er sinnfällig ein weiteres Mal auf die beiden Naturen Jesu, die göttliche und die menschliche an, und vertieft, dieses Bild erweiternd, die Betrachtung zu Jesu Geburt aus dem jungfräulichen Schoß Mariens. In enger Verbindung zur fünften Strophe ist die sechste zu sehen: Ambrosius bleibt in der Metaphorik des Sonnenkreislaufs und zeichnet, Psalm 19,7 folgend, den Lebensweg Jesu vergleichend nach. Gleichzeitig verdeutlicht er in diesen Versen die christologischen Aussagen des apostolischen Glaubensbekenntnisses, wie sie in ihrem Kern bereits in Johannes 16,28 formuliert wurden: „Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen. Ich verlasse die Welt wieder und gehe zurück zum Vater.“ Der Altphilologe Fritz Wagner verweist bei der Interpretation des Hymnus gerade auf die in dieser wie auch der sich anschließenden siebten Strophe rhetorisch meisterhaften Wortspiele, mit denen der Hymnen-Dichter Ambrosius seine theologischen Aussagen hervorhebt oder lautmalerisch unterstreicht.
5 Procedat e thalamo suo, Er ging aus seinem Brautgemach,
pudoris aula regia, aus der Königshalle der Scham,
geminae gigas substantiae, der Held von zweifachem Wesen,
alacris occurat viam. eifrig, seine Bahn zu eilen.
Dem Sonnenball schuf er (Gott) ein Zelt in ihnen (den Himmeln)
Der wie ein Bräutigam hervortritt aus seiner Kammer,
jauchzt wie ein Held, zu laufen die Bahn Psalm 19, 5/3 – 6
6 Egressus eius a patre, Sein Ausgang führt vom Vater,
regressus eius ad patrem, seine Heimkehr führt zum Vater,
excursus usque ad inferos, sein Abstieg bis zur Hölle,
recursus ad sedem dei. seine Rückkehr zu Gottes Thron.
Die göttliche Abstammung Christi nimmt er in Strophe 7 thematisch nochmals auf, indem er, gemäß dem nicäno-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis (381) das Dogma von Jesu Wesensgleichheit mit dem Vater betont (…eines Wesens mit dem Vater…). Wenn Ambrosius dann in den folgenden Zeilen das Heils- und Erlösungswerk Jesu für den Menschen gleichnishaft vorwegnimmt (… zu tragen des Fleisches Siegeszeichen = Kreuz und Auferstehung), so führt er die Gläubigen in der achten und letzten Strophe zum Anfang von Jesu Erdenleben zurück – zur Krippe.
7 Aequalis aeterno patri, Wesensgleich dem ew‘gen Vater,
carnis tropaeo accingere, zu tragen des Fleisches Siegeszeichen,
infirma nostri corporis die Schwachheit unseres Leibes
virtute firmans perpeti. mit immerwährender Kraft zu stärken.
8 Praesepe iam fulget tuum Schon erglänzt deine Krippe,
lumenque nox spirat novum, ein neues Licht haucht die Nacht aus,
quod nulla nox interpolet das keine Nacht auslösche/verdecke
fideque iugi luceat und in beständigem Glauben leuchte.
In dieser erkennt Ambrosius, bewegt von den ersten Zeilen des Johannesevangeliums (Joh.1, 4), welches Christus als das Leben und das Licht der Menschen verkündet, den Lichtglanz Gottes. Vor dem Hintergrund der antithetisch-johanneischen Lichtsymbolik entwickelte er die letzte Strophe seines Hymnus. So wird das Kind in der Krippe, das Licht, „das in der Finsternis scheint“ und von der „Finsternis…nicht ergriffen“ wird (Joh.1, 5), in Ambrosius‘ Worten zu einem „neuen Licht“, das die „Nacht aushaucht, das keine Nacht auslöschen möge.“ Die Strophe bildet den Höhepunkt des weihnachtlichen Hymnus und endet mit der eindrücklichen Bitte um das Licht des „beständigen Glaubens.“
Der Mailänder Bischof eröffnete mit seinem Hymnus den umfassenden schöpferischen Reigen der vielzähligen Advents- und Weihnachtslieder, welche die folgenden Epochen in einem Zeitbogen von mehr als 1600 Jahren hervorbrachten. Und nicht wenige Dichter nahmen wie er, sich an biblischen Texten orientierend, die reiche Sonnen- und Lichtmetaphorik für gerade die weihnachtlichen Gesänge auf. Ein lebendiges Beispiel dafür stellt rund zwölf Jahrhunderte später der evangelische Theologe und Choraldichter Paul Gerhardt dar. Doch dazu an einer anderen Stelle.
Nun komm der Heiden Heiland – Veni Redemptor Gentium
Luthers Choral
Bedeutsam für den deutschsprachigen Kirchengesang zu Advent und Weihnachten wurde, wie oben bereits erwähnt, vor allem dieser Hymnus der Alten Kirche. Zu besonderer Bedeutung verhalf ihm Martin Luther, der sich ihm 1523 widmete und durch seine überwiegend am ambrosianischen Original ausgerichtete Übersetzung einen der aussagestärksten Adventschoräle deutscher Sprache schuf.
Luther übernahm, auf die ambrosianische erste Strophe ebenso verzichtend, die vollständige Reimübertragung des Veni Redemptor Gentium. Mit ihr und der strengen Orientierung am originalen Text und seiner Botschaft brachte Luther seine hohe Achtung vor dem Hymnus des bedeutenden Kirchenvaters zum Ausdruck. Vom achtsilbigen Versmaß des Mailänder Bischofs wich er lediglich, in Anpassung an seine Sprache, durch Verminderung um eine Silbe je Zeile ab. Mit der Hinzufügung des trinitarischen Lobpreises, wie er im Mittelalter üblich wurde, gab Luther dem Hymnus eine achte Strophe zurück.
Nu kom der Heyden heyland /
der yungfrawen kynd erkannd.
Das sych wunnder alle welt /
Gott solch gepurt yhm bestelt.
Nicht von Mans blut noch von fleisch /
allein von dem heyligen geyst /
Ist Gottes wort worden eyn mensch /
vnd bluet eyn frucht weibs fleisch.
Der yungfraw leib schwanger ward /
doch bleib keuscheyt reyn beward
Leucht erfur manch tugend schon /
Gott da war yn seynem thron.
Er gieng aus der kamer seyn /
dem könglichen saal so reyn.
Gott von art vnd mensch eyn hellt /
seyn weg er zu lauffen eyllt.
Seyn laufft kam vom vatter her /
vnd keret wider zum vater.
Fur hyn vndtern zu der hell /
vnd wider zu Gottes stuel.
Der du bist dem vater gleich /
fur hynnaus den syeg ym fleisch /
das dein ewig gots gewalt /
ynn vnns das kranck fleysch enthallt.
Dein kryppen glentzt hell vnd klar /
die nacht gybt eyn new liecht dar /
tunckel muß nicht komen dreyn /
der glaub bleib ymer ym scheyn.
Lob sey Gott dem vatter thon /
Lob sey got seym eyngen son.
Lob sey got dem heyligen geyst /
ymer vnnd ynn ewigkeyt.
Nun komm der Heiden Heiland stellt eine der zahlreichen Übersetzungen lateinischer Hymnen Luthers dar. Sie bildeten einen zentralen programmatischen Aspekt seiner reformatorischen Ziele: die Gemeinde mit dem biblischen und kirchlichen Geschehen vertraut und ihr die entsprechenden Texte in der eigenen Sprache verständlich zu machen. Die Choralübersetzung zeugt von der kraftvollen, bilderreichen Sprache Martin Luthers, die heutige Überarbeitungen nicht immer erkennen lassen.
Der Choral erschien 1524 im Geistlichen Chorbüchlein (dem Enchiridion=Handbüchlein), dem ersten Evangelischen Chorgesangbuch, welches der Kantor und Komponist Johann Walter in Erfurt veröffentlichen ließ. Walter war ein enger Mitarbeiter Luthers und gilt als Begründer der evangelischen Kantorei. Im gleichen Jahr erschien das Adventslied auch im Wittenberger Gesangbüchlein.
Der sich im heutigen Evangelischen Gesangbuch findende Choral ist auf fünf Strophen gekürzt – er besteht aus den Strophen 1, 4, 5, 7 und 8 des originalen Lutherchorals – und ist sprachlich überarbeitet (EG 4).
- Nun komm, der Heiden Heiland,
der Jungfrauen Kind erkannt,
dass sich wunder alle Welt,
Gott solch Geburt ihm bestellt. - Er ging aus der Kammer sein,
dem königlichen Saal so rein,
Gott von Art und Mensch, ein Held;
sein’ Weg er zu laufen eilt.
3. Sein Lauf kam vom Vater her
und kehrt wieder zum Vater,
fuhr hinunter zu der Höll
und wieder zu Gottes Stuhl. - Dein Krippen glänzt hell und klar,
die Nacht gibt ein neu Licht dar.
Dunkel muss nicht kommen drein,
der Glaub bleib immer im Schein.
5. Lob sei Gott dem Vater g’tan;
Lob sei Gott seim ein’gen Sohn,
Lob sei Gott dem Heilgen Geist
immer und in Ewigkeit
Im katholischen Gotteslob steht der Choral unter der Nummer 227 mit Titel und Anfangszeile Komm, du Heiland aller Welt. Auch er, eine reimlose Neuübertragung des Ambrosius-Textes, die der evangelische Theologe Markus Jenny 1971 vornahm, wurde verkürzt. Jenny berücksichtigte die Strophen 1, 2, 4, 7 und 8 des Originalhymnus.
- Komm, du Heiland aller Welt.
Sohn der Jungfrau, mach dich kund.
Darob staune, was da lebt:
Also will Gott werden Mensch.
2. Wie die Sonne sich erhebt
und den Weg als Held durcheilt,
so erscheint er in der Welt,
wesenhaft ganz Gott und Mensch.
3. Glanz strahlt von der Krippe auf,
neues Licht entströmt der Nacht.
Nun obsiegt kein Dunkel mehr,
und der Glaube trägt das Licht.
4. Gott dem Vater Ehr und Preis
und dem Sohne Jesus Christ.
Lob sei Gott dem heil’gen Geist
jetzt und ewig. Amen.
Melodie
Ambrosius selbst hat der Überlieferung nach mindestens vier Melodien zu seinem Hymnus hinterlassen.
Für die beiden heutigen Liedübertragungen wählten die beiden Kirchen die Melodie, die schon Martin Luther übernommen hatte. Auf ihn geht jedoch die 1524 in Erfurt erschienene Gemeindefassung des Liedes zurück, die er wohl eigens für seinen Text schrieb. Die Melodie stammt aus dem Jahr 1120 und geht auf eine Handschrift des Benediktinerklosters Einsiedeln zurück. Vermutlich aber ist sie noch älter und wurde bereits um das Jahr 900 im Kloster St. Gallen im so genannten Ersten Kirchenton komponiert.
Musikalische Bearbeitungen
Nun komm der Heiden Heiland war über Jahrhunderte das lutherische Hauptlied des 1.Advents. Es wurde insbesondere in der Barockzeit für Orgel, Chor u.a. Besetzungen vielzählige Male künstlerisch bearbeitet und gestaltet. Ein Choralsatz von gehaltvoller musikalischer Tiefe und Ausdruckskraft ist jener, den der Meister des Frühbarock Heinrich Schütz 1636 schuf und der zu seinen „Kleinen Geistlichen Konzerten“ zählt. Der Choralsatz ist die für mein Empfinden schönste und virtuoseste Ausgestaltung des Lutherchorals vor Bach.
Johann Sebastian Bach komponierte rund 90 Jahre später über den Choral die Kantate Nun komm der Heiden Heiland (BWV 62), die er zum 1.Adventssonntag 1724 in Leipzig erstmals aufführte. Bereits zehn Jahre zuvor hatte er in Weimar die Choral-Kantate mit der ersten Luther-Strophe begonnen (BWV 61) und sie am 1.Advent in der dortigen Schlosskirche aufgeführt.
Die Kantate war gesanglich wie instrumental kleiner besetzt, als die spätere in Leipzig, die er mit vier Solisten, statt mit drei besetzte sowie die Violinen und Violen um Oboen und Horn erweiterte. Hierdurch erreichte er eine harmonisch-differenzierte Klangfülle und, vor allem durch das Horn, eine Verstärkung der Choralmelodie, welche die theologische Aussage des Textes ausdrucksvoll unterstreicht und Bach, wie schon Heinrich Schütz, als Meister einer großen Musik gleichsam zu Verkündern von Gottes Wort, zu Verkündern seiner frohen Botschaft macht.
Verwendete Literatur
Wagner, Fritz, „Veni redemptor gentium.“ Ein Weihnachtshymnus des Ambrosius von Mailand.
Seminar für Mittellateinische Philologie der Freien Universität Berlin in: Pegasus 2002, 3/1
Deissler, Alfons, Die Psalmen, Düsseldorf 1993
Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart 1999
Wikipedia-Artikel zu Advent, Nun komm der Heiden Heiland, Konzile von Nicäa, Ephesus, Joh. Sebastian Bach, Heinrich Schütz u.a.
Weber-Kellermann, Ingeborg, Das Buch der Weihnachtslieder. 151 deutsche Advents- und Weihnachtslieder. Kulturgeschichte, Noten, Texte, Bilder. TB 1998
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Zur Autorin: Studium der Kunst- und Kulturgeschichte und Romanistik (Italienisch) in Freiburg/Br., München, Rom