Ein Gastbeitrag von Naomi Seibt*
Es war nicht der erste Anschlag, der es in die Medien und in die direkte Sphäre meiner Aufmerksamkeit geschafft hat. Und es wird sicherlich auch nicht der Letzte gewesen sein.
Es ist anders, weil es meine Stadt ist. Dachte ich zumindest. Aber gleichzeitig realisiere ich nun, dass es das nicht tatsächlich greifbarer macht als all die Male zuvor und ich finde mich in einer seltsamen Situation wieder: Ich glaube wissen zu müssen, wie ich das Geschehene wahrnehmen soll. Schließlich ist es mir nun so nah. Aber die Brücke der Abstraktion scheint noch immer nicht überwunden zu sein. Objektiv betrachtet macht die geographische Nähe natürlich keinen Unterschied. Aber sie konfrontiert mich mit einer unbequemen Frage:
In welche Position müsste ich mich begeben, um die Katastrophe wirklich zu verstehen? Die eines Augenzeugen? Eines Angehörigen? Eines Opfers? Gibt es irgendeine Perspektive, die den gesamten Umfang der Schrecklichkeit absorbieren könnte? Und wäre ich als Mensch dazu in der Lage, die überwältigenden Eindrücke zu verarbeiten?
Nein. Ich befürchte, Menschen sind zu abgrundtief bösen Taten in der Lage, die sogar ihr eigenes Verständnis und Bewusstsein übersteigen.
Und uns wird ein Labyrinth an Fragen hinterlassen, über Moral, Verantwortung und die Unterscheidung zwischen angemessener rationaler und sentimentaler Reaktion. Ein Labyrinth, durch das wir uns alle irgendwie auf individuelle Weise bewegen müssen.
Besonders unmittelbar nach dem Anschlag empfand ich unter Anderem eine verstörende Leere.
Als habe ich einen Platz in meinem inneren emotionalen Theater freigeräumt, um der Trauer und dem Mitgefühl für die Opfer und Angehörigen den Raum zu geben, den sie benötigen, und nun stellte ich fest, dass ich nicht der Aufgabe gewachsen bin, abzuwägen, wie ich diesen Platz zu wählen und seine Größe zu bestimmen habe.
Ich könnte es nicht wagen, mir das Recht herauszunehmen, das geeignete Trauermaß zu bestimmen.
Wenigstens gibt es jetzt so etwas wie eine auf groteske Weise beruhigende Klarheit über die bedrückende Frage, die sich mir und vermutlich vielen Anderen auch immer wieder stellt: „Wäre so etwas hier auch möglich?“ Als sei das Universum die Fragerei leid, weil die Antwort doch so offensichtlich ist und wir sie eigentlich selbst alle wissen. Die Antwort ist „ja.“ Die Katastrophe ist real, bitteschön. Jetzt auch in deinem vertrauten Viertel um die Ecke.
Das klingt so pessimistisch. Aber das ist nicht meine Art.
Ich werde mein Leben gewiss nicht von andauernder Depression über Tragödien wie diese diktieren lassen.
Das Konstruktivste, was ich tun kann, so glaube ich, ist, meine persönliche Wertschätzung des Lebens zu re-evaluieren und mich bewusst anzustrengen, mit permanenter Sinnhaftigkeit zu leben.
♦ Wissbegierig zu bleiben.
♦ Stärker zu werden.
♦ Meine Familie und Freunde zu schätzen und es sie regelmäßig wissen zu lassen.
♦ Verantwortung für meine eigenen Fehler zu übernehmen.
Und was ist mit Trauer? Trauer ist durchaus angebracht – Schreiben ist meine Art, mit ihr umzugehen.
Es mag eine hyper-sentimentale Intuition sein, die uns dazu verleitet, zu glauben, unsere Gedanken an die Opfer als Unbetroffene seien von irgendeinem höheren Wert. Aber ich weiß auch, dass ich persönlich ungern ohne ein Gesicht aus dem Leben treten will. Nicht die Anzahl der Trauernden bestimmt den Wert der Verstorbenen, aber eine gewisse ehrliche Aufmerksamkeit für ihr Leben halte ich für einen wahrlich respektvollen Beitrag.
Ich bin kein Experte im Umgang mit dem emotionalen Chaos, in das wir nach jedem Anschlag geworfen werden. Es gibt kein Fazit oder weise Ratschläge, die ich vermitteln kann.
Ich werde versuchen, die Opfer und Angehörigen nicht in meine eigene sofortige Vergessenheit geraten zu lassen und mein Bestes geben, mit Respekt für meine eigene Existenz, meine Freiheiten und meine zahlreichen Möglichkeiten zu leben.
Das ist alles.
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*Zu der jungen Autorin, die in Münster aufgewachsen ist und lebt: Naomi Seibt
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