Samstag, 21. Dezember 2024

Kennt das Verfassungsgericht die Verfassung?

Anscheinend nicht. Das Urteil des Verfassungsgerichts über die Wahlreform der Ampel ist ein Schlag ins Gesicht der Wähler und eine Stärkung der Parteiwahllisten, bei denen der Wähler keinerlei Mitspracherecht hat. Ein Gastbeitrag von Vera Lengsfeld

Dabei ist das Grundgesetz eindeutig

„Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“

Durch das Urteil des Verfassungsgerichts ist dieser Satz des Artikels 38 GG praktisch nicht mehr gültig. Wenn, wie von der Ampel gewollt, künftig die Parteilisten stärker sind als die Direktmandate, heißt das nichts anderes, als dass das Mitspracherecht der Wähler in ihrem Wahlkreis „unmittelbar frei“ zu bestimmen, wer sie im Parlament vertritt, ausgehebelt ist. Künftig sollen, wenn es mehr Direktmandate gibt, als die Partei Zweitstimmen hat, Direktkandidaten nicht ins Parlament einziehen dürfen. Damit hat das Gericht, das über unsere Verfassung wachen soll, den Vorstoß der Ampel, den Geist der Verfassung auszuhebeln, unterstützt.

Mit welcher Arroganz die Ampel reagiert, ist atemberaubend. In einem Punkt hat das Gericht nämlich dem Vorhaben der Ampel widersprochen: Die Grundmandatsklausel, nach der eine Partei auch dann in den Bundestag einziehen kann, wenn sie an der 5%-Hürde scheitert, soll beibehalten werden. In der Vergangenheit hat die SED-Linke von dieser Regelung profitiert. Nach der letzten Wahl ist sie nur dank dreier Direktmandate in den Bundestag eingezogen. Der Vorstoß der Ampel war gegen die CSU gerichtet, die bei der nächsten Wahl zwar die 5% bundesweit verfehlen könnte, aber durch ihre Direktmandate in Bayern wieder in den Bundestag eingezogen wäre. CSU und Linke können sich freuen, dass der Versuch, die Grundmandatsklausel abzuschaffen, gescheitert ist. Die Ampel müsste also dringend Nachbesserungen an ihrem Entwurf vornehmen. Es sieht nach den ersten Reaktionen nicht danach aus.

Mein Autor Peter Schewe schreibt dazu:

„Die Parteien haben weiterhin einen maßgebenden Einfluss auf die Auswahl derer, die das Wahlvolk wählen darf. Angenommen, ein parteiloser Bewerber erränge in seinem Wahlkreis die meisten Stimmen. Er hätte nie eine Chance, in den Bundestag zu kommen, da er ohne Parteizugehörigkeit keine Zweitstimme erhielte. Die Parteien haben sich über die Einführung einer Zweitstimme eine Macht erobert, die ihnen nach dem Grundgesetz nirgends eingeräumt wird. Lediglich der Artikel 21 billigt ihnen eine Mitwirkung bei der politischen Willensbildung des Volkes zu. Von einer Rolle, geschweige denn von einem alleinigen Recht, die Kandidaten zu den Bundestagswahlen auswählen bzw. aufstellen zu dürfen, ist im Grundgesetz nichts zu finden. Nicht von rechts oder links oder aus welcher Himmelsrichtung auch immer ist unsere Demokratie gefährdet. Die Angriffe aus der Mitte der Verfassungsorgane selbst sind es, die versuchen, das Grundgesetz und die darauf beruhenden Gesetze ihrem Machtanspruch entsprechend umzugestalten und so unsere rechtsstaatlich verfasste Demokratie zu untergraben. Der Souverän, das Volk, spielt dabei schon längst keine bestimmende Rolle mehr.“

Es ist immer wieder behauptet worden, es gehe um Gerechtigkeit. Jede Stimme müsse zählen. Das meinen die Politiker, die das behaupten, aber nicht ernst. Denn gerecht wäre es, wenn jede Wählerstimme wirklich zählte, es also keine Prozenthürde gäbe, an der kleine Parteien bislang noch scheitern. Bei der Wahl zum Europäischen Parlament ist die Prozenthürde bereits abgeschafft. Hier muss nur eine bestimmte Anzahl von Wählerstimmen erreicht werden, um einen Abgeordneten ins Parlament zu schicken. Außerdem ist die Anzahl der Abgeordneten, die ins Parlament einziehen können, gedeckelt. Was hat die Ampel gehindert, dieses Modell einfach zu übernehmen?

Richtig, die Macht der Parteifunktionäre wäre geschwächt, die Demokratie aber gestärkt worden. Beides liegt offenbar nicht im Interesse der Ampel.

Der Beitrag erschien zuerst bei VERA LENGSFELD.

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