Ein Gastbeitrag von Daniel Schweizer
In der deutschen Debatte ist der Begriff des Nationalstaates oft sehr negativ besetzt. Vor allem im linken Lager wird gerne der „böse“ Nationalstaat“ als das gesehen, wogegen man angeblich Demokratie verteidigen muss. Wegen der Assoziation mit den Grausamkeiten des Nationalsozialismus. Geradezu mit krankhaften Parolen wie „Nie wieder Deutschland!“ signalisieren einige Linksradikale und Linksgrüne ihre Verachtung gegen den Nationalstaat. Auch schon unter Beteiligung der aus Steuergeldern finanzierten Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth.
Verteidigt wird der Nationalstaat von seinen heutigen Befürwortern oftmals mit folgenden Begründungen: Dem Funktionieren demokratischer Willensbildung gerade in den kleinen nationalstaatlichen Einheiten – besser als in einem europäischen Superstaat mit zu großen Interessengegensätzen. Natürlich mit Abgrenzung zum Nationalsozialismus und mit klarer Vertretung von gegenseitigem Respekt zwischen den Nationalstaaten. Diese Begründungen sind auch plausibel.
Ziehen wir einmal ein Vergleichsbeispiel heran: Eine Straße mit sechs Einfamilienhäusern – ein Mehrfamilienhaus mit sechs Eigentumswohnungen! Nachbarschaftsstreits kann es in beiden Fällen geben. Aber wo ist das Konfliktrisiko höher? Richtig, im Mehrfamilienhaus! In der Straße mit sechs Einfamilienhäusern müssen die sechs Familien in erster Linie die Grenzen zum Nachbargrundstück respektieren. Aber innerhalb jedes Einfamilienhauses und im dazugehörigen Garten kann jede Familie ihre Angelegenheiten nach ihren Vorstellungen regeln: mit der Einräumung von Freiheiten und verbindlichen Regeln für ein gutes Miteinander. In einem Mehrfamilienhaus mit mehreren Wohneigentümern ist es schon schwieriger. Denn das Gebäude ist gemeinsames Eigentum, worüber mehrere Familien sich in Entscheidungen einigen müssen. Und nun übertragen wir das Einfamilienhaus auf einen Nationalstaat, das Mehrfamilienhaus auf einen europäischen Superstaat. Und jedem müssten die Unterschiede einleuchten, was das Konfliktpotential betrifft.
Und liebe linksradikale Deutschlandhasser! Ist es wirklich euer Ernst, mit euren Parolen wie „Nie wieder Deutschland!“ Demokratie gegen „Faschismus“ zu verteidigen? Dann habt ihr offensichtlich im Geschichtsunterricht nur bei den Jahren 1933-45 aufgepasst, nicht bei den anderen Zeitabschnitten. Denn sonst wüsstet ihr:
Ohne die Nationalbewegungen hätte es in Europa auch nicht die Bewegungen für Freiheit und Demokratie gegeben.
Zum gesamten Verständnis erst einmal ein Blick auf die wichtigsten damit zusammenhängenden Begriffe – nicht ohne Berücksichtigung ihres Bedeutungswandels: „Nation“, „Demokratie“, „Bürgerbeteiligung“. Der im 14. Jahrhundert aus dem Lateinischen „natio“ ins Deutsche übernommene Begriff „Nation“ teilte damals Nationen noch durchaus nach anderen Kategorien ein als im bürgerlichen Zeitalter ab dem späten 18. Jahrhundert: „Demokratie“ im antiken Athen beschränkte sich bekanntlich auf einen wesentlich privilegierteren Personenkreis als in modernen westlichen Demokratien. Auch der Begriff „cives“ = „Bürger“ bezog sich über Jahrhunderte auf einen Kreis politisch Privilegierter. Heute gibt es für den Bürgerbegriff eigentlich nur noch ein Unterscheidungsmerkmal: Ist man Staatsbürger des Staates, in welchem man lebt? Durch Abstammung oder Einbürgerung? Oder ist man als Migrant Staatsbürger eines fremden Staates? So viel zum Wandel der Begriffe. Und es ist gut so, dass der Bürgerbegriff und demokratische Mitbestimmung heute dem ganzen Volk gelten.
Aber liebe Linke: Umso weniger brauchen wir die völlige Verwässerung des Bürgerbegriffs, nach welchem das Wahlrecht schon vor der Einbürgerung kommen würde!
Ziemlich eng hängen der altgriechische Begriff „demos“ (= Staatsvolk) und der lateinische Begriff „natio“ (= Volk, Sippschaft, Volksstamm…) zusammen. Beide stehen für Begriffe, die wiederum mit dem Wort „Volk“ eng verwandt sind. Gerade die Französische Revolution und die deutsche Märzrevolution zeigen:
Der Kampf für die Nationalstaatsbildung und für – gesamtstaatliche, nicht nur kommunale – politische Bestimmung durch das Bürgertum als maßgebliche Säule der Demokratie waren miteinander verwobene Ziele.
Die heterogene Zusammensetzung der Träger dieser Revolutionen – deren Uneinigkeit auch die Verwirklichung schwerer machte – ist natürlich nicht zu leugnen. Ebenso wichtig ist aber, dass gerade in denselben Bewegungen die grundlegenden Ideen für Nationalstaat UND freiheitliche Demokratie getragen wurden: Volksherrschaft im Rahmen von Nationalstaaten! FREIHEIT gegen Obrigkeit und äußere Eingriffe!
Die Französische Revolution stellte maßgebliche Weichen in Europa. Mit den bekannten Schlagworten „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ und mit als wichtiges Ziel die Menschen- und Bürgerrechte! UND für Franzosen der maßgebende Umbruch für ihre Nationbildung!
Die französische Nation verstand sich hier gerade als Willensgemeinschaft, die als die souveräne Staatsgewalt das „Ancien Regime“ ablösen sollte. So auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung:
„Die Nation war ursprünglich, seit der Französischen Revolution, ein fortschrittliches, gegen Fürstenherrschaft, Aristokratie und feudale Privilegienordnung gerichtetes Prinzip, das auf die nationale Volkssouveränität und die gleichberechtigte Verbindung sich selbst regierender Völker zielte.“
Historiker unterscheiden häufig zwischen Staatsnation, Willensnation und Kulturnation. Wobei diese Einteilung wie viele Kategorisierungen eine Vereinfachung ist und eine eindeutige Zuordnung in eine dieser Kategorien nicht immer möglich ist. Frankreich gilt hier als Paradebeispiel einer Staatsnation: Denn die Nationwerdung des französischen Volkes war kein Prozess einer staatlichen Einigung. Frankreich als geeinigter Staat bestand nämlich damals schon.
Viel mehr wurde das französische Volk zur Nation, indem es – im schon bestehenden Staat – sich als der herrschende Souverän gegen die Obrigkeit emanzipierte.
Dämmert es denen, die unter dem Vorwand, Demokratie gegen „Faschismus“ verteidigen zu wollen, den Nationalstaat verachten?
So sehr die französische Sprache ein wichtiges Symbol der Einheit Frankreichs ist: Eine vollständig sprachlich homogene Gemeinschaft war und ist die französische Nation nicht. Neben den Muttersprachlern des Französischen besteht das französische Volk – wohlgemerkt der Bevölkerungsanteil OHNE Migrationshintergrund – schon immer auch aus Sprechern weiterer Muttersprachen: z. B. Okzitanisch, Korsisch, Katalanisch, Baskisch, Bretonisch und Deutsch.
Als Paradebeispiel einer Willensnation gilt die Schweiz: Entstanden und bis heute zusammengehalten als willentlich zusammengehöriger Staat, aber mit vier Landessprachen: Deutsch, Französisch, Italienisch, Rätoromanisch.
Paradebeispiele für Kulturnationen sind Italien und Deutschland: Beide im 19. Jahrhundert noch in keinem Staat vereint. Aber jeweils eine über die Grenzen der damaligen Staaten hinausgehende verbindende Kultur: kulturell am wichtigsten die Sprache und die darauf aufbauende Literatur. Letzteres jedenfalls mit höherem Homogenitätsanspruch als bei Staatsnationen und Willensnationen! Deutschland zumindest hatte bekanntlich schon vor dem Aufkommen der Nationalbewegung staatenbündische Gebilde, an deren Gebiet sich auch die deutsche Nationalbewegung für ihre Vorstellungen eines gemeinsamen deutschen Flächenstaates orientierte: bis zu dessen Zusammenbruch 1806 das Heilige Römische Reich, nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon und dem Wiener Kongress von 1815-66 den Deutschen Bund.
Bekanntlich war das Paulskirchenparlament 1848/49 am Ende ein gescheiterter Versuch, die Forderungen der Nationalbewegung umzusetzen. Doch nichts desto trotz gilt es, sich dessen programmatische Forderungen anzuschauen:
Es ging darin nicht nur um die Frage, wie die deutschen Staaten national vereint werden sollten. Wesentlicher Bestandteil waren auch die „Grundrechte des deutschen Volkes“
GRUNDRECHTE, das was jeder Staat seinen Bürgern garantieren muss, um sich Demokratie und Rechtsstaat heißen zu dürfen!
Ebenso war auch der Respekt gegenüber anderen Nationalstaaten in der Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts von Bedeutung. Besonders ausgeprägt war in der deutschen Nationalbewegung ein Philhellenismus als Sympathiebekundung für den Freiheitskampf der Griechen gegen das Osmanische Reich.
Dem Kampf der Polen gegen die Fremdherrschaft durch Russland, Preußen und Österreich galten ebenfalls Sympathien. Auch wenn letztendlich keine wirklich praktizierte Solidarität daraus entstand, so darf dieser positive Aspekt der frühen Nationalbewegung nicht ausgeklammert werden.
Natürlich darf man auch die Schattenseiten nicht ausblenden. Es zeichnete sich auch schon in der frühen Nationalbewegung ab, dass das friedliche Nebeneinander der Nationalstaaten nicht so einfach umzusetzen sein würde.
Schon immer gab es Gebiete, in denen mehrere Nationalitäten nebeneinander lebten. Ein entsprechendes Konkurrieren um diese Gebiete zwischen den benachbarten Nationalbewegungen war entsprechend vorprogrammiert. Und natürlich nicht schön geredet werden dürfen vor allem die ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend auftretenden völkische Tendenzen: Überhöhung der eigenen Nation, mit der Geringschätzung nationaler Minderheiten und ideologischen Gegnern innerhalb des eigenen Staates, aber darüber hinaus auch Geringschätzung der in anderen Staaten lebenden Nationalitäten.
Es wäre Geschichtsfälschung, das 1871 gegründete Deutsche Kaiserreich auf eine Stufe zu stellen mit dem Dritten Reich. Dennoch zeigten sich schon bei der Gründung des Kaiserreiches Tendenzen, die dem Ideal der frühen Nationalbewegung – Freiheit durch Volksherrschaft und friedliche Koexistenz der Nationen – nicht gerecht wurden. Und die nicht unbeteiligt daran waren, dass später auch der Nationalsozialismus auf fruchtbaren Boden stoßen konnte:
Als „Revolution von oben“ wurde die Gründung des Kaiserreiches unter Bismarck durch jemanden vollzogen, dessen politische Ausrichtung nicht wirklich den Ideen der Nationalbewegung nahe stand. Galt er doch als „Reaktionär reinsten Wassers“, als Vertreter der Obrigkeit.
In zeitgenössischen Quellen ist auch Verwunderung nachzulesen, warum gerade er sich der Nationalbewegung annahm, mitsamt seinem Antrag auf ein gesamtdeutsches Parlament. Am plausibelsten ist, dass mit der Reichseinigung er am ehesten die preußische Machtstellung in Deutschland ausbauen konnte. Denn bekanntlich war das Kaiserreich institutionell und flächenmäßig preußisch dominiert. Die Reichsgründung war – insbesondere infolge des preußischen Sieges gegen Österreich bei Königgrätz 1866 – auch eine kleindeutsche Lösung unter Ausschluss Österreichs. Preußen hatte Österreich in der Führungsrolle über Deutschland abgelöst. Entsprechend der Reichsgründung durch Bismarck auch mit absehbaren Folgen: Das 1871 gegründete Kaiserreich hatte mehr den Charakter eines Obrigkeitsstaates. Die Befugnisse des Reichstags waren – sowohl im Vergleich der Vorstellungen von 1848 als auch unserer heutigen Maßstäbe – nur eingeschränkt. Die doch starke Ausrichtung auf Reichskanzler und Kaiser musste auch zur Loyalität gegenüber Obrigkeiten prägen. Eine starke Prägung zur Loyalität gegenüber der Obrigkeit war durchaus ein guter Nährboden für den späteren Anklang des Führerprinzips. Zumal nach 1918 die zahlreichen Probleme der Weimarer Republik wahrlich nicht förderlich waren, um Vertrauen in eine noch junge Demokratie zu bekommen.
Ebenfalls eine denkbar schlechte Voraussetzung auch im Kaiserreich für das friedliche Nebeneinander der Nationen war die Doktrin des Militarismus.
Das Militär galt nicht nur als notwendiges Mittel, um den Staat gegen Angriffe von außen zu verteidigen. Und ja, für den Verteidigungszweck muss das Militär legitim sein! Aber viel mehr wurde es geradezu ideologisch erhöht. Und vor dem Hintergrund, wie viele Staaten des 19. Jahrhunderts entstanden waren, war auch eines nicht verwunderlich: Es wurde in zeitgenössischer Wahrnehmung durchaus als legitim hingenommen, den eigenen Staat auf Kosten anderer Staaten zu formen und auszudehnen. Weder der italienische noch der deutsche Nationalstaat wären in der Form entstanden, wenn nicht andere Staaten Territorien eingebüßt hätten. Schleswig-Holstein und Elsass-Lothringen wären kein Teil des Deutschen Reiches geworden, hätten nicht Dänemark (1864) und Frankreich (1871) als Kriegsverlierer Territorien abtreten müssen. Gerade die Erbfeindschaft mit Frankreich wurde dadurch weiter verstärkt und blieb danach noch lange eine schwere Belastung für Deutschland.
Nicht gerade förderlich für ein friedliches Nebeneinander von Nationalstaaten, das ja eigentlich zu den Ideen der frühen Nationalbewegung gehörte.
Und ja, im Dritten Reich nahm dann die Überhöhung der eigenen Nationalität gegenüber anderen ihre schlimmsten Züge an. Die Grausamkeiten sind jedem Leser sicher hinlänglich bekannt.
Ein weiterer hoher Preis, über den nicht geschwiegen werden darf: Das traurige Schicksal vieler Heimatvertriebener nach dem Zweiten Weltkrieg.
Gerade zahlreiche heimatvertriebene Deutsche aus Osteuropa waren davon sehr hart getroffen. Ein erheblicher Anteil von uns heutigen Deutschen kennt durch seine eigenen Vorfahren das Leid der deutschen Heimatvertriebenen. Nicht zu vergessen sind auch viele Ungarn und Polen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Tschechoslowakei bzw. der Sowjetunion vertrieben wurden. Zugeteilt wurden ihnen übrigens oftmals die Häuser, aus denen zuvor die Deutschen vertrieben wurden.
All diese traurigen Menschenschicksale sind nicht schön zu reden. Aber genauso wenig dürfen sie uns von einem gesunden Nationalstolz abhalten.
Es war nicht ohne Grund ein wichtiger Schritt in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, sich auf die dauerhafte gegenseitige Anerkennung der Grenzen zu verständigen. So schmerzlich die – sicher nicht alternativlose – Oder-Neiße-Linie für viele Deutsche war, so wichtig war deren Anerkennung zur Versöhnung mit Polen. Die Anerkennung, dass ein erneutes Verschieben von Grenzen keine Konflikte lösen würde. In diesem Punkt haben die europäischen Nationalstaaten zum Glück viel dazu gelernt – gerade auch im nationalkonservativen Lager. Und natürlich ist es wichtig, dass ethnischen Minderheiten wie beispielsweise den Deutschen in Südtirol oder den Dänen in Schleswig-Holstein die Pflege ihrer Sprache rechtlich zugesichert wird.
Aber umso wichtiger ist, dass die bestehenden anerkannten Grenzen auch von den Staaten behauptet werden.
Allen voran – die Aufforderung! geht an Frau Merkel! – zum Schutz gegen illegale Grenzübertritte!!! Und auch sonst müssen die Nationalstaaten ihre Grenzen zum Schutz ihrer Souveränität behaupten: Die in den Nationalstaaten demokratisch beschlossenen Gesetze müssen bestimmen, wer unter welchen Bedingungen einwandern darf. Und was eine Nation in demokratischen Beschlüssen – parlamentarisch oder direktdemokratisch – in ihrem Staat an Gesetzen entschieden hat, darf NICHT mit Einwanderern neu ausgehandelt werden. An diese Gesetze müssen sich alle im Land lebenden Menschen halten: Eigene Staatsbürger und zugewanderte Staatsbürger aus anderen Staaten, Staatsbürger mit und ohne Migrationshintergrund.
Und gerade die ursprünglichen Gedanken der Nationalbewegung müssen der Grundsatz aller Nationalstaaten sein:
Eine Nation, die in demokratischer Willensbildung unter Einhaltung von Grundrechten ihre Regeln ausmacht. Und als Nationalstaat in friedlicher Nachbarschaft mit anderen Nationalstaaten existiert. Dann sind freiheitliche Demokratie und Nationalstaat zweifelsfrei vereinbar. Weil ja die Grundsätze der freiheitlichen Demokratie maßgeblich von den Nationalbewegungen getragen wurden.