(David Berger) Am 14. Januar vor zwei Jahren starb der bekannte Philosoph Walter Hoeres in seiner Heimatstadt Frankfurt am Main. Hoeres, der über viele Jahre einer meiner geistigen Mentoren war, war nicht nur ein renommierter Philosoph, nicht nur einer der bedeutendsten christlichen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Mit einer ungewöhnlichen Schlagkraft mischte er sich auch in die großen Zeitfragen ein.
Er gehörte zu den regelmäßigen Mitarbeitern der “Zeitbühne“, „Sezession“ und von „Criticon“ sowie der von mir über fast ein Jahrzehnt als Chefredakteur betreuten Zeitschrift „Theologisches“.
Als überzeugter Konservativer und als Katholik, mit dem man sich fließend auf Latein unterhalten konnte, war ihm die modernistische und protestantisierende Aufweichung der Catholica, besonders ihres Gottesdienstes, ein Graus.
Kurz vor seinem Tod sprach Hoeres von den „düsteren, ja man möchte fast sagen dämonischen Zügen unserer Zeit“.
Aus Anlass seines einjährigen Todestages möchte ich hier an sein letztes großes philosophisches Werk „Wesenseinsicht und Transzendentalphilosophie“ .erinnern:
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Bereits 1992 berichtete die Internationale Zeitschrift „30Tage“ von einer an der Päpstlichen Eliteuniversität „Gregoriana“ durchgeführten Umfrage, die von den etwa tausend dort Theologie Studierenden wissen wollte, wen sie für den bedeutendsten Theologen der gesamten Kirchengeschichte hielten. Mehr als die Hälfte der Stimmen fiel allein auf den deutschen Jesuiten Karl Rahner. So verwundert es auch kaum, dass der Freiburger Wissenschaftshistoriker und Universitätsprofessor Hugo Ott etwas abfällig feststellen konnte, dass die Verehrung Karl Rahners in gewissen, auch einflussreichen Kreisen der katholischen Kirche in Deutschland „mitunter kultische Dimensionen erreicht.“
Dabei wird häufig übersehen, was bereits für den mit der Geistesgeschichte ein klein wenig Vertrauten selbstverständlich ist: Dass der Denkweg Karl Rahners von Beginn an von den verschiedensten Kritikern begleitet wurde. Interessant ist dabei allerdings, dass Rahner, wie sein Schüler Karl Lehmann (der spätere, zumeist unglücklich agierende Kardinal) schon bei seinem Dienstantritt als Assistent des Jesuiten im Jahre 1964 bedauerte, selten bereit war, sich dieser Kritik zu stellen.
Eine kritische Selbstreflexion scheiterte nach Lehmann vor allem daran, dass Rahner viele Gegenpositionen „geradezu absurd fand und darum nicht die geringste Lust hatte, darauf näher einzugehen.“
Eine der wenigen Ausnahmen bildet die Kritik, die der Philosoph Walter Hoeres an der transzendentalphilosophischen Erkenntnislehre Karl Rahners übte und die im Jahre 1962 zu einer kurzen, aber aufschlussreichen, unter anderem in der „Deutschen Tagespost“ geführten Kontroverse zwischen dem jungen Philosophen und dem inzwischen schon verhältnismäßig bekannten Jesuiten um die rechte Deutung der Erkenntnislehre des Thomas von Aquin führte.
Nach fast vierzig Jahren nahm Hoeres mit seiner letzten großen philosophischen Studie „Wesenseinsicht und Transzendentalphilosophie“ die damals disputierten Fragen wieder auf. Diese bildet gleichsam eine kleine Summe seiner über viele Jahrzehnte vertieften Kritik an der Transzendentalphilosophie neuthomistischer Prägung und damit nicht nur an Rahners Denken, sondern ebenso an dem seiner Mitbrüder aus dem Jesuitenorden, Emerich Coreth, Johann B. Lotz, Joseph Maréchal und Otto Muck.
Sehr deutlich, aber frei von aller Polemik gelingt es Hoeres in dem Buch zu zeigen, wie bei dieser sich selbst als Maréchalschule bezeichnenden Gruppe im Zentrum der Versuch steht, Kant gewissermaßen mit den Wassern des Thomismus zu taufen. Oder besser: es zumindest versuchen…
Als wichtigstes Hilfsmittel dient dabei der „Zauberstab“ einer Interpretation, die die Gegensätze durch den Nachweis zu überwinden antritt, dass deren zunächst widersprüchlicher Gehalt jeweils schon in der gegnerischen Position vorhanden und nur noch im Diskurs aufzuarbeiten ist. Besonders deutlich wird dies etwa dort, wo sie zu zeigen versucht, dass letztlich schon Thomas von Aquin genau das samenhaft gedacht hat, was bei Kant später, wirkungsvoll die gesamte Geschichte des Denkens verändernd, zur eigentlichen Frucht gereift ist. Denn gerade darin zeigt sich nach Rahner die Aktualität eines mittelalterlichen Denkers wie Thomas, dass er „am Anfang der Zeit steht, die heute noch unsere ist, dass er den noch halb verborgenen Anfang der Zeit bildet, die noch unsere Zeit ist: der Neuzeit“ (K. Rahner).
Ganz in diesem Kontext sucht Hoeres auch die Eigentümlichkeit der Erkenntnislehre der neuscholastischen Transzendentalphilosophie zu erklären. – Besonders ihr Bemühen, Erkenntnis gleichzeitig mit Thomas als schauende Hinnahme des Seins der Dinge und mit der Transzendentalphilosophie zugleich als setzende, tathafte Konstruktion des Gegenstandes zu verstehen.
Dieser nach Hoeres völlig verfehlte Versuch verdichtet sich gleichsam in dem selbst von Gustav Siewerth hart kritisierten kantianisierenden Apriorismus Maréchals, Lotz’ und Rahners: Erkennen ist für diese nur „Bestätigung eines schon vorhandenen Urwissens“. Es ist nur möglich, wenn es von einem apriorischen, unthematisch-unausdrücklichen und doch schon irgendwie inhaltlich gefüllten Urwissen um das Sein getragen ist. Erkennen ist dann nur das Reflexwerden des immer schon irgendwie Gewussten und das Urteil hat nur den Sinn, das so sichtbar Gewordene zu bekräftigen.
Der Einfluss Heideggers und seiner mit dem Vorgriff gegebenen unaussprechlichen „Vagheit“ und Ungegenständlichkeit des Seins ist hier ebenso deutlich zu spüren wie Husserls Lehre von der Horizontintentionalität. Die Theorie sucht aber ihrer Konzeption im Rahmen der katholischen Theologie auch dadurch Nachdruck und Autorität zu verleihen, dass sie behauptet, bereits Thomas habe Sein und Erkennen völlig zusammenfallen lassen und es sei daher gut thomistisch, die „Gelichtetheit des Seins“ als „Beisichsein“ zum Modell von Erkenntnis zu erheben.
Hier setzt dann auch die Kritik von Hoeres ein. Sie kommt dabei nicht ursprünglich vom Thomismus im strengen Sinne, etwa so wie bei anderen sehr bekannten Kritikern des Transzendentalthomismus (Bernhard Lakebrink, Cornelio Fabro u.a.). Vielmehr hat sie ihr Fundament in einer ganz eigenen Form einer christliche inspirierten Phänomenologie, die der festen Überzeugung ist, dass zahlreiche Denker des Hochmittelalters, unter ihnen auch der Doctor angelicus, gleichsam Phänomenologen „avant lettre“ waren und „durchaus schon die phänomenologische Methode, wenn auch unreflektiert, auf das Erkenntnisproblem angewandt haben.“
Extrahiert man bei Thomas nicht nur einzelne Sätze aus dem Zusammenhang, sondern bedenkt, gemäß den einfachsten und grundlegendsten Regeln der Hermeneutik, auch stets das Ganze, so wird sehr deutlich, wie der transzendentalthomistische Ansatz sich zuallererst einer Vernachlässigung der Spannweite der Analogie des Seins, der bekannten Lehre von der analogia entis, strafbar mach: die Identität von Sein und Erkennen, die Thomas völlig zurecht als das göttliche Erkennen auszeichnend lehrt (Sth I, 14, 4), darf nicht undifferenziert zum Modell von Erkenntnis überhaupt gemacht werden. Indem sie nicht genug zwischen göttlichem und menschlichen Sein und Erkennen unterscheidet, zeigt sich in der neuscholastischen Transzendentalphilosophie eine von der Philosophie weit in die Theologie hineinstrahlende dialektische Konfundierung von Gott und Mensch, die dem Aquinaten völlig fern gelegen hätte und die eher eine etwas verspätete Rezeption des deutschen Idealismus verrät.
Diese Verspätung scheint auch der wichtigste Grund für die Tatsache zu sein, dass die Konzeptionen der Maréchalschule lediglich in dem eng begrenzten Kreis einer im kirchlichen Kontext betriebenen Philosophie und später auch in der westeuropäischen und nordamerikanischen Theologie auf Resonanz stießen, vom breiten Strom der übrigen Philosophie aber überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder mit einem etwas mitleidigen Lächeln abgelehnt wurden.
Zugleich weist Hoeres auch immer wieder auf das Desinteresse hin, das Maréchal und Rahner am Phänomen des Erkennens und seiner Selbsterfahrung zeigen. Indem sie a priori von einer bestimmten theoretischen Spekulation von Erkennen als unumstößlichem Dogma ausgehen, um diese dann den Einzelphänomenen solange interpretierend überzustülpen bis von diesen selbst nichts mehr sichtbar ist, schaffen sie eine „totale Verfälschung der thomistischen Erkenntnislehre“, die sich gerade durch ihren nichtdogmatischen und daher typisch philosophischen Ansatz auszeichnet.
Hoeres nun geht in dem positiven Teil seiner Widerlegung der transzendentalthomistische Erkenntnislehre den genau umgekehrten Weg:
Von der allen zugänglichen Erfahrung der Erkenntnis als dem „Selbstverständlichsten von der Welt“. In ihr wissen wir, dass die Erkenntnis zunächst nichts anderes intendiert als die Wirklichkeit so zu entdecken, wie sie an und für sich ist. Ihr ist evident, dass alle Erkenntnis nichts anders ist als Anschauung, in der die Sache selbst unmittelbar gegenwärtig ist.
Erkenntnis ist erschauendes Empfangen dieser Gegenwart, Bestimmtwerden durch den Gegenstand, Hinnahme eines Offenbaren, eines anderen.
Daraus folgt dann, dass Anschauung, die neu entsteht, nur als Entdeckung des bisher Unbekannten möglich ist. Nur dann hat sie eigentlich Sinn und Dignität, nur so sind letztlich Phänomene verständlich wie die epistemische Neugierde des Menschen, von der die Psychologen sprechen, oder das Staunen, bei dem uns der blitzartige Überfall der Gegenwart des Gegenstandes bewusst wird. Damit ist für Hoeres auch klar, dass zum einen die Alternative „Erkennen als Entdecken“ oder als „Bestätigung eines schon vorhandenen Urwissens“ unüberbrückbar ist. Zum anderen, dass die Erkenntnislehre des Thomas ganz mit unserer Erfahrung der Phänomene oder – wie sein Würzburger Lehrer Hans Meyer immer wieder betont hat – dem gesunden Menschenverstand übereinstimmt. Dies zeigt sich etwa sehr deutlich an der aristotelisch-thomistischen Lehre, dass der aufnehmende Verstand (intellectus possibilis) mit einem leeren, unbeschriebenen Blatt (tabula rasa) verglichen werden kann (De anima 5c; De unit.intell. 4; Sth I, 79,2c) beziehungsweise an der daraus zu schließenden Indifferenz des Bewusstseins gegen das Wesen des Gegenstandes. Hier hat der fast schon sprichwörtlich gewordene thomistische Objektivismus seine erkenntnistheoretische Wurzel!
Intensiviert wird er von Hoeres noch durch seine Berufung auf Duns Scotus, zu dem der emeritierte Philosophieprofessor bereits eine Vielzahl international bekannter Forschungsarbeiten vorgelegt hat, und der nach ihm „die wirkliche Alternative“ zu Maréchal und auch Kant bildet: Der „wahre Gegensatz“ zu deren verfehlter Konzeption
„ist Erkenntnis als entdeckende Schau des von sich selbst her Offenbaren, das nach Scotus wegen seiner weitsichtigen, gestalthaften Einheit in einem einzigen Blick, also instantan erschaut werden kann.“
Hier wird die Verbindung der Erkenntnislehre hin zur Weisheitslehre und Schaulehre der Mystik deutlich: Zum einen, weil die transzendentalphilosophische Erkenntnislehre ganz dem Zeitgeist ihrer Entstehungszeit verhaftet am typisch neuzeitlichen Modell der Produktion eines Gegenstandes, also an einem „ganz ontisch mundanen Modell“ orientiert ist und so eine vom Blickpunkt der christlichen Mystik seltsame Aversion gegen die in sich ruhende Schau als „statischer Intuition“ (Maréchal) kultiviert.
Während die phänomenologische Fortführung der Scholastik gerade diese Schau in ihr Zentrum stellt und damit – wie der Autor in seinem letzten großen Werk, der phänomenologischen Anthropologie „Offenheit und Distanz“ (1993) breit ausgeführt hat – die philosophischen Grundlagen der christlichen Kontemplation schafft. Zum anderen, weil es nur die das Wesen der Erkenntnis bestimmende, radikal unvoreingenommene „Offenheit für die ungeheuren Möglichkeiten des Andersseins der Dinge“ ist, die den Beginn aller kritischen Weisheit bildet.
Weisheit aber ist, wie einer der großen Thomisten des 20. Jahrhunderts, Réginald Garrigou-Lagrange, immer wieder betont hat, aufs engste verbunden mit dem Sinn für das Geheimnis.
Und so schließt auch die Studie von Hoeres mit dem, jedem transzendentalphilosophischen Rationalismus zutiefst konträren Hinweis, dass die innere Möglichkeit des Zueinanders, das zwischen Erkenntnis und Gegenstand aufgrund der Inkommensurabilität der körperlichen und seelisch-geistigen Vorgänge besteht, letztlich geheimnisvoll und unbegriffen bleibt.
Eine Einsicht, die den großen Philosophen zeigt, der stest bescheiden und demütig, aber immer auch mit einem humorvollen Lächeln durch diese Welt ging.
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Walter Hoeres, Wesenseinsicht und Transzendentalphilosophie. Thomas von Aquin zwischen Rahner und Kant, Verlag Franz Schmitt: Siegburg 2001, 178 S., kart., DM 24,-, ISBN3-87710-255-7.
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