Gastbeitrag von Meinrad Müller
Für uns Kinder, im Bayern des Jahres 1959, war das Osterlamm nicht nur ein Brauch, sondern ein kleines Wunder aus Teig, das sich Jahr für Jahr vor unseren Augen vollzog. Wenn heute zu Ostern Schokoladenhasen in glänzender Folie aufgereiht stehen, erinnert sich kaum noch jemand an das schlichte, würdige Osterlamm aus der heimischen Backform.
Am Karsamstag begann alles in der Küche. Unsere Mutter holte Butter, Zucker, Eier und Mehl aus der Speisekammer. Der Rührteig entstand wie von Zauberhand. Wir saßen zu dritt am Tisch, fünf, sechs, acht Jahre alt, und staunten, wie aus den einfachen Zutaten ein duftender Teig wurde. Dann wurde der Teig in die schwere eiserne Lammform gefüllt. Es war eine zweiteilige Metallform, die auf vier kleinen Füßen stand und so in den Backofen gestellt werden konnte. Der Kopf des Lämmchens zeigte dabei nach unten.
Als der Rührlöffel zur Seite gelegt wurde, kam für uns der beste Teil. Wir durften mit den Fingern in die Schüssel greifen, alle gleichzeitig. Niemand musste kämpfen, niemand kam zu kurz. Unsere Mutter wusste das und machte wohl auch ein bisschen mehr Teig, damit wir Freude daran hatten.
Nach dem Backen im Küchenherd musste das Lamm gut auskühlen. Beim Öffnen der Form hielten wir den Atem an. Es war jedes Jahr ein kleines Ereignis, das goldbraune Lamm heil und ganz aus der Form zu lösen. Dann wurde es mit Puderzucker bestäubt. Es bekam ein rotes Halsband mit einem Glöckchen, und in den Rücken steckten wir ein kleines Fähnchen mit rotem Kreuz, das sogenannte Osterbanner.
Am Abend bereiteten wir gemeinsam das runde Tablett vor, auf dem das Lamm am nächsten Tag zur Kirche getragen werden sollte. Zuerst legten wir mehrere Brotscheiben darauf aus, nämlich dunkles, hartes Brot vom Vortag. Dann wurde darüber ein rundes, weiß gehäkeltes Tuch gebreitet. Darauf erst kam das Osterlämmchen. Ringsum platzierten wir etwa zwanzig bunte Eier, die wir am Vortag selbst gefärbt hatten. Für uns Kinder war das keine Zuschauerrolle. Wir waren beteiligt, von Anfang bis Ende. Vielleicht gerade deshalb blieb uns dieser Brauch so tief in Erinnerung. Es war so spürbar, dass wir ihn später einmal weitergeben sollten.
Am Ostersonntag, vor der Messe, trugen wir das Tablett vorsichtig zur Kirche. Vor der Kommunionbank wurden nach und nach etwa achtzig solcher Tabletts abgestellt, alle mit einem Lamm, mit Eiern, mit Sorgfalt geschmückt. Der Pfarrer ging mit dem Weihwasser durch die Reihen, sprach lateinische Segensworte und ein Ministrant schwenkte das Weihrauchfass. So richtig feierlich. Die Brotscheiben unter dem Lamm, gut verborgen unter dem weißen Tuch, gerieten dabei wohl nicht in seinen Blick. Aber sie wurden heimlich, quasi huckepack mitgesegnet. Und das war nicht ganz ohne Absicht.
Kaum waren wir zurück von der Kirche, wanderten diese Brotscheiben in den Stall. Unser Vater brachte sie den Kühen. Wir Kinder durften die Brotscheiben den Kühen vor das Maul halten. Diese zogen sie mit ihrer langen Zunge ins Maul und zerkauten genüsslich. Natürlich wussten die Tiere nichts vom Geschehen in der Kirche. Aber wir wussten es und dachten uns: Schaden kann’s nicht. Immerhin hing die ganze Existenz des Bauernhofs an ihrer Milch. Wer konnte sagen, ob sich der göttliche Segen nicht auch auf diese Weise entfalten konnte?
Vielleicht war es genau das, was diesen Brauch so lebendig machte. Die Verbindung von Alltag und Andacht, von Küche und Kirche, von Kindern und Kühen. Es war keine große Geste und kein Spektakel, sondern ein stiller Moment, der überdauerte. Bis heute.
Es sei denn, man hat den Brauch vergessen.
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