Ein Gastbeitrag von Frank Jordan
April 2017 – Im Rahmen seines World Economic Outlook widmet der Internationale Währungsfonds IWF dem Thema „Ungleichheit“ ganze 50 Seiten. Grob und in Kürze: Unter Ungleichheit wird hier in erster Linie der kleiner werdenden Lohnanteil am Gesamteinkommen der Volkswirtschaften (der IWF nennt es in Volksmärchenmanier „Volksvermögen“) verstanden. Der Befund: Lohnanteile verringern sich, Kapitalerträge erhöhen sich. Resultat: Ungleichheit. Der Bericht hat den Anspruch, „langfristige strukturelle Veränderungen“ zu untersuchen (Zeitrahmen 1991 bis 2014), während „temporäre konjunkturelle Entwicklungen“ aussen vor gelassen werden.
Die Hälfte der Schuld an der Ungleichheit wird beim technologischen Wandel verortet. Ausserdem bei der Globalisierung von Handel und Kapitalverkehr, bei Unternehmenssteuersenkungen und zu geringer gewerkschaftlicher Organisationsraten. Die Umkehrung der Diagnose dient denn konsequenterweise auch als Remedur: Gewerkschaftliche Organisationsdichte intensivieren, Steuern erhöhen, längerfristige Umverteilungsmassnahmen „im Sozialvertrag des Landes“ verankern und den Zugang zu Chancen und Gewinn besser verteilen.
Regionale und überregionale Medien berichten. Der Tenor: Der Kapitalismus hat versagt.
Oktober 2017 – Eine entfernte Nachbarin, Französin, Mitte 50 und bekennende Sozialistin, war erstmals für acht (!) Tage in Kuba. Jetzt weiss sie, dass Sozialismus funktionieren kann. Die Gratis-Staatsbildung ist ein Erfolg – die Kinder haben sie auf englisch angebettelt. Alle sind gleich und haben gleich „viel“. Zugegebenermassen ist es ein bisschen blöd, dass die Menschen auf ihren staatlichen Produkt-Zuteilkarten keine Kosmetik-Produkte mehr erhalten. Sie hat dann wie die meisten anderen der Reisegruppe (Billiganbieter!) im Hotel (Kapitalisten!) die Seifen und Tuben geklaut und sie an die Leute verteilt. Das war schön. Die Leute sind nicht nur gleich, sondern auch solidarisch. Dass die Tatsache, dass es keine Bettler auf den Strassen gibt, dem Umstand geschuldet sein könnte, dass keiner was zu geben hat, lehnt sie ab. Keiner braucht zu betteln. Alle haben alles. Und sie ist überzeugt: Raoul hat auch keine Seife. Jetzt ist ihr endlich klar, warum die USA Kuba verteufeln. Die Welt darf auf keinen Fall sehen, dass Sozialismus eben doch funktionieren könnte. Sonst gäbe es vor morgen früh eine Revolution. Die Dame und ihr Ehegatte sind beide als Lehrer im Staatsdienst, Besitzer eines Eigenheims mit zwei Hektaren Land mit grossem Waldanteil und der Meinung, man müsse jetzt endlich von den „Reichen“ die Kohle holen, um die Ungleichheit zu bekämpfen.
20. Oktober – Ein Artikel in der „Welt“ nimmt erneut sich der Einsichten des IWF an. Diesmal redaktionell outgesourced an einen „Experten“ – Thomas Straubhaar, Professor für Internationale Wirtschaftszusammenarbeit an der Universität Hamburg. Auf Details, dass im Fall der IWF-diagnostizierten Ungleichheit nicht in erster Linie die Einkommen an sich, sondern die Lohnanteile am Gesamteinkommen der Volkswirtschaften gemeint sind, ist er gar nicht erst angewiesen. Warum auch die Möglichkeiten, die das vage Reizwort „Ungleichheit“ bietet, verschenken, wenn sie einem frei Haus vom „Gralshüter des Kapitalismus“ geliefert wird? Seine Botschaft: Umverteilung. „Endlich!“ ruft er und wirft nun alles hinein in das Textlein, was den Leser auf Schülerzeitungsniveau in die richtige Richtung lenken soll: Wirtschaftswachstum allein mache den Menschen nicht glücklich und schliesslich habe der eben gekürte Wirtschaftsnobelpreisträger Richard Thaler bewiesen, dass der Mensch irrational handle, was ihn zum Opfer und lenkungsbedürftig mache. Ausserdem sei es der Mangel an sozialer Teilhabe – das habe die Bertelsmann-Stiftung herausgefunden – die die „Enttäuschten und Frustrierten“, die „Unverstandenen und Ungehörten gegen jegliche marktwirtschaftliche Vernunft“ in die Arme von BREXIT, The Donald und der AfD getrieben habe. Fehlen nur noch Umweltzerstörung und Klimawandel. Und da sind sie schon. Ihnen verdanken wir „die allgemein akzeptierte und deshalb weit verbreitete Politik der Nachhaltigkeit der letzten Dekaden“. Da erstaunt dann die robuste Auslegung der IWF-Therapie auch nicht mehr: Bedingungsloses Grundeinkommen, Kapitaleinkommen höher besteuern, Steuerbasis verbreitern und Möglichkeiten zu Steuervermeidung, -hinterziehung und -betrug konsequent abschaffen. Das Ganze in der Rubrik „Wirtschaft“. Meine Fresse! (Pardon!)
30. Oktober – „Reiche gefährden das Ziel politischer Gleichheit“ titelt der österreichische Standard. Auch hier setzt man auf einen Experten. Diesmal im Interview mit Martin Schürz, Gruppenleiter Monetäre Analysen bei der Österreichischen Zentralbank, Lehrbeauftragter an diversen Universitäten und Fachhochschulen sowie Psychotherapeut. Es geht um Reichtum. Seine Botschaft: Vermögensverhältnisse sind nichts Privates, sondern etwas Politisches. Nur wenn alle alles von jedem wüssten, wird ausgewogene Wirtschaftspolitik möglich. Es ist ungerecht, Vermögen steuermässig zu schonen, wenn die einzige Leistung des Besitzers darin bestünde „aus der richtigen Gebärmutter“ geschlüpft zu sein. Das Argument, dass es die Leistung der Eltern und Grosseltern war, durch die das Vermögen aufgebaut werden konnte, lässt er nicht gelten. Das Fazit des Vermögensexperten: Die Regierung muss verpflichtet werden, jährlich einen Reichtumsbericht vorzulegen. Wer sind die Reichen? Woher kommt ihr Reichtum? Wofür verwenden sie ihn? Nur so liesse sich beurteilen, wie einzelne politische Massnahmen auf die Menschen wirken.
Was jetzt? Sich die verschiedenen Güsse ungetrübter Heiterkeit reinziehen, den einem diese dünnen Stimmchen aus der warmen Enge staatlicher Allfürsorge heraus zuteil werden lassen? Es abhaken und verbuchen als eine Art schrägen Kollektivisten-Porno? Die Schultern zucken und zurückkehren in die offene zugige Weite von Freiheit und Risiko, die bei diesen Leuten mit gutem Grund Veitstänze auslöst? Man tut es – und dann merkt man, es geht nicht. Gegenüber dem, was die Troika IWF-Medien-Politik in Steter-Tropfen-Manier und zu regelmässig, als dass es Zufall sein könnte, in die Hirne der Leute reinträufelt und was von vielen so gerne geglaubt wird (siehe meine Nachbarin), nimmt der Ablass des mittelalterlichen Klerus geradezu treuherzige und pittoreske Züge an.
Es ist ein grotesker Schattenkampf in dessen Verlauf vorgegeben wird, politisch bekämpfen zu wollen, was politisch verursacht wurde und gefördert wird. Das Ganze kostümiert in die Heilslehre einer obskuren Gleichheit, die in Wahrheit nicht mehr für alle, sondern weniger für die, die mehr erarbeitet haben meint. Ein Konzept also, das entgegen allen anderslautenden Beteuerungen der Experten auf der niedrigsten und niederträchtigsten menschlicher Regungen aufbaut: Neid. Mais bien entendu: Nicht Neid auf die Leute, zu denen die oben erwähnten Experten zählen und die in staatlichem Sold mehr abkassieren, als so mancher Unternehmer sich an Lohn gewährt. Es geht um die Früchte echter Leistung heutiger oder vorhergehender Generationen.
Was die Fakten anbelangt, so ist, was die Troika verkündet eine Lüge, die auf Weglassen basiert. Natürlich haben Globalisierung und technologischer Fortschritt vieles verändert und werden es noch. Das und die Tatsache, dass das Positive dieser Entwicklungen konsequent ausgeblendet und Negatives in Positives umgedeutet wird, soll hier nicht das Thema sein. Der Punkt ist ein anderer: der Beginn des Zeitraums, den der IWF-Bericht zur Untersuchung „langfristiger struktureller Veränderungen“ heranzieht (1991 bis 2014), fällt zusammen mit dem Zeitpunkt, an dem die Blasenfinanzierungs-Kultur der Zentralbanken und die ihnen folgenden „Rettungen“ Einzug hielten. Für den IWF gehört solches, so muss man aus dem Papier schliessen, zu den „kurzfristigen konjunkturellen Entwicklungen“ Dingen, die keinen Einfluss haben auf Vermögensverhältnisse und somit nicht der näheren Betrachtung würdig sind.
Dabei ist das Gegenteil der Fall: Die Geldschwemmen der Zentralbanken zur Verhinderung der von ihnen stimulierten Markteinbrüche durch platzende Blasen und zur Rettung ganzer Länder und sogenannt systemrelevanter Konzerne sind der Grund Nummer eins der grassierenden und sich zuspitzenden Ungleichheit. Wenn eine Zentralbank Geld druckt wie irr, dann profitieren in erster Linie jene davon, die es zuerst erhalten: Staaten, staatliche oder staatsnahe Firmen, Banken, Günstlinge aller Art. Kaufkraft wird von denen mit echt erarbeitetem „altem“ Geld weggenommen und durch diesen unnatürlichen Kanal auf die Empfänger neuen Geldes umgeleitet. Reiche Günstlinge – zu denen auch sämtliche Staatsangestellten wie die obgenannten Experten zählen – werden damit immer reicher, während der normale Rest der Leute ausgeblutet wird und einzig von höheren Preisen wie beispielsweise höheren Mieten, die die steigende Nachfrage nach Immobilien durch die Begünstigten zur Folge hat, „profitieren“ (Cantillon-Effekt). In Anbetracht dieser Tatsachen daherkommen und wider besseres Wissen dem Markt geschuldete Ungleichheit beklagen, ist an Arroganz und Verachtung für die so gern erwähnten „Menschen da draussen“ kaum zu überbieten.
Das allein wäre eigentlich Misere genug. Aber das Ganze geht tiefer. Die Frage lautet doch: Was soll hier aufgegleist werden? Und: Warum fühlen sich viele von dieser als „Wirtschaftspolitik“ verkauften Affekt-Massage angesprochen?
Zur ersten Frage: Was die beiden beispielhaft angeführten Experten (es gibt ihrer Legion in Staatsdiensten) in obrigkeitszentrierter Verve und ohne auf jedweden theoretischen Unterbau angewiesen zu sein absondern, ist über der Realität schwebend. Hier soll eine Gesellschaft vordergründig erneut und ohne Rücksicht auf das Individuum einem höheren, heilsbringenden Zweck (Gleichheit) zugeordnet und vom „Diktat des Marktes“ erlöst werden. Das ganze durch pure Instrumentalisierung von Ressentiments, das den Faulen, Laschen, Bequemen und Feigen die nötige moralische Deckung für das Nicht-Wahrnehmen der Selbstverantwortlichkeit bietet. Der Markt ist „böse“, der Staat ist „gut“ – alle Macht dem Staat. Das und nichts anderes ist die Botschaft. Dass die Versorgungskarrieren innerhalb des „sozialen“ Systems des Staats mit härteren Bandagen, unerbittlicher, liebloser, ignoranter, unwürdiger und vollkommen gleichgültig gegenüber den Bedürfnisse des Nächsten verfolgt werden als in jedem freien Markt, fällt nicht ins Gewicht.
Zur zweiten Frage, was die Attraktivität etatistischer Rundumbetreuung ausmacht, könnte eine Antwort „Angst“ sein. Unter dem Label der Befreiung hat sich der Mensch in den letzten Jahrzehnten von allen hergebrachten Ordnungen von Staates Gnaden und ab Kindesalter emanzipieren lassen. Was Grund, Grenze und Halt war, ist zerbröselt, aufgelöst und so lange verpönt worden, bis nichts mehr blieb ausser Haltung und der richtigen Meinung. Aber sie allein im Verbund mit pervertierten „Menschenrechten“ und einem verkrüppelten Rest Markt spenden keinen Sinn. Sie sind nur ein fadenscheiniges und schmalbrüstiges Wie – das Wozu, haben sich die Menschen nehmen lassen und geglaubt, es sei Freiheit: Klassische Familie, Geschlechtsidentität, Ehe, Traditionen, Sitten, individueller Glaube, Leistung, Eigentum, Verantwortung.
Da stehen viele – vollkommen nackt und losgelöst und allein wird die Freiheit der Selbstverantwortung und damit einer Marktgesellschaft als Bedrohung wahrgenommen und man klammert sich anhänglich wie Kleinkinder an die Hand des Staats, der vorgibt, unter dem Label einer „höheren Moral“ risikolose Sicherheit gewähren zu können. Der Mensch, zum Leben als selbstverantwortliche und freie Person bestimmt, hat sich selber zum fordernden, erwartenden und empfangenden Wesen zurück entwickelt.
Was hier läuft und was willig hingenommen wird ist die totale Abschaffung der Selbständigkeit, die Vernichtung der Freiheit. Oder um es mit Tocqueville zu sagen:
„Eine gewaltige, bevormundende Macht erhebt sich über eine Menge vereinzelter und entfremdeter Individuen; sie wäre der väterlichen Gewalt gleich, wenn sie wie diese das Ziel verfolgte, die Menschen auf das reife Alter vorzubereiten; statt dessen aber sucht sie bloß, sie unwiderruflich im Zustand der Kindheit festzuhalten; es ist ihr recht, dass die Bürger sich vergnügen, vorausgesetzt, dass sie nichts anderes im Sinn haben, als sich zu belustigen. Sie arbeitet gerne für deren Wohl; sie will aber dessen alleiniger Betreuer und einziger Richter sein; sie sorgt für ihre Sicherheit, vermisst und sichert ihren Bedarf, erleichtert ihre Vergnügungen, führt ihre wichtigsten Geschäfte, lenkt ihre Industrie, ordnet ihre Erbschaften, teilt ihren Nachlass; könnte sie ihnen nicht auch die Sorge des Nachdenkens und die Mühe des Lebens ganz abnehmen?“
Wollen wir das? Es ist das „Ideal der komfortablen Stallfütterung“ (Röpke) und wir wissen, wie es läuft – 120 Millionen Tote als Resultat ähnlicher Ideal-Experimente sprechen eine deutlichere Sprache, als alle Worte es vermöchten.
***
Hier geht es zum Blog des Autors: FRANK JORDAN BLOG
Und hier zu seinem neuen Buch: Frank Jordan: DIE MINISTERIN