Sonntag, 22. Dezember 2024

Russland Safari – Kapitel 14 – Teil 2

Marko Wild

V

Zum dritten Mal an diesem Tag überquerten wir den Ob. Victor traf sich auf dem Parkplatz vom Hypermarket mit einem Mann. Ich blieb im Auto sitzen und stellte keine Fragen; dazu war ich auch zu erschöpft. Später erfuhr ich, dass Victor einen gebrauchten, billigen Lada suchte, an dem er seine neusten Benzinkreationen austesten wollte. Der Mann vom Parkplatz hatte einen. Doch die beiden konnten sich noch nicht über den Preis einigen. Ich hatte Victor gebeten, mit mir noch einmal zum Deutschen Haus zu fahren. Das war unser nächstes Ziel – das letzte für heute. Unterwegs fragte ich Victor, welches denn das höchste Gebäude von Nowosibirsk sei. „Hier gibt’s keine Kratz Wolke“, antwortete er. Auch keine schönen Gebäude. Alles sei nur noch da, um Geschäft zu machen: Baugrund kaufen, irgend einen sinnlosen Wohntum hinstellen und wieder verkaufen. „Alles sieht aus wie Kopie.“ In der Tat. Ralph hatte das ja auch schon bemängelt. Ich wollte wissen, ob er Nowosibirsk mochte. „Nein?“ erwiderte er ohne den Blick von der Straße zu lassen, und es klang wie eine Frage. Als wolle er sagen: wieso sollte ich Nowosibirsk mögen? Was für eine absurde Idee!

Im Deutschen Haus bat man uns nach oben ins Büro. Valerija würde gleich da sein. Als sie kam, hatte sie folgende Informationen für mich: Die Malerin würde einen Pries von 12.000 Rubel akzeptieren. Und da ich mich für Russlanddeutsche interessiere – es gäbe eine Erfassung aus dem Jahr 2010 mit der exakten Zahl aller noch in der Russischen Föderation lebenden Deutschstämmigen, geordnet nach den jeweiligen Verwaltungs-Gebieten. Man habe diese Liste zwar nicht, versuche aber, sie für mich aufzutreiben. Ich war gerührt. Aus Deutschland kannte ich solch eine vorauseilende Hilfbereitschaft nicht. Als ich Victor die Gemälde zeigte, war dieser nicht sonderlich beeindruckt und meinte, ich solle nicht zu schnell eines kaufen. Es gebe zig Möglichkeiten in Nowosibirsk, Kunst zu erwerben. Er selbst kenne ein oder zwei Leute, die eine Galerie betrieben. Er würde versuchen, diese für mich anzurufen. Besser wäre es, wenn ich mir zunächst dort ein paar Bilder ansähe; da wären bestimmt noch viel schönere als diese hier dabei. Ich war einverstanden und teilte Valerija mit, dass ich noch einmal über die Entscheidung schlafen wolle, mich aber unbedingt wieder bei ihr melden würde. Überhaupt kein Problem. Alles ganz entspannt und freundlich.

Im Foyer lag eine zweisprachige Zeitung aus: die „Sibirische Zeitung plus“, bestehend aus 8 Seiten, in Vierfarbdruck auf dickem, großformatigen Papier. Der auf der ersten Innenseite abgelichtete, junge Chefredakteur war eben jener Journalist, der sich bei meinem gestrigen Besuch mit mir hatte fotografieren lassen. Offenbar entstand die Zeitung in enger Kooperation mit dem Deutschen Haus. Es handelte sich dabei um eine Art Lokal- und Ankündigungsblatt für die Deutschstämmigen. Die Berichte waren wenig abwechslungsreich, handelten überwiegend von Kulturveranstaltungen mit Kindern oder im Altersheim, Ehrungen, Überreichungen, Treffen mit Delegationen, Ansprachen oder traditionellen Tanzdarbietungen junger Trachten-Mädchen mit Blumenkranz im Haar. Der Inhalt war zu 80 Prozent in Russisch gehalten; deutsche Texte behandelten fast ausschließlich religiöse Themen. Beispielsweise wurde das Pfingstfest erklärt. Diese waren jedoch so dilettantisch aufbereitet, dass es mir in der Seele weh tat. Jemand hatte sie ganz offenbar aus dem Internet zusammenkopiert, wobei manche Abschnitte sich mehrfach wiederholten, was anscheinend keinem aufgefallen war und den Schluss nahelegte, dass es um die Deutschkenntnisse der Zeitungsmacher nicht sonderlich gut bestellt war. Ich nahm ein paar Exemplare mit.

Victor und ich fuhren zum vierten und letzten Mal an diesem Tag über den Ob. Doch antstatt nach Hause zu fahren, kehrte Victor noch bei zwei Bekannten ein, die ebenfalls am Obufer wohnten. Ihr kleines Grundstück hatten sie ganz nett hergerichtet. Im Garten stand ein achteckiger Pavillon. Man lud uns auf einen Wein ein, den der Hausherr selbst gemacht hatte. Der Wein schmeckte wie ein Bittermittel. Man musste schon sehr hartgesotten sein, um ihn ohne entgleisende Gesichtszüge, ohne Würgen und Schütteln hinunter zu schlucken. Ich nippte Ewigkeiten an meinem Glas. Jedem Schlückchen ging eine mentale Mobilmachung voraus. Victor hingegen lobte den Wein, ließ sich sogar noch einmal nachschenken und bereitete damit dem Winzer und seiner Frau eine sichtbare Freude. Bei den beiden zu Gast war auch ein Freund, der ein wenig Englisch sprach und mir erzählte, er habe bald Urlaub. Der sehe so aus, dass er mit dem Rad bis nach Kasachstan und wieder zurück fahren würde. Siebenhundert Kilometer eine Strecke. Zehn Tage unterwegs für alles. Eine sehr einsame Tour. Aber wunderschön. Jener Pjotr, der in Armeehose und schiefem Baseball-Mützchen so überhaupt gar nicht wie ein deutscher Mega-Hi-End-GoPro-Space-Biker aussah, sondern wie ein ganz normaler Mensch, gefiel mir außerordentlich. Abenteurer gibt es überall.

Der Hausherr und seine Frau hatten sich offenbar schon länger warm getrunken. Er glühte im Gesicht wie Osram, war aber noch ansprechbar. Sie jedoch war völlig hinüber. So sehr man uns zum Bleiben drängte, so froh war ich denn auch, als wir uns endlich verabschiedeten. Victor teilte mir hinterher mit, worum es im Gespräch gegangen war: der Mann sei ein Verwandter von ihm, ein Cousin. Er wäre momentan wieder einmal arbeitslos wollte von Victor Hilfe – entweder in Form von Geld oder eines Jobs. Victor ärgerte sich über ihn, weil der Cousin lieber trinken und deshalb regelmäßig jeden Job verlieren würde. Er, Victor, hätte ihm schon oft geholfen. Es habe jedoch alles nichts gezählt. Und seinen Rat, sich selbstständig zu machen und beispielsweise auch Diesel zu fahren, wollte der Cousin nicht annehmen. Er fürchtete sich davor und führte Bedenken über Bedenken ins Feld. Im Endeffekt war der Cousin laut Victor jemand, der sich selbst aufgegeben hatte und seine Verwandtschaft zu Victor missbrauchte, um an Geld und Hilfe zu kommen.

Nach diesem Besuch hielten wir kurz an einem Dorf-Konsum. Victor kaufte ein paar Lebensmittel. Auch in dieser „Straße“ torkelte uns mindestens ein Betrunkener entgegen. Victor schüttelte den Kopf. Und doch sah ich sein Mitgefühl. Er kannte diese Leute. Und er wusste, wie es dazu kam, dass sie tranken. Victors Meinung nach war hauptsächlich die Verzagtheit gegenüber dem Leben Schuld am Trinken. Victor selbst war aus einem anderen Holz geschnitzt. Einem ganz besonderen Holz…: Nach dem Konsum sahen wir ein paar Kinder, die mit dem Rad um die Ecke flitzten, in den nächsten Sandweg. Victors lächelte, als er sie erblickte. Er sagte: „Ich weiß genau, wie das war, als ich Radfahren lernte. Herrlich!“

Was Victor so besonders machte, war sein unverfälschter Zugang zu sich selbst und zur Welt. In dieser Hinsicht war Victor einer der gesündesten Menschen, die ich je kennen gelernt habe. Er war 16 Jahre älter und hatte mehr gesehen, als ich. Und doch verband uns beide manches. Die Erwachsenenwelt hatte uns nicht vollends verschlungen. Das Leben war nicht nur Pflicht und Arbeit. Es war immer auch noch Traum und Sehnsucht. Und ganz kindliche Begeisterung. Als Victor die Kinder sah, wie sie in den staubigen, sandigen Wegen der Siedlung Rad fuhren, konnte er sofort die Erinnerung an seine ersten Gehversuche auf dem Rad abrufen. Sie war kein bisschen verschüttet. Keine Mauer, kein verhinderndes Trauma, durch das sich erst ein Psychiater hätte durchwühlen musste. Victors Erinnerungen waren wie aufgereihte Perlen an einer Schnur und jede einzelne konnte er jederzeit betrachten und etwas Wunderbares daran finden. Bein Radfahren Lernen war es der gewaltige Schritt in eine neue Dimension. Der Triumph darüber, nie wieder in die kleinere Welt des Nicht-Radfahren-Könnens zurück zu müssen, aus der er schlagartig und für immer hinausgestürmt war in die neue Freiheit der doppelt oder dreifach so schnellen Fortbewegung. „Jeder Schritt war ein Erlebnis“, kommentierte er die radfahrenden Kinder, und seine Augen leuchteten mit einer verträumten Freude darüber, dass er in seinem Leben selbst so eine grandiose Erfahrung hatte machen dürfen. Ein Schmetterling mit weißen Flügeln kreuzte flatternd unseren Weg. „Schau mal, wie schön“, sagte er. Victor scherzte – ganz gleich, ob sein Gegenüber arm oder reich war. Besonders aber mit Kindern, an denen er nie vorbei ging, ohne ein freundliches Wort an sie zu richten. Er half, wo immer er konnte, war großzügig, ohne sich ausnutzen zu lassen und alles schien bei ihm direkt aus dem Herzen zu kommen.

Einmal hatte mir unbedingt ein Lied vorspielen wollen, das er sich extra auf CD gebrannt hatte. Ein Lied, welches ihn an die fröhlichsten Zeiten seiner Jugend erinnerte, als er gerade sein erstes Auto gehabt und darin seine erste Freundin herumgefahren hatte. Er fand die CD nicht, meinte aber, das Stück hieße „Sing a Song“. Auch wenn Victor das Jahr 1972 nannte (sich aber nicht mehr genau erinnerte), kann es sich dabei eigentlich nur um eine Nummer von Earth, Wind & Fire aus dem Jahr 1976 gehandelt haben. Denn 1972 war Victor noch zu jung gewesen, um schon Auto fahren zu dürfen. Ob es im sowjetischen Radio kam oder er es auf Kassette hatte, weiß ich nicht. Auf alle Fälle versuchte er mir dieses Lied vorzusingen, um mir zu demonstrieren, welche Glücksgefühle es damals bei ihm und seiner Freundin ausgelöst hatte. In solchen Momenten war Victor wahnsinnig ansteckend und mitreißend. Wenn ich Sing a Song von Earth Wind & Fire heute anhöre und mir dazu vorstelle, wie ein russischer Junge 1976 mit einem alten Wolga und seiner ersten Freundin euphorisch durch Nowosibirsk brauste, kann ich nicht anders, als zu grinsen, mich mit ihm an diesem verrückten Leben zu freuen und dankbar für unsere Begegnung zu sein.

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Der Ausflug in die Stadt hatte mich erschöpft. Wie gut, endlich wieder an der kleinen Hütte anzukommen. Berta sprang, als Victor ins Grundstück fuhr, auf, stürmte auf die Wiese und vertrieb bellend einen Vogel. „Kuck mal“, lächelte Victor, „sie will zeigen, dass sie aufpasst. Ganzen Tag liegt sie faul vor Haus, und wenn ich komme, sie immer tut so, als wäre sie Wachhund.“ Er stieg aus und rief „Guter Hund, Bjerta, guter Hund! Ganz braver Wachhund! Ja, du kannst gut Vögel fangen, nicht wahr, gefährliche Vögel, müssen wir Vögel vertreiben, ja? Ja?“ Und dabei wuschelte er ihr den Hals, denn sie war zu ihm hingelaufen, um ihn zu begrüßen. „Heute geht schon besser mit Bjerta“, meinte er zu mir. Und zwinkerte wie ein Arzt, dessen Patient deutliche Fortschritte gemacht hat.

VI

Ich war noch keine 24 Stunden bei Victor, doch er war schon jetzt meine größte „Bereicherung“. Zum ersten Mal in Russland fühlte ich mich entspannt und völlig sicher. Die Entspannung allerdings sollte, was ich noch nicht ahnen konnte, eine jähe Unterbrechung erfahren, denn Victor schürte die Sauna an. Die stand neben dem Toilettenhäuschen und war ebenfalls noch nicht ganz vollendet. Fröhlich zeigte er mir sein Birkenreisig. Zum Auspeitschen. Ich nahm erst einmal an, dass ich dem schon irgendwie gewachsen sein würde. Bisschen Birkenreisig – das wäre ja gelacht. Hätte ich gewusst, was mir bevorstand…

Schon im kleinen Vorraum der Sauna, in der wir uns unserer Hosen entledigten, spürte ich, dass das hier keine Wärme wie normalerweis in einer Sauna war. Victor gab mir eine spitze Filzmütze; die würde ich brauchen. Er selbst setzte ebenfalls eine auf. Wir öffneten die Tür, ein kurzer Blick auf das Thermometer, und meine dumpfe, sorgenvolle Ahnung wurde bestätigt: der Zeiger stand zwischen 115 und 120 Grad. Noch war es trocken. Doch schon diese Luft nahm mir fast den Atem. Victor hieß mich, oben Platz zu nehmen und sagte „Normalerweis muss aufgießen mit Spezial-Aufguss. Aber habe ich leider keine. Nehm ich bisschen Bier. Funkzaniert auch.“ „Funkzaniert“ war eines von Victors Lieblingsworten. Er favorisierte alles, was funkzanierte. Egal auf welche Weise es das tat. Victor mischte also Bier mit Wasser und goss auf. Erster Eindruck: Der Hefegeruch war unheimlich lecker und verwandelte die Sauna in eine frische Backstube. Ich kann diesen Aufguss aus olfaktorischer Sicht nur empfehlen.

Zweiter Eindruck, der sich ungefähr nach fünf Sekunden einstellte: Ich bin in der Hölle und werde gebraten. Ich nahm einen der letzten nicht ganz so feuchten Atemzüge und hielt für eine Weile die Luft an, weil ich befürchtete, die Besinnung zu verlieren, wenn ich den Dampf weiter voll einatmete. Victor fragte: „Und? Geht?“

Ich nickte, ließ ein wenig Atem ab und sagte gepresst „Ja“.

Die heiße Feuchtigkeit wollte mich ersticken. Victor begann zu schnaufen, sich offenbar sauwohl zu fühlen und zu erzählen. Das Wasser lief uns in Strömen herab. Ich hoffte, Victor würde es dabei belassen, doch nein: Er goss noch einmal auf. Nun sog ich mir extra schon ein wenig eher die Lungen voll, jedoch: Der heiße Dampf war auch von außen ein Feind. Ein Tier, das mir seine Krallen in die Haut schlug und sie mir in Fetzen herunterreißen wollte. Ich stöhnte. Bitte lass mich das durchhalten. Bitte keinen Kollaps, betete ich. Der Hypochonder in mir begann fieberhaft alle möglichen Todesszenarien durchzuspielen: Herzinfarkt, geplatzte Ader im Hirn, Kreislaufzusammenbruch. Ich hörte tief in mich hinein und sondierte nach Warnsignalen meines Körpers und Kreislaufes.

Victor goss zum dritten Mal auf. Dazu war ich zu schwach. Panik übermannte mich. Ich stürzte aus der Sauna – Luft. Freiheit! Ich lebte noch. Halleluja!

Victor ließ sich Zeit. Nach einer Weile kam auch er heraus.

„Wenn es dir zu viel wird, musst du heraus gehen. Kein Problem. Nimm keine Rücksicht auf mich“. Sprachs, und ging zu einer Regentonne, aus der er erst mich und dann sich selbst mit eiskaltem Wasser übergoss. Das war gut. Wahnsinnig gut…!

Wir nahmen in den Campingstühlen Platz und entspannten eine Weile. Bis die Mücken kamen. Also nicht besonders lange. Zeit für Runde zwei. Diesmal hielt ich nur zwei Aufgüsse durch. Allerdings war es nicht mehr ganz so heiß – nur noch 110 Grad.

In Runde drei kam das Birkenreisig dran. Victor war – jedenfalls gab er sich so – ein Meister der Behandlung. Ich hatte keine Chance, musste gehorchen, mich hinlegen und alles geschehen lassen. Zunächst strich er mir mit dem Reisig kraftvoll die Beine, die Arme und das Gesicht ab. „Halte deinen Schwanz zu“, gebot er. Dann peitschte er mit dem nass gewordenen Reisig los. Nicht zart. Nicht vorsichtig. Sondern so, dass es auch ohne Sauna ein regelrechtes Verdreschen gewesen wäre. Ich hielt die Luft an und versuchte, von innen eine Art Gegendruck aufzubauen. Entspannend war das ganz und gar nicht. Dann kam die Rückseite dran. Doch vorher goss Victor noch einmal auf. Im Stehen bearbeitete er mich, und ich, der ich bereits wieder kurz vor der Besinnungslosigkeit stand, stöhnte „Victor … bitte …“

Victor peitschte und keuchte: „Es! ist! für uns beide! nicht leicht!“ Das glaubte ich ihm auf’s Wort. Doch ich konnte nicht mehr. Das war ich nicht gewohnt. Ich stürzte hinaus. Finito. Ende. Aus. Vorbei.

Victor kam hinterher und übergoss mich mit Regenwasser, übergoss sich selbst, keuchte, schnaufte, prustete. Dann sagte er „110 schaffe ich jetzt auch nicht mehr.“ Bei 100 Grad ging er zum vierten Mal rein und peitschte sich selbst aus. Von draußen hörte ich, wie es drinnen klatschte. Sauna war für Victor anscheinend Leistungssport.

A propos Leistungssport: An der Wand in Victors Hütte hingen ein paar Bilder, großformatige Fotografien von Ice-Speedway-Fahrern. Diesen Sport hatte Victor bis Ende der 1980er betrieben. Eigenen Angaben zufolge war er einmal Vierter oder Fünfter bei Weltmeisterschaften gewesen. Da diese Wettkämpfe oft in Deutschland ausgetragen wurden, hatten sich Kontakte zu deutschen Sportlern ergeben. Einige von ihnen gehören heute noch zu Victors Freunden. Er selbst hatte nach der Wende einige Zeit lang in Deutschland gelebt und besaß ein Haus in den Bayerischen Voralpen, in dem seine geschiedene Frau immer noch wohnte. Diese arbeitete als Krankenschwester; sie könne und wolle nicht mehr ohne die Berechenbarkeit, die ihr der mäßig bezahlte, aber sichere deutsche Job biete. Ein Leben mit Victor, voller Unsicherheiten und Risiken würde sie nicht mehr aushalten.

Nach der Sauna widmeten wir uns dem Abendessen. Am Tisch, in der Hütte, bereitete ich Tomatensalat zu – mit Balsamico-Essig und Öl aus meiner Reise-Küche (Victor kannte das nicht und fand den Geschmack ausgezeichnet), während er Bratkartoffeln mit Ei machte. Anschließend setzten wir uns wieder raus an den Campingtisch. Vor dem Essen musste ich noch etwas klären:

„Aber bitte keinen Schnaps heute.“

„Nein, kein Schnaps“, blinzelte er verschmitzt. „Nur Wodka.“

Es ging nicht anders: Ein Gläschen war Pflicht. Am Ende wurden es zwei oder drei. Dann hatte er Erbarmen mit mir. Dazu gab es eiskaltes Efes Pilsener aus der Türkei. Kein schlechtes Bier. Es begann der gemütliche Teil des Abends. Ich wollte gern Genaueres über Victors Gefängniszeit wissen. Wie es dazu gekommen und wie es im Gefängnis gewesen war.

VII

Victor erzählte.

„Gibt’s eine Sprichwort: in Russland kein Problem, viel Geld zu verdienen. Problem ist, Geld zu behalten. Ja? Gibt’s immer jemanden, der dein Geld will, wenn du hast viel verdient. Ich hatte eine Firma damals. Gibt’s nicht viele Schuhe in Russland. Alles wird von Ausland importiert. Ich stellte Schuhe her. Leder gekauft in Brasilien, oft hingeflogen, auch viel in Deutschland zu tun gehabt. War schön. Haben viele Schuhe verkauft. Hatte ich einen Partner und haben ein bisschen Geld in die Schweiz geschafft. Weil russische Staat ist wie Mafia. Will dir alles wegnehmen. Irgendwann brauchte ich Geld und wollte etwas aus Schweiz holen. Doch mein Partner hat mich verpfiffen. Haben sie mich mit Einsatzkommando am Flughafen festgenommen. Wie Schwerverbrecher. Acht Jahre Gefängnis. Die schlimmste Zeit meines Lebens. Schrecklich. Auch Ehe kaputt deswegen. Viele drehen durch. Aber ich habe überlebt, weil ich von Anfang an mir geschworen hatte: du kommst wieder raus hier. Und jetzt ich habe geschworen: ich gehe nie wieder zurück in Gefängnis. Wer nicht drin war, hat keine Ahnung, wie schlimm es ist.“

Ich meinte, mit der richtigen Einstellung sei es vielleicht sogar im Gefängnis möglich, innerlich „frei“ zu bleiben. Etwa im Gegensatz zur inneren Unfreiheit durch beispielsweise Schulden.

„Nein“, widersprach Victor, „im Gefängnis unmöglich, innerlich „Freiheit“ zu bewahren. Und zwar nicht wegen Eingesperrt sein, sondern weil man kann nie entspannen. Immer man muss ganz aufmerksam sein, jedes Wort muss einhundert Prazent genau überlegen, jede Bewegung muss vorsichtig sein, nichts darf pravazieren. Nicht Wärter, sondern andere Gefangene!“ Es gebe, fuhr er fort, im Gefängnis drei „Kasten“.

Erstens: die Verbrecher, die sich als Verbrecher geben und auch stolz darauf sind, die es richtig heraus kehrten. Victor meinte, im echten Leben seien solche Leute „wie Behinderte“, nicht in der Lage auch nur eine einzige Kopeke auf normalem Wege zu verdienen (sehr lustige Demonstration von ihm zu „wie Behinderte“), aber im Gefängnis würden sie auf großen Macker machen (er verballhornte sie und ging gebückt und breitarmg wie ein Gorilla). Diese Leute seien im Gefängnis die Bosse.

Zweite Kaste:

Sogenannte „Verbrecher“, die sich aber normal benehmen, die für etwas verknackt worden waren, das andere auch tun – etwa die Regierung. Die dafür aber nicht belangt wird. Was Victor als große Ungerechtigkeit empfand und der Hauptgrund dafür war, dass er Putin als Feind empfand. Zu dieser zweiten Kaste zählte er sich. Diese Leute würden im Gefängnis die normalen Arbeiten verrichten müssen.

Dritte Kaste:

„Menschen, was ist Schrott, was ist nix wert.“

Diese müssten immer die niedrigsten Arbeiten ausführen (Scheiße wegputzen), werden von allen „gefickt“ – symbolisch wie wörtlich. Victor erzählte, es wäre zum Beispiel schon entscheidend gewesen, wie er sich gebückt hätte, wenn er sich einen Schuh zubinden wollte. Stand er mit dem Hintern nicht zur Wand, riskierte er, von einem der Bosse, von hinten … nun ja …

Victor meinte, Russland sei ein „Land für Räuber“. Jeder vierte russische Mann säße irgendwann einmal im Gefängnis. „Jede Vierte! Kannst du vorstellen! Gibt’s eine Sprichwort: Russland das ist Land, wo ist schwer, nicht zum Gefängnis zu kommen.“

Victor bezeichnete Putin als einen der reichsten Menschen der Welt, nannte die Zahl 148 Milliarden Dollar Privatvermögen, sagte, dass Putin selbst einer der größten Oligarchen Russlands sei, Chef der Konzerngruppe Ozero, Mitinhaber von Gazprom und Besitzer von Rosneft.

„Russland unter Putin ist gut für kleine Leute, die wollen Sicherheit. Wie eine Sowjetunion mit besseren Sozialleistungen. Ist aber schlecht für Leute, die was Unternehmerische sind, die was schaffen wollen, was aufbauen.“

Doch Victor war clever, hatte Kampfgeist und ein Ziel. Als er vor sechs Jahren aus dem Gefängnis entlassen worden war, hatte er noch 180 Rubel besessen – nicht mal 5 Euro. Er hatte sich Geld geborgt, einen gebrauchten Tanklaster gekauft, Diesel günstig bei den Raffinerien aufge- und dann zunächst an Tankstellen weiter verkauft. Er hatte gearbeitet wie ein Irrer, die Schulden abgezahlt, und war heute wieder unabhängig. Alles für sein großes Ziel: die Jacht. Den Segelschein hat er in Kroatien gemacht. Für 1000 Euro. Solle ich auch machen, meinte er. Günstiger bekäme man ihn kaum. Eine Jacht wollte er gebraucht in Griechenland kaufen. Im Herbst soll es losgehen. Raus aus Russland, weg, in die Freiheit, auf’s Meer.

Wir gingen rein. Zu viele Mücken.

Auf einem Sims lagen Jacht-Prospekte herum. „Schau mal, welche würdest du nehmen?“, fragte er. Wie zwei Kinder blätterten wir die Hochglanzbroschüren mit Victors abgebildeten Träumen durch, wogen ab, 12 Meter? 14 Meter? Victor begeisterte sich an dem Gedanken, „seine“ Touristen nicht nur tagsüber auf dem Mittelmeer herumfahren zu können, sondern auch am Abend zu unterhalten. Etwa, indem er ihnen Lieder vorspiele. „Hol doch mal deine Gitarre“, bat er. Ich spielte wieder Yesterday. Victor war entzückt, und steuerte dann selbst ein trauriges, russisches Lied bei. Das Lied rührte etwas in mir; ich starrte aus dem Raum in jenen anderen mit Victors Bett, in dem auf einem Regal als eines der wenigen Bücher eine russische Bibel mit goldener, kyrillischer Schrift stand.

„Weißt du“, sagte er, als er fertig war und meinem Blick folgte, „ich glaube an Gott. Ich weiß, dass ich schlechte Sache gemacht habe. Aber ich weiß, dass er mir vergibt. Das hat mir auch Kraft gegeben, Gefängnis zu überstehen.“

„Ich habe schon gesehen, dass über deinem Bett eine Bibel steht. Ich glaube auch an Gott“, bemerkte ich. Man musste in diesen Dingen heutzutage ja vorsichtig sein.

Victor lächelte. „Ja. Ich mir schon gedacht habe. Ich glaube seit dreißig Jahren an Gott. Und ich habe auch Wunder erlebt. Wirkliche Wunder. Ich erzähle dir. Andere würde bestimmt lachen und nicht glauben.“

„Ich lache nicht.“

Victor machte eine bedeutungsvolle Pause und beugte sich dann leicht zu mir. „Im Gefängnis es war verboten, Ketten, Schmuck oder Uhren zu tragen. Ich hatte mir eine Schnur mit ein kleines Kreuz aus Aluminium gemacht. Einmal ich sitze zusammen mit einem christlichen Mann und einem muslimischen Mann. Christlicher Mann rechts, muslimischer 90 Grad links von mir. Wir sitzen zusammen und reden über Gott. Die Bosse aus erster Kaste sitzen hinter uns und bläfften herum: Ey! Eeeey! Ich beuge mich im Gespräch nach vorn, und mein Sträflingshemd war schon ganz zerrissen. Da rutscht mein Kreuz heraus und baumelt herum. Der christliche und der muslimische Mann schaune beide mit grosse Augen und sagen ‚Victor, dein Kreuz leuchtet!‘ So ein blau-weißer Schein. Aber ich habe mich nicht getraut, hinzusehen, weil Angst hatte, dass ich das Leuchten nicht sehe. Ich nehme Kreuz nur kurz in die Hand, küsse es und stecke es wieder unter das Hemd. Wir redeten weiter. Kurz darauf mein Kreuz schlüpfte noch zweites Mal aus Hemd und wieder sagen der christliche und der muslimische Mann, ‚Victor, dein Kreuz leuchtet!‘ Wieder ich hatte Angst, hinzusehen. Ich küsse Kreuz noch einmal und stecke es wieder unter das Hemd. Aber von da an ich wusste, dass Gott mit mir war in dieser schweren Situation.“

Victors Offenheit war frappierend. Ich wollte etwas Angemessenes antworten und sagte, ich hätte einmal gelesen, alles, was in der Bibel zwei Mal betont würde, wäre von besonderer Bedeutung. Wahrlich, wahrlich, ich sage Euch sei also eindringlicher gemeint, als Wahrlich ich sage Euch. So gesehen könne es schon als starker Hinweis verstanden werden, dass das Kreuz zwei Mal, und nicht nur ein Mal geleuchtet habe. Victor sah mich mit einem eigentümlichen Blick an. Dann sagte er: „Danke.“

Ich verabschiedete mich etwas früher, denn Victor hatte mir angeboten, auf seinem Tablet-PC ins Internet gehen zu können. So setzte ich mich in die Küche in Sergejs Wochenend-Haus, schrieb einige Mails und suchte nach Adressen und Anfahrt meiner morgigen Ziele.

In dieser Nacht hatte ich einen Traum. Ich war im Altai. Die Straße führte über eine Art Hochebene, die am Ende steil abfiel. Das Land darunter lag vielleicht 1000 Meter tiefer. Vor dem Abhang endete die Straße in einem Wendeplatz. Rechts der Ebene erhoben sich steile Bergflanken 1000 Meter hoch in den Himmel. Doch alles war grün, voller Gras und bewaldet. Kein nackter Fels. Ich parkte den Bus am Wendeplatz und ging zurück bis an den Fuß der Berghänge. Unterwegs spielte ich auf meiner Gitarre ein Lied, das zu einer Art sinfonischer Filmmusik anwuchs und die ganze Szenerie durchdrang. Als wären sie von der Musik gerufen worden, kamen sämtliche Tiere des Altai aus den Wäldern des Berghanges auf die offenen Almen und schritten würdevoll in einer langen Reihe hintereinander her. Vorneweg ein Hirsch mit riesigem Geweih, dann Rehe, Steinböcke, Wiesel, Dachs, Marder, Pferde, Wölfe, Füchse, Bären, Schneeleopard, Wildschaf, Elch, Hase, Murmeltier … Sie kamen aus großer Entfernung den Berg herunter direkt auf mich zugelaufen und ich – als wolle ich sie in Empfang nehmen – wandte mich um, ging, Musik spielend, voran und alle Tiere zogen gleich einer Prozession hinter mir her.

Es dämmerte. Ich schlug die Augen auf. Die Musik klang immer noch in meinem Kopf. Neue, noch nie dagewesene Musik. Schnell nahm ich Melodie und Akkordfolge mit meinem Notebook auf. Früher, als ich noch in einer Band gespielt hatte, war mir das immer wieder so ergangen: ich träumte Musik, wachte auf und brauchte sie nur noch festzuhalten. Doch das lag nun schon einige Jahre zurück. Das Musikmachen fehlte mir. Sollte doch noch nicht alles vorbei sein – mit der Musik und mir? War auch das ein Zeichen, wie Victors leuchtendes Kreuz? Nachdem ich die Musik aufgenommen hatte, legte ich mich hin und schlief glücklich bis zum Morgen.

David Berger
David Bergerhttps://philosophia-perennis.com/
David Berger (Jg. 1968) war nach Promotion (Dr. phil.) und Habilitation (Dr. theol.) viele Jahre Professor im Vatikan. 2010 Outing: Es erscheint das zum Bestseller werdende Buch "Der heilige Schein". Anschließend zwei Jahre Chefredakteur eines Gay-Magazins, Rauswurf wegen zu offener Islamkritik. Seit 2016 Blogger (philosophia-perennis) und freier Journalist (u.a. für die Die Zeit, Junge Freiheit, The European).

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