Ein gefährlicher Trend macht sich breit auf den Straßen deutscher Städte: Immer mehr sogenannte Journalisten und Fotojournalisten drängen sich auf Demonstrationen und Protestveranstaltungen bewusst in die erste Reihe. Ein Gastbeitrag von Kevin Eßer.
Nicht, um neutral zu berichten, sondern um sich aktiv in das Geschehen einzumischen. Der Unterschied zwischen Journalismus und Aktivismus verwischt zunehmend. Und das hat Konsequenzen für Polizei, Gesellschaft und den Journalismus selbst.
Ist die Pressefreiheit ein Schutzschild für Blockadeaktionen?
Wer sich bei Großdemonstrationen umsieht, bemerkt schnell: Dort, wo sich Polizeiketten bilden und Konfrontationen drohen, stehen häufig nicht nur Demonstrierende, sondern auch eine dichte Front von Fotografen. Viele von ihnen tragen sichtbare „Presse“-Binden oder Westen, einige sind akkreditierte Freiberufler, andere wiederum arbeiten für keine offizielle Redaktion, sondern betreiben politische Blogs oder soziale Kanäle mit hoher Reichweite.
Ein Teil dieser Personen agiert nicht mit der gebotenen journalistischen Neutralität. Sie stellen sich demonstrativ in den Weg von Polizeieinheiten, blockieren Absperrungen, mischen sich unter Protestierende und greifen, wenn sie zur Seite gedrängt werden, schnell zur ultimativen Waffe: dem Hinweis auf die Pressefreiheit nach Artikel 5 GG.
Doch wie weit reicht diese Freiheit? Und wann wird sie zur Schutzbehauptung?
Zitate aus Polizeikreisen: „Das hat nichts mehr mit Berichterstattung zu tun“
Aus Polizeikreisen ist der Unmut deutlich zu vernehmen. Ein erfahrener Einsatzleiter einer Großstadt, der anonym bleiben möchte, berichtet:
„Wir erleben es regelmäßig, dass sich vermeintliche Journalisten mit der Kamera direkt vor unsere Beamten stellen, gezielt eskalieren, provozieren und den Einsatz behindern. Das hat nichts mehr mit Berichterstattung zu tun – das ist kalkulierter Aktivismus.“
Tatsächlich wurden bereits mehrere Verfahren gegen sogenannte „Bürgerjournalisten“ eingeleitet, die Platzverweise missachteten, polizeiliche Maßnahmen blockierten oder sogar zur Gewalt aufriefen, etwa durch gezielte Veröffentlichung von Einsatzkräften in Nahaufnahme.
Das ethische Dilemma zwischen Kamera und Gesinnung.
Der Deutsche Presserat schreibt im Pressekodex unmissverständlich: „Journalistische Berichterstattung muss unabhängig, sachlich und wahrhaftig erfolgen. Die Trennung von Bericht und Meinung ist ein Grundprinzip journalistischer Arbeit.“
Doch manche Journalisten scheinen diesen Kodex nicht nur zu ignorieren, sondern aktiv zu unterlaufen. Besonders problematisch wird dies, wenn Bildmaterial politisch motiviert verwendet wird, nicht zur Information, sondern zur Diskreditierung.
Diffamierung durch die Linse, wenn Nahaufnahmen zur Waffe werden
In zunehmendem Maße werden Aufnahmen von Personen, oft in Nahaufnahme, ohne Unkenntlichmachung gezielt veröffentlicht, um sie im beruflichen oder sozialen Umfeld zu diskreditieren. Dies betrifft sowohl Demonstrationsteilnehmende als auch Polizeibeamte, Politiker oder Passanten.
Ein besonders kritischer Fall wurde im Umfeld der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen bekannt: Auf einem bekannten linken Blog wurden Nahaufnahmen eines Polizeibeamten veröffentlicht, samt Dienstort und spekulativer Beschreibung seiner „möglichen politischen Gesinnung“. Kurz darauf erhielt seine Familie Drohbriefe. Die Staatsanwaltschaft ermittelte, ohne Erfolg.
Medienrechtlich bewegen sich solche Fälle in einer Grauzone. Zwar erlaubt die Pressefreiheit viel, doch das gezielte Fotografieren zur sozialen oder beruflichen Diskreditierung verletzt Persönlichkeitsrechte und überschreitet damit die Grenze zur legalen Berichterstattung.
Auch Dr. Gernot Lehr, Medienrechtler aus Köln, warnt: „Pressefreiheit ist kein Freifahrtschein. Wenn Bilder gezielt dazu verwendet werden, Menschen öffentlich an den Pranger zu stellen, ist das keine journalistische Arbeit mehr, sondern Persönlichkeitsverletzung – mit möglichen strafrechtlichen Konsequenzen.“
Geschichtlicher Rückblick, die Kamera als politisches Werkzeug
Die Geschichte kennt viele Fälle, in denen Journalismus instrumentalisiert wurde. Teils bewusst, teils aus moralischem Überschwang:
Weimarer Republik (1920er): Arbeiterfotografen wie die „Rote Hilfe“ dokumentierten soziale Kämpfe, doch ihre Bilder waren oft mehr Agitprop als Dokumentation. Sie sollten Klassenkampf schüren, nicht neutral informieren.
Vietnamkrieg: Die weltberühmten Bilder von Napalm-Opfern oder Hinrichtungen veränderten die öffentliche Meinung radikal. Manche Fotografen standen selbst auf Seiten der Antikriegsbewegung und verschleierten ihre Nähe zur Szene bewusst.
Genua 2001: Während des G8-Gipfels lieferten Aktivisten mit Kamera gezielt Bilder, die Polizeiübergriffe suggerierten, obwohl sie selbst die Konfrontation aktiv herbeigeführt hatten. Später wurde bekannt, dass einige Szenen inszeniert oder manipuliert waren.
Wer kontrolliert die Kontrolleure?
Eine zentrale Schwäche im heutigen Mediensystem ist die mangelnde Kontrolle freischaffender Journalisten. Während Redaktionen und Verlage Verantwortung übernehmen müssen, wenn ihre Mitarbeiter Grenzen überschreiten, gibt es für Solo-Akteure auf Internetplattformen kaum Sanktionen.
Auch Berufsverbände wie der DJV oder Netzwerk Recherche schweigen oft aus Solidarität oder weil eine klare Trennung zwischen Aktivist und Journalist nicht mehr gewagt wird.
Journalismus braucht Haltung, aber keine Parteinahme
Die demokratische Gesellschaft braucht freien, investigativen Journalismus. Doch dieser darf seine Integrität nicht aufs Spiel setzen, indem er sich mit politischen Gruppen gemein macht oder sich zum Werkzeug ideologischer Kämpfe macht.
Die erste Reihe gehört denen, über die berichtet wird. Nicht denen, die sich selbst inszenieren. Und wer mit der Kamera Gewalt provoziert oder Persönlichkeitsrechte verletzt, darf sich nicht auf die Pressefreiheit berufen. Pressefreiheit ist Verantwortung. Kein Freifahrtschein.
Quellen:
Deutscher Pressekodex, Ziffer 1, 2 und 11 – www.presserat.de — Artikel 5 Grundgesetz – www.gesetze-im-internet.de — Interview mit Polizeiführer (anonym), geführt im Mai 2025 — Lehr, Gernot: Vortrag auf den Medientagen München 2022, Panel „Pressefreiheit und Verantwortung“ — Studie: „Aktivismus im Journalismus?“, Medienanstalt Berlin-Brandenburg, 2023 — Dokumentation „Bilder gegen den Staat“, ARD, 2021.
Hier geht es zum X-Profil des Autors. Foto: Kevin Eßer.
***
Ganz aktuell. Urteil vom 12.06.25 des Finanzgerichts Cottbus:
Meine über ein Jahr mit Rechtsanwalt vorbereitete Klage gegen das Finanzamt, das alle Schenkungen (weil Blog rechtspopulistisch und staatskritisch sei) als Einnahmen mit Umsatzsteuer nachversteuert haben will, wurde abgewiesen. Ich überlege nun, ob ich es mir auch noch leisten kann, in Revision zu gehen…
Hier die Hintergründe
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.