Ein Gastkommentar von Marcus Franz
Mit dem Begriff der Nächstenliebe wird seit dem Beginn der Migrationskrise reichlich Schindluder getrieben. Besonders jene, die ohnehin Atheisten oder höchstens Taufschein-Christen sind, wollen den christlichen Kritikern der Massenzuwanderung ständig erklären, dass man unchristlich sei und das Gebot der Nächstenliebe missachte, wenn man nach strengeren Migrationsgesetzen verlangt oder gar geschlossene Grenzen fordert.
Von der christlichen Religion ziemlich ahnungslose Linke gesellen sich bei der Nächstenliebe-Argumentation immer gerne dazu und versuchen, mit Häme den Christen da eine Falle zu stellen. Auch viele bigotte Christen und die sattsam bekannten, immer betulichen und hypermoralischen Selbstdarsteller des öffentlichen Lebens faseln mit aufgesetzter Menschlichkeitsmiene ständig von einer Nächstenliebe, die es in einer dahergeschwafelten, allumfassenden und kritiklosen Form gar nicht gibt und gar nicht geben kann.
Der Wiener Theologe und päpstliche Ehrenprälat Karl Hörmann, der auch Ordinarius für Moraltheologie war, hat zum Thema „Nächstenliebe“ schon vor Jahrzehnten Grundlegendes verfasst. Die Lektüre seiner Stellungnahme kann denjenigen, die ständig von der Nächstenliebe reden, aber von der Begrifflichkeit und ihrer Bedeutung kein wirklich profundes Wissen haben, zur Erweiterung ihres Horizontes und zur Wahrheitsfindung dienen. Hier ein Auszug aus seinem Lexikon der christlichen Moral von 1976:
„Gerade an der Erkenntnis, daß sich das Gebot der Nächstenliebe auf jeden Menschen erstreckt, wird klar, daß dieses Gebot ein Richtungsgebot ist. Der Mensch mit seinem beschränkten Können stößt in der Verwirklichung der Nächstenliebe bald an Grenzen. Wohl ist er zur Gesinnung der Liebe jedem Menschen gegenüber wenigstens so weit verpflichtet, daß er keinen ausdrücklich aus der Nächstenliebe ausschließt und daß er bereit ist, für jeden das Entsprechende zu tun, wenn die Situation eine Forderung drängend werden läßt. In der Betätigung der Nächstenliebe erreicht der Mensch nur allzu rasch die Grenzen seiner Möglichkeiten: Schon innerlich kann er nicht jedem Mitmenschen seine liebende Aufmerksamkeit zuwenden und noch weniger kann er sich für die Anliegen eines jeden Mitmenschen durch die Tat einsetzen.
So bleibt ihm nichts anderes übrig, als für das Tun der Nächstenliebe eine kluge Auswahl zu treffen, etwa nach seiner näheren oder entfernteren Verbundenheit mit den Mitmenschen,nach der Größe ihrer Not, nach dem Rang der Werte, um die es für sie geht (vgl. Pflichtenkollision, Wert).
Wenn sich z.B. mehrere Mitmenschen in gleicher Not befinden, drängt die Nächstenliebe den Menschen zur Hilfe für den, der ihm durch alle Gegebenheiten und Fügungen am nächsten verbunden ist; bei gleicher Verbundenheit aber fordert die Nächstenliebe den Einsatz dort, wo die Not am größten ist.“
Allein aus diesen paar Zeilen geht hervor, dass der Mensch mit seiner Nächstenliebe haushalten muss. Anders gesagt: Ernst gemeinte Nächstenliebe hat ganz klar selektiv zu sein.
Man kann weder vom Einzelnen noch von Gruppen noch von Völkern fordern, dass sie sich bedingungslos unter ein Gebot der uferlosen Nächstenliebe stellen, denn das würde im Extremfall die Aufgabe der jeweils eigenen Person (und im Größeren auch der eigenen Nation) bedeuten. Das ist nicht der Sinn von Nächstenliebe, sondern höchstens ihre Perversion.
„Liebe deinen Nächsten wie dich Selbst“ heisst vor allem auch, zuerst sich selbst zu lieben. Denn wer sich selbst nicht liebt und nicht auf sich schaut, der kann auch den Nächsten nicht lieben und ihm auch nicht helfen. Eine wirklich hilfreiche Nächstenliebe ist ohne die Selbstachtung und den Selbstschutz gar nicht möglich.
Diese Bedingungen blenden unsere Menschlichkeits-Prediger aber gerne aus – entweder weil sie betulich und mit Halbwissen agieren oder, viel schlimmer, weil sie es vorsätzlich tun, um den Leuten ein schlechtes Gewissen einzuimpfen und den migrationsfreundlichen Mainstream für ihre dubiosen Eigeninteressen zu bedienen. Beide Argumentationslinien sind höchst unredlich und schaden am Ende allen.
Der ehemalige Präsidentschaftskandidat Andreas Khol hat genau diesen Punkt in einer Rede zum Thema Migration aufgegriffen: „Charity begins at home. Es heisst ja Nächstenliebe und nicht Fernstenliebe“ sagte er sinngemäß Anfang des Jahres.
Khol erntete dafür einerseits Kritik von Bischöfen, weil sie meinten, Politik solle nicht den Glauben vereinnahmen, andererseits gaben sie ihm aber auch definitiv recht. Nächstenliebe betrifft vor allem jene, die im eigenen Umfeld in Not geraten sind.
Und es geht bei der Nächstenliebe natürlich auch um eine Auswahl und eine Entscheidung, welchen in Bedrängnis geratenen größeren Menschengruppen oder Völkern man zuerst helfen soll. In der Bibel steht dazu Interessantes: „Lasset uns an jedermann Gutes tun, vor allem aber an den Genossen im Glauben“ (Brief an die Galater 6,10). Wer diesen Satz ernst nimmt, muss auch vehement fordern, dass den verfolgten Christen im Orient zuallererst geholfen wird.
Ansätze dazu gab es in der österreichischen Politik, aber sie wurden von links torpediert – paradoxerweise auch mit dem Hinweis auf die Nächstenliebe, die doch für alle gälte.
Die bürgerlichen Politiker, die Hilfsprojekte für Christen im Orient initiieren wollten, wurden damit (aus-) gebremst – auch von den christlichen NGOs. Vermutlich haben sie alle Karl Hörmann nicht gelesen und auch nicht den Brief an die Galater.
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