Sonntag, 22. Dezember 2024

Russland Safari 6. Kapitel, Teil 2: Noch 290 Kilometer bis Ufa

III

Noch 290 Kilometer bis Ufa, 1.1 Millionen Einwohner, Hauptstadt von Baschkirien oder – wie man heute sagt – Baschkortostan. Nun wollten wir nur noch fahren und keine Zeit mehr verlieren, obwohl wir beim „Zeit verlieren“ bislang jedes Mal gewonnen hatten. Dennoch: Ich war in den beiden Städten gewesen, die ich unbedingt hatte sehen wollen. Ufa stand nicht auf dem Plan. Die föderale Fernstraße M7, genannt Wolga, endete 1280 Kilometer nach Moskau. Vor Ufa mündete sie in die M5. Auf die würden wir wechseln und durch den südlichen Ural fahren, an einer Stelle, wo er besonders breit und seine Berge für ein Mittelgebirge verhältnismäßig hoch waren.

Es ging auf 12 Uhr zu. Und es wurde zum ersten Mal richtig heiß. 31 Grad und drückend schwül. Sima schaltete erneut, ohne mich zu fragen, die Klimaanlage ein. Diesmal blieb sie an.

Ob es daran lag? Oder allgemein am Wetter? Sima jedenfalls begann völlig überraschend, mir etwas mitzuteilen. Er sei richtig froh, hob er an, er freue sich, dass er endlich erkannt habe, was der eigentliche Grund unseres Streites sei. Mit unserem Streit meinte er vor allem unser Reisetempo. „Aha?“ Ich bekam große Ohren. Na dann erzähl mal, dachte ich.

Streit ist“, fuhr er fort, „weil beide muss alles bestimmen. Du und ich gleich. Du bist Diktator, ich bin Diktator.“

Sieh einer an: die Alphatier-Frage. Sima philosophierte. Das hatte ich ihm gar nicht zugetraut.

Alle Leute, was mit mir gefahren immer war dumm und hatte Angst.“

Sima äffte seine früheren Mitfahrer nach – Russlanddeutsche, die wie er etwas in Sibirien erledigen wollten, etwa Bekannte besuchen:

Sima, wie geht das, was muss ich aufpassen, wie ich muss fahren? Sima, was kann passieren, Sima es ist gefährlich? Wie ist Strecke? Was ist mit Polizei? Was kostet Fahrt, wo soll ich tanken? Sima mach du, du hast Erfahrung und so weiter … Immer die Leute brauchten mich. Immer ich war Chef unterwegs. Aber du bist andere. Als ich habe gesehen, wie du durch Moskau gefahren bist, ich wusste, du kannst alles fahren. Du brauchst nicht meine Hilfe. Kannst alles allein.“

Selbstständigkeit bei anderen war für ihn also ungewohnt? Eine völlig neue Situation, nicht mehr die alte Rolle ausleben zu können? Das musste ihn gekränkt haben. Nun ja, Sima, so ist das Leben…

Jetzt ich bin wie … wie sagt man?“

Was?“

Kaputte Wagen?“

Ich weiß nicht …“

Wenn etwas kaputt, zwei Teile – wie sagt man?“

Zerbrochen?“

Ja, ja! Zerbrochen! So sagt man in Russland. Jetzt ich bin wie zerbrochene Wagen. Jetzt, ich gebe auf. Du chast gewonnen. Ich hatte immer nur meine drei-chalb Tage in Kopf, immer nur meine drei-chalb, drei-chalb …“ (Er meinte sein Ziel, in dreieinhalb Tagen von Deutschland nach Nowosibirsk zu fahren.) „… Ich wollte das unbedingt. Aber jetzt ich sehe, es ist unmöglich. Drei-chalb unmöglich. Ich verstehe jetzt, wie du fahren willst. Okay, wir machen so, wie du sagst. Jetzt ich zerbrochene Wagen …“

Sima hing schräg in seinem Sitz, zusammengesackt ans Fenster gelehnt. Vielleicht war es der Schlafmangel, vielleicht war er einfach zu müde, um weiter zu kämpfen. Falls ja, dann dankte ich den Mücken von letzter Nacht. Doch er war noch nicht fertig mit seinem Geständnis.

Ich habe gesagt, ich bin ehrlich. Narmalerweis ich sage nur Wahrheit. Deshalb jetzt ich sage Wahrheit. Ich kann nicht lügen dich für lange. Ich bisschen Geschichten erzählt habe, weil ich wollte dir bisschen Angst machen. Ich wollte nicht, dass du immer Pause machst. Wegen meine drei-chalb, immer meine drei-chalb …“

Er griff sich mit drei Fingern an die Schläfe und drehte die Hand, um anzudeuten, dass ihm dies die ganze Zeit im Kopf herumgegangen sei.

Die Banditen im Ural?“, dämmerte es mir.

Habe ich übergetrieben. Kann schon sein, dass es sowas gibt. Aber in Wirklichkeit sowas passiert nie.

Und die angeblichen engen Gassen in Moskau?“

Ja, auch. Ich wollte nicht durch Moskau.“

Das kann doch gar nicht wahr sein, dachte ich. Sima, du bist ein Schlitzohr vor dem Herrn! Da er es mir gestanden und ich mich ohnehin nur wenig davon beeinflussen hatte lassen, gab es keinen Grund, ihm deshalb böse zu sein.

Sehr interessant“, sagte ich. Wir grinsten uns an.

Baschkirien. Das Land wurde trockener, agrarischer, sein welliges Relief flacher. Gelbgrün wechselte mit dem Goldgrau der Steppe. Siedlungen wurden seltener. Ein toter Hund lag auf dem Mittelstreifen. Europa verblasste …

Wir kamen darauf zu sprechen, dass ich Musik mache. Sima bat mich, eine meiner beiden CDs in den Player zu tun. „Ich will chören, was du machst!“ Erstaunlicherweise lauschte er tatsächlich aufmerksam bis zum letzten Lied. Dann sprach er ein wohlüberlegtes, nicht allzu überschwängliches Lob aus, das sich vermutlich sowohl auf das eben gehörte Lied, als auch auf das gesamte Album bezog. Ich war überrascht. Es schien, als könne er nun, da er mir alles gestanden hatte, auch zugeben, dass ich, der Deutsche, doch kein ganz hoffnungloser Fall wäre.

Sima hatte den Abzweig zur M5 verpasst … okay, wir beide hatten ihn verpasst. Die Straße ging leicht bergab, hinunter zu einer Brücke. Wir näherten uns Ufa. Baschkortostans Hauptstadt lag auf der anderen Seite der Brücke, auf einer Anhöhe über dem Zusammenfluss der Ufa und der Bjelaja. Vor uns, im Osten, ballten sich nichts Gutes verheißende Wolken zusammen, die zusehends wuchsen. In sie hinein, von einem ansonsten blauen Himmel aus, pumpte die unter hochsommerlicher Volllast arbeitende Sonne alles, was sie zu geben hatte. Ufas pastellfarbene Plattenbauten strahlten in diesem vorgewittrigen Licht munter und warm. Prinzipiell aber unterschieden sie sich wenig von den monotonen Wohnblocks des Ostens, die uns seit Warschau in jeder größeren Stadt begegnet waren. Und dennoch: Im Zentrum, am höchsten Punkt, stand eine recht interessante Gebäudegruppe. Im graublauen Dunst weit, weit dahinter, die bewaldeten Hänge des Ural. Jenseits davon lag Asien. Wie Ufa sich in die Umgebung schmiegte, rundherum viel Grün, das übte auf mich erneut einen großen Reiz aus. Ich hielt an zwei Säulen aus rotem Stein – ein Sowjetstern obendrauf – die den Eingang, das Tor zur Stadt, markierten und machte schnell ein paar Fotos. Dann fuhren wir zurück, um den verpassten Abzweig zur M5 zu suchen. Denn ich hatte ja gesagt: keine weitere Stadt. Doch Ufa lockte mich, wie eine ganze Armada von Sirenen. Als würde ich nicht gegen eine 5-prozentige, sondern gegen eine 50-prozentige Steigung anfahren, wurden mir die Meter, die wir uns von Ufa entfernten, immer schwerer.

Was würde Sima sagen? Ich fuhr rechts ran. „Sima, es geht nicht anders – wir müssen durch Ufa“, sagte ich zerknirscht, aber so, dass er verstand: Es war endgültig, es gab keinen anderen Weg. Wieder würden wir Zeit verlieren. Falls es in der Stadt Stau gäbe, vielleicht sogar beträchtlich. Ich wusste das. Er wusste das. Aber ich musste sehen, musste da gewesen, nicht nur daran vorbei gefahren sein. Sima nahm mittlerweile alles so hin, wie es ihm vom Schicksal – das heißt, von mir – zugeteilt wurde. „Wie du willst“, sagte er. Nicht erfreut, doch auch nicht maßlos enttäuscht.

Als wir uns der vierspurigen Brücke näherten, die über den Fluss Bjelaja in die Stadt hinein führte, beschleunigte sich das, was sich da am Himmel vollzog, wie im Zeitraffer. Die Atmosphäre war aufgeladen. Kontinental-tropisch, wenn man so wollte. Es wurde finster. Eine Ladung Dynamit, auf deren Zündschnur der Funke lichterloh dahinraste. Mitten auf der Brücke ging sie hoch. Die ersten fetten Tropfen platschten auf die Windschutzscheibe. Dann fiel jede Zurückhaltung. Sturzbäche epischen Ausmaßes brachen über uns herein. Als hätte Gott allen Fluten des Himmels geboten, sich über Ufa hemmungslos zu entladen. Die Wischer schafften den Regen auch in der höchsten Stufe kaum von der Scheibe. Blitze zischten herab und zerrissen die Luft. Donner antworteten mit furchtbarem Knallen. Die Gewalten tobten. Schon nach einer Minute musste sich unser Bus bis an den Unterboden durchs Wasser wühlen, das in den Wannen des ausgefahrenen Asphalts gurgelte und nicht abfließen konnte. Zum Bersten volle Straßen. Der Schwerlastverkehr rollte. Wir und kleine Autos befanden uns mittendrin. Schaum bildete sich. Alle fuhren langsamer. Hart schlugen die Fontänen der aufspritzenden Wassermassen gegen den Bus. Was für eine Lautstärke! Ein Kreisverkehr. Welche Ausfahrt? Keine Ahnung. Irgendeine genommen. Wir konnten ja nicht stehen bleiben. Ich kämpfte mit eiserner Konzentration gegen die Orientierungslosigkeit. Gegen das Gewitter. Um den Bus heil durch Ufa zu manövrieren. Wir kamen ans Ende der Oberstadt. Eine Mauer. Sackgasse. Mist! Da ging es nicht hinunter zum Fluss. Es sei denn, wir sprängen. Eine Brücke. Wir brauchten eine Brücke! Wo war hier eine Brücke? Ich wollte nicht denselben Weg zurück fahren. Die M5 bewegte sich wie die Bjelaja südlich um Ufa herum. Wir mussten also eine andere Brücke über die Bjelaja finden. Wohin jetzt? Ich war ratlos. Erst mal Richtung Zentrum. Der Regen ließ nach. Wenigstens etwas. So heftig, wie die Wassermassen gekommen waren, so abrupt wurden sie jetzt abgedreht. Es tröpfelte noch ein wenig, dann stieg Dampf von den Straßen auf. Was blieb, waren tiefe Pfützen und Seen, die nur die Sonne wieder herausschaffen konnte. Immer wieder begegnete mir das in Russland. Wenn der Regen kam, wurde die Straße zum Flutbett. Kanalisation? Nix Kanalisation.

Sima und ich kurvten orientierungslos durch Ufa. Die Sonne schien längst wieder, als wäre nichts gewesen. Irgendwo, wo es ruhiger war, hielt ich an und Sima fragte einen russischen Jüngling, der mit seiner Freundin den Fußweg entlang schlenderte. Wie sonst sollte man ihn bezeichnen, wenn nicht mit dem dostojewski’schen Begriff Jüngling? Anzughose, ordentliches Hemd, ordentliche Frisur, blond, kaum 20 Jahre alt? Für einen jungen Mann war er noch zu jung. Doch bei allen Schwiegermüttern – ein Jugendlicher war er auch keiner mehr! Der Jüngling antwortete sehr freundlich, schien sich hervorragend auszukennen und gab Auskunft in einer Weise, die sowohl Sima als auch mich sofort überzeugte. Ich sagte zu Sima: „Das gefällt mir an Russland, hier kannst du irgendjemanden fragen, und die Leute können dir weiter helfen.“

Sima mochte es, wenn ich Russland lobte.

Dennoch, der Weg aus Ufa heraus, war nicht ganz ohne, so dass wir an der Ampel einer vielspurigen Hauptstraße noch ein zweites Mal fragen mussten. Noch einmal wenden. Dann endlich war der Flughafen ausgeschildert. Unsere Richtung: Süden! Wir kamen an einer großen Moschee vorbei. Sie schien sich noch im Bau zu befinden. Ihre vier Minarette, deren Spitzen bereits vergoldet und geformt waren, wie Flammen oder Schirme von Öllampen, standen noch eingerüstet. So sah die Moschee aus wie eine Mischung aus der Dresdener Yenzide-Tabakfabrik und den Leunawerken. Was ich nicht wusste: Diese Moschee mit Namen „Salawat Jusajew“ würde eine der größten des Landes werden. Ihre Fertigstellung war für 2017 geplant. Wir fuhren weiter Richtung Flughafen. Die Straße hatte jetzt zehn Spuren und war vermutlich die breiteste von ganz Ufa. Schließlich erschien auf einem kleinen, weißen Extraschild auch Tscheljabinsk an den grünen Hauptwegweisern. Die Tschljabinsk-Beschilderung war so lächerlich winzig, als wolle man mit einer versteckten Kamera die Reaktion der Leute darauf testen. Wer hier täglich fuhr, hatte sich sicher längst daran gewöhnt. Für alle anderen konnte es nur ein schlechter Scherz sein. Endlich unsere Brücke. Wieder so ein Gigant aus Beton. Es war Nachmittag, als wir auf die M5 mit der Bezeichnung Ural auffuhren. Kurz darauf wechselten wir. Sima übernahm. Auf ins Gebirge!

IIII

Gut 80 Kilometer waren es noch bis dahin. Die Fernstraße verlief, über eine Ebene mit wenigen sanften Bodenwellen, fast nur geradeaus. Sie war hier weniger befahren, aus grobem, schon älterem Asphalt und nur noch zweispurig. Wie überall in Russland wartete, meist an schlecht einsehbaren Stellen, die Polizei und kontrollierte den Verkehr. Zum zweiten Mal erwischte es Sima. Er hatte vergessen, das Licht anzumachen. Wieder konnte ich mitverfolgen, wie anpassungsfähig er reagierte. Da sein Fehler offenkundig und er allein schuld war, gab er sofort alles zu und zeigte sich einsichtig, ohne unterwürfig zu sein. Es wirkte. Anscheinend war das vergessene Licht nur eine geringere Ordnungswidrigkeit, welche den Polizisten nicht sonderlich interessierte. Eine überfahrene Mittellinie wäre schlimmer gewesen. Stattdessen wollte er unsere Papiere sehen. Die waren natürlich in Ordnung. Nun interessierte sich der Polizist für mich, immerhin war ich Deutscher und der Eigentümer des Fahrzeuges. Sima begann, ausführlich von mir zu erzählen. Dass ich Journalist sei und eine positive Reportage über Russland schreiben wolle. Dass wir zusammen nach Sibirien fahren würden, er mir dabei helfe und so weiter und so fort.

Der Polizist bat uns auszusteigen und den Wagen zu öffnen. Er ließ sich einige Kisten zeigen. Ich bemühte mich mit ein paar Worten Russisch und blieb so freundlich, wie möglich. Das alles schien sein Wohlwollen zu finden. Er gab uns unsere Dokumente zurück und wünschte uns eine gute Reise, ohne das fällige Bußgeld von Sima kassiert zu haben.

Auf der Weiterfahrt erzählte Sima, Putin habe die Korruption bei der Polizei in den Griff bekommen, indem er die Gehälter drastisch erhöht hätte. Ein Verkehrspolizist verdiene heute umgerechnet rund 900 Euro, was für russische Verhältnisse ausgesprochen viel sei – fast das Doppelte des Durchschnittslohnes. Das habe einen regelrechten Ansturm auf diesen Beruf ausgelöst, so dass nur noch die allerbesten Bewerber genommen würden. Im Gegenzug für ihr gutes Gehalt werde von den Polizisten verlangt, die Autofahrer nicht mehr abzuzocken. Wer dabei erwischt werde oder gegen wen auch nur Klagen aufkämen, der verliere seine Stelle ohne großes Federlesen. Diese Maßnahme habe das Verhältnis zwischen Staat (Polizei) und Bevölkerung verbessert. Geholfen habe auch, die Verkehrspolizei umzubenennen. Vom alten Milizija – also eigentlich der Militärpolizei – in DPS, Doroschno-Patrulnaja Sluschba (etwa: Straßen-Patrouillen Dienst).

Eine Polizei, die nicht zum Militär gehörte, hatte es zuletzt im zaristischen Russland vor der Oktoberrevolution gegeben. Die DPS fuhr fast überall denselben Autotyp: eine niedliche, kleine Lada-Limousine, produziert in Toljatti bei Samara an der Wolga. Ich muss sagen, wir wurden mehrfach angehalten und einmal – jedoch erst auf der Rückreise – übertrieb ich es so arg, dass ich jede Strafe verdient gehabt hätte. Doch die Polizei blieb immer fair, souverän und schöpfte ihre Möglichkeiten nie aus.

Als wir in die Ural hineinfuhren und uns der Wald umschloss, fühlte ich mich merkwürdig, fiebrig und erregt. Das Gebirge übte eine ungeheuere Wirkung auf mich aus. Es schien mir wild und gefährlich – wie sein lautmalerischer Name, der aus nacht-dunklen Vokalen und vor Angst schlotternden Konsonanten bestand: Uuuuuuh, Rrrrrrrrrr, Aaaaaah, Hhhhhhhl …. Vielleicht war es die Anspannung, die abgebaut werden wollte. Vielleicht war es Simas vorausgegangene Offenheit mir gegenüber. Oder es lag daran, dass Sima mit einer Frage nochmals auf meine Musik zurückkam. Jedenfalls begann ich von mir zu erzählen. Von meiner Familie, dem Verhältnis zu meinen Eltern und Geschwistern, was alle so machten, wo sie lebten, wie ich zur Musik gekommen war und von meinen Versuchen, Erfolg damit zu erzielen. Sima hörte zu, stellte hie und da kleine Zwischenfragen oder gab kurze Bewertungen ab, wie dies oder jenes in einer russischen beziehungsweise russlanddeutschen Familie verlaufen wäre. Wir sprachen über Traditionen, Pflicht, Verwandtschaftsbande, über Erziehung, Geld, Erbe, Treue und vieles mehr. Alles – und das war das Schöne an jenem Gespräch – völlig ungezwungen. Wir unterhielten uns nicht unter der Maßgabe, diese Themen jetzt durchackern zu müssen. Anderes konnte unser Aufmerksamkeit ebenso leicht auf sich ziehen. So kamen beispielsweise die ganze Zeit Straßenschilder mit zweisprachiger Beschriftung, wie ich sie auch schon in Tatarstan gesehen hatte. Nun war hier die zweite Sprache offenbar Baschkirisch. Ich fragte Sima nach den wenigen, vom klassischen Kyrillisch abweichenden Buchstaben. Da regte er sich auf. „Ist alles Russische! Aber wollen eigene sein, besondere! Nehmen ein, zwei andere Buchstaben und sagen“ – er äffte einen anderen Ton nach – „wir haben eigene Schrift. Wäääh, sind eigenes. Schau her, zwei andere Buchstaben, nix russisch…“ – und wieder normal – „Pah, eigene Schrift! Ist alles selbe!“

Sima fragte, wie ich den Ural fände. Ich meinte, wer immer etwas verbrochen hätte und sich verstecken müsse, der sollte das vielleicht im Ural tun. Hier würde man ihn niemals finden. Sima lächelte. „Du chast das glaube ich gut verstanden“, stimmte er mir zu. „Für mich“, fuhr er fort, „ist besonders schönes in Winter. Ich oft gefahren in Winter. Alle Äste über Straße sind mit Schnee. Sieht einfach …“, er machte eine schwärmerische Geste und fand die Worte nicht. Seltsam, dass Sima die Winterfahrt liebte. In Deutschland hatte er nämlich auf einen späteren Abreisetermin gedrängt, weil es zu gefährlich sei, im Frühjahr zu fahren. Es könne immer noch ein Wintereinbruch kommen. Und dann stecke man fest. In Sibirien oft tagelang, bis ein Schneepflug kommen würde… Deshalb waren wir erst Ende Juni aufgebrochen. Vielleicht hatte Sima auch hierin ganz eigene Absichten verfolgt.

Ein gelber Holzlaster kam uns entgegen. „KAMAZ“, nickte Sima mir zu. Seine Augen leuchteten. „KAMAZ hat gewonnen Ralley Paris-Dakar jede Jahr. Ist immer beste in Gelände.“

Wie?“, fragte ich. „Paris-Dakar? Fahren da auch LKW?“

Ja, gibt’s auch Ralley für LKW. KAMAZ immer beste. Immer Erste. Besser als Volvo, Scania, Mercedes.“

Und warum ist KAMAZ dann nicht viel weiter verbreitet, in ganz Europa, wenn sie so gute LKW bauen?“

Weil Auto ist Schrott!“ Sima klang verächtlich.

Ich denke, es ist besser als die anderen?“ Ich verstand nichts mehr.

Nur in Gelände! Schau: Wieviel Ladung Scania oder anderes?“

40 Tonnen?“

Genau! Und KAMAZ? 20 Tonnen! Und Fahrwerk, Fahrerhaus, Technik … ist alles Schrott, alt, keine bequem … Schrott …! Mercedes oder Volvo, hmmm, Technik …“ Sima küsste seine Fingerspitzen. Nicht nur ein Schlitzohr – auch ein Autonarr war das. Er führte mir sämtliche russischen Modelle aus (die ihn ungeachtet allen Schrott-Seins dennoch mit Stolz erfüllten). GAZ und UAZ waren natürlich die wichtigsten. Sima wusste auch, wofür die jeweiligen Abkürzungen standen. Uljanowski Awtomobilnji Sawod beispielsweise. Sima verstand es durchaus, sofern er denn einmal wollte, jemand zu sein, von dem man enorm viel lernen konnte. Lustig war, wie er ins tiefste Russisch verfiel, sobald er russische Modellbezeichnungen aussprach. Bei UAZ klang es, als würde sich jemand übergeben. Er holte das UA von ganz weit unten, ja würgte es fast herauf. Ebenso als AL, wenn er Altai sagte. Das waren dunkle, fremde Klänge. Ich hatte daran meinen heimlichen Spaß. Gegen Ende der Reise sprach ich Altai selber so aus und liebte diesen Klang.

Etwa drei Stunden nach Ufa, am späten Nachmittag, fragte ich, ob ich irgendwo einmal halten solle, damit wir etwas essen könnten. Sima meinte, es kämen jetzt viele Rastplätze mit Verkaufsbuden und Kafes. Aber diejenigen, die er mir zeigen wolle, seien noch nicht dabei gewesen; man sollte also noch ein wenig weiterfahren. Ich müsse nämlich unbedingt die hiesigen Gerichte probieren. Er esse deshalb auch überhaupt nicht gerne im Auto von irgendwelchem mitgenommenen Proviant. Die Küche hier sei so exzellent… Wieder küsste er seine Finger. „Und günstig. Kann man für einen Euro Borschtsch essen.“

Uaaah … Borschtsch … Rote Beete …“, erwiderte ich, „Das ist nun gerade das, was mir überhaupt nicht schmeckt. Habe ich einmal probiert. Nie wieder!“

War bestimmt aus Glas“, bemerkte er.

Genau. Aus einem russischen Laden in Deutschland.“

Ah“, winkte er ab, „das nicht Borschtsch. Ich sage: Du probierst Borschtsch hier. Musst nicht, aber kannst.“

Ich esse lieber Soljanka“, meinte ich.

Ja, kann man auch. Aber Soljanka ist nicht so russische. Ist mehr Ukraine. Borschtsch ist russische.“

Ich nahm mir vor, Borschtsch zu essen.

V

Auf einem Rastplatz im tiefsten Ural fuhr langsam ein ehemals schneeweißer VW-Bus ein, aus dem die zwei staubigsten, verdrecktesten, verschwitztesten Gestalten stiegen, die man sich in Deutschland hätte vorstellen können. Hier jedoch fielen sie nicht weiter auf. Das war Fernfahrerland. Wer hier hielt, hatte hunderte, ja tausende Kilometer vor oder hinter sich.

Der vierte Tag. Immer noch steckten wir in denselben Klamotten. Die Luft war heiß und feucht und voller Diesel. Unsere Seite des Rastplatzes – eine planierte Kiespiste neben der M5 – säumten eine lange Reihe mit Wellblechen überdachte Holzbuden. Dahinter begann der Urwald. Im Angebot war alles, was das Herz des unterwegs seienden Russen begehren könnte. Birkenreisig, Badelatschen und Handtücher für die Sauna, Duschgel und Zahnpasta für die Hygiene, T-Shirts und Hosen zum Wechseln, Motoröl, Kühler- und Scheibenwaschmittel, Ersatzteile, die nach den verbreitetsten russischen Automodellen sortiert waren, Zündkerzen, Keilriemen, Schrauben, Nägel, Werkzeug, präperierte Wildtiere (jedoch nicht so schöne, wie in den Waldaihöhen), Sonnenbrillen, billige Taschenmesser, Souveniers, leere Plastikkanister, Grillzubehör und zig Destillieranlagen aus Aluminium oder Stahlblech, in diversen Größen, für den Selbstgebrannten. Daneben: irrsinnig große Kuscheltiere. Ein blau-gelber Osterhase, ein Pandabär, sowie – etwas kleiner – die rosafarbene 1,70-Meter-Teddy-Ausführung für Mädchen. Wer kaufte denn so etwas?

Ich suchte eine Toilette, derweil Sima ins Kafe ging und sich beköstigen ließ. Zum Klo geht es da hinter, zeigte mir jemand, hinter die Buden und dann den Weg lang. Ich betrat das Schlachtfeld Mensch-gegen-Natur. Eine Baustelle, offensichtlich, und doch auch ein Ort der Mühsal. Da war ein ziemlich hoher Sandhaufen, über den kreuz und quer Schalungsbretter geworfen waren. Andere Bretter stützten etwas auf dem Dach ab; man hatte sie schräg in den Boden gerammt. Auf der Erde lagen verstreut zahllose aufgerissener Umreifungsbänder aus weißem Kunststoff. An der Seite stapelten sich dunkelgraue Betonziegel auf Holzpaletten. Dazwischen wucherte überall das nicht zu bändigende Kraut. Keiner arbeitete. Eine Schaufel mit kalkweißem Schaufelblatt lehnte nichtstuend an einem kubikmetergroßen PVC-Würfel, der zur Hälfte mit irgendeiner braunen Flüssigkeit gefüllt war. Dahinter hob eine ausgeweidete Gulaschkanone hilflos ihre Flügeltüren. Zu ihren Rädern leere Metallfässer, Kanister und ein Aschefass, die allesamt unmotiviert herumlagen.

Wer hier etwas zu bauen versuchte, dem musste es wie Sisyphos ergehen: kaum mit den Mühen ein wenig vorangekommen, werden sie von der Schwerkraft der Natur wieder überwältigt und zu Nichte gemacht. Mit Hacke und Schaufel war da nichts zu machen. Das wilde Grün würde immer und immer wieder siegen – bis auf den Tag, an dem der Mensch doch einmal mit wirklich schwerem Gerät anrückt.

So war denn auch der Weg zum Klo nurmehr ein Trampelpfad, der durch eine ungeheuere Pflanzenwelt führte: Unkraut, Kletten und andere Stauden, die mich weit überragten und etwas, das aussah wie Rhabarber, mit Blättern wie aus einem Mutantenfilm. Nicht nur die Kuscheltiere waren hier extrem groß. Alles war so dicht gewachsen, dass einem Angst werden konnte. Hinter der Toilette stand ein altes Blockhaus, um das herum ein Steg führte, den man über drei Stufen erreichte. Auch unter Steg und Stufen wucherte es hervor. An der Außenwand hing bündelweise Birkenreisig. Über das Treppengeländer hatte jemand ein buntes Badehandtuch gelegt. Das war die Sauna des Rastplatzes. Ein Russe, nur mit blauen Badelatschen und einer Turnhose bekleidet, über die sich ein aufgedunsener Bauch wölbte, trat heraus und machte eine Bewegung, ich solle doch hereinkommen. Ich deutete auf das Klo. Das Klo war ein kleines, freistehendes Holzhäuschen mit Scheißloch. Kalter, beißender Gestank schug mir entgegen.

Ich brachte es nicht fertig, in der Nähe des Häuschens auch nur zu atmen und floh in den Wald, um mein Geschäft dort zu verrichten. Nicht sehr tief allerdings, dazu fehlten mir der Mut und eine Machete. Doch allemal soweit von den Buden weg, dass ich innerlich in höchste Anspannung geriet. Was, wenn ich einen Bären aufschreckte? Und schon hatte ich die Mücken am Heck. Um mich herum dichter Unterwuchs voller stacheliger Heimtücke. Der Dschungel war mir feindlich gesonnen: Hinaus mit dir, Eindringling! Ich gab Vollgas, wedelte heftig um mich, biss die Zähne zusammen und war – wieder draußen – heilfroh, in den mühsam der Natur abgerungenen Bretterbuden nun auf einmal doch so etwas wie Zivilisation zu erkennen.

Am Auto wusch ich mir die Hände, dann trat ich ins Kafe, wo Sima gerade seinen Teller leerputzte. In einer Wandecke hing ein Fernseher und brachte buntes, schrilles Programm. Außer Sima war nur noch ein Gast in dem schmalen Raum mit fünf Tischen. Ein Hüne von einem Russen, groß und sehr dick, in Turnhose und T-Shirt, nahm eben Platz, schaute kurz in die Glotze und schickte sich dann an, einen gewaltigen Berg Piroggen zu verspeisen. Ich bestellte mir Borschtsch, dazu zwei mit Hackfleisch gefüllte Bliný und einen Tee. Alles für 100 Rubel (1,50 Euro). Sima, der das Auto im Auge behalten hatte, musste jetzt auch mal kurz verschwinden. Nun denn, lasset uns Borschtsch versuchen …!

Um es kurz zu machen: Es schmeckte sensationell. Zum Auf-die-Knie-Sinken. Mehr gibt es dazu im Moment nicht zu sagen. Ich aß noch mehrfach Borschtsch in Kafes oder Gostinizas. Doch kein anderes kochte ihn so gut, wie dieses.

Um Sieben fuhren wir weiter. Vielleicht noch zwei Stunden, dann spätestens mussten wir einen Platz für die Nacht gefunden haben. Nun kam der schönste Abschnitt – die Hochlagen des südlichen Ural. Mit Städtchen, die sich in weitläufigen, baumlosen Senken niedergelassen hatten. Der Blick von macher Passhöhe über diese Siedlungen hatte etwas Märchenhaftes. Das hier war so abgeschieden … war das noch die Welt, auf der ich zu sein glaubte? Oder war ich aus der normalen Welt herausgefahren, als ich in den Ural hineinfuhr? Wer hatte sich entschieden, hier zu leben? Wer hatte sich in diese Natur eingemietet? (Interessanterweise liegt wenige Kilometer südlich von Jurjusan – einem der „Städtchen“ – tatsächlich eine auch für Russen Geschlossene Stadt; seit Sowjetzeiten wird dort Nuklearforschung betrieben.)

Diese Menschen kamen mir, obwohl ich natürlich keinen einzigen von ihnen kannte, vor wie Unerreichbare. Also für uns, für den Westen, für die Verdorbenheit, für den sogenannten Fortschritt, Unerreichbare. Der Ural war ihre schützende Glocke. Nicht ihr Gefängnis, wie ich es in den Waldaihöhen empfunden hatte. Sondern ihre Zuflucht, ihre Freiheit. Ihr Frieden vor uns. Wo sie, inmitten all der Rauheit des Erzes, des Maschinenbaus, der Holzwirtschaft und Nuklearforschung ein Leben lebten, zu dem ich so wenig Zugang hatte, wie man in einen Traum oder eine Musik einsteigen und Teil davon werden kann. Ich konnte es nur an mir vorbeiziehen lassen . . . oder selbst daran vorbei ziehen. 25 Kilometer nach Jurjusan bog ich rechts ab und fuhr in eine auf einem Berg gelegene Siedlung, um den Ural einmal von oben zu sehen. Die Sonne neigte sich den Baumkronen zu. Abendnebel stieg aus den Wäldern. Selbst Sima meinte, es sei wunderschön.

Die M5 wurde gerade frisch asphaltiert. Manche Abschnitte waren abgefräßt, andere schon komplett fertig. Dort machte das Fahren Spaß. Weniger schön war es da, wo sich die Ketten von Raupenfahrzeugen in den Asphalt gedrückt hatten. Dann rüttelte es, als würde man über ein Waschbrett fahren. Doch selbst das ging. Oft aber wurde es einspurig, mit Bauampeln und Staus. Der ganze Fernverkehr von und nach Sibirien wälzte sich auf zwei Straßen durch den Ural. Unsere war eine davon. Es gab viele Langholztransporte, LKW über LKW. . . Da die M5 lediglich als zweispurige Straße ins Gebirge gegraben war, brauchte man Geduld. Irgendwann waren meine Batterien leer.

Bei Satka beschloss ich, es für heute genug sein zu lassen. Ich bog links ab und fuhr über den gleichnamigen Fluss, bis ins nächste Dorf. In einer Umgebung voller steiler Berghänge, fernab der Häuser, wo man uns nicht sehen konnte, suchte ich eine ebene Stelle und fand eine Wiese am Fluss, in die Fahrspuren hineinführten. Auch im Ural hatte es geregnet. Die Wiese war vollgesogen wie ein Schwamm. Wenn wir uns hier festfahren würden, hätten wir ein Problem. Minutenlang prüfte ich den Boden, suchte den besten Weg durch die schmatzende Erde. Es funktionierte. Bitte lass es heute Nacht nicht regnen, sonst kommen wir morgen früh hier nicht wieder raus

891.7 Kilometer hatten wir geschafft. Fast 200 Kilometer mehr, als gestern. Auf der anderen Flußseite waren junge Leute. Wir sahen sie nicht, hörten nur, wie die Flaschen klirrten und sie lachten. Doch weder Sima noch ich hatten Bedarf nach abendlicher Geselligkeit. Ohne großes Gewese verzog ein jeder sich in sein Schlafgemach. Die Mücken wollten schon wieder was von uns. Sima war völlig am Ende. Ich las noch ein wenig im Zelt. Bei Kerzenlicht.

David Berger
David Bergerhttps://philosophia-perennis.com/
David Berger (Jg. 1968) war nach Promotion (Dr. phil.) und Habilitation (Dr. theol.) viele Jahre Professor im Vatikan. 2010 Outing: Es erscheint das zum Bestseller werdende Buch "Der heilige Schein". Anschließend zwei Jahre Chefredakteur eines Gay-Magazins, Rauswurf wegen zu offener Islamkritik. Seit 2016 Blogger (philosophia-perennis) und freier Journalist (u.a. für die Die Zeit, Junge Freiheit, The European).

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