Samstag, 27. April 2024

Wäre Willy Brandt heute ein Putinversteher?

Willy Brandt pflegte um der Entspannung willen eine freundschaftliche Atmosphäre mit einem Diktator, der Angriffskriege führte, die Selbstbestimmung anderer Völker missachtete und Menschen, darunter auch Regimegegner, in Straflagern foltern und töten ließ. Ein Gastbeitrag von Frank Steinkron

Als der Generalsekretär der KPdSU Leonid Breschnew 1973 die damalige Bundeshauptstadt Bonn besuchte, galt dies als ein Meilenstein in der von der sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) angestoßenen Entspannungspolitik. Der evangelische Theologe Martin Niemöller, Widerstandskämpfer im Dritten Reich und KZ-Überlegender, verlieh der Hoffnung Ausdruck, dass das, „was an Resten von Kalter-Kriegs-Stimmung“ in Teilen der deutschen Bevölkerung noch lebendig sei, alsbald überwunden werde. Der sowjetische Botschafter Valentin Falin sprach sogar von einer „Apotheose der sowjetisch-deutschen Annäherung auf der Basis einer grundsätzlichen Wendung des Blicks nach Osten.“

Wesentlich beigetragen zu diesem Eindruck hatte das herzliche Verhältnis zwischen den beiden Staatsmännern. Besonders deutlich kommt es in einer Fotografie zum Ausdruck, die Breschnew im Garten von Brandts Privathaus zwischen dem Kanzler und dessen Gattin Rut zeigt: mit beiden untergehakt, den Kopf leutselig zur Seite geneigt.

(c) Link zu https://www.staev.de/berlin-airport/picturebook/wand02/8-pb02001.html

Die Herzlichkeit zwischen Brandt und Breschnew – heute undenkbar

Eine solche Szene mit Bundeskanzler Olaf Scholz, seiner Ehefrau Britta Ernst und Wladimir Putin wäre absolut undenkbar – selbst wenn der russische Präsident nicht fürchten müsste, in Deutschland wie ein Kriegsverbrecher behandelt zu werden. Das mindeste, was Scholz nachgesagt würde, wäre, er sei ein „Putinversteher“. Doch warum eigentlich?

Ebenso wenig wie Putin war Breschnew eine „lupenreiner Demokrat“. 1953 und 1956, als die Aufstände in der DDR und in Ungarn von Panzern plattgewalzt wurden, zählte er bereits zu den politisch Hauptverantwortlichen innerhalb der Sowjetunion. 1968 verfügte er, inzwischen Generalsekretär der KPdSU und damit sowjetischer Staatschef, die blutige Niederschlagung des Prager Frühlings. 1980 ließ er in Polen das Kriegsrecht verhängen. Bereits ein Jahr zuvor hatte er mit der Invasion in Afghanistan eine neue Phase des Wettrüstens eingeleitet. Innenpolitisch beendete er den Reformkurs seines Vorgängers Chruschtschow. Die unter den Zaren und Stalin errichteten Straflager bestanden unter ihm weiter fort.

Wandel durch Annäherung

Mit anderen Worten: Willy Brandt pflegte um der Entspannung willen eine freundschaftliche Atmosphäre mit einem Diktator, der Angriffskriege führte, die Selbstbestimmung anderer Völker missachtete und Menschen, darunter auch Regimegegner, in Straflagern foltern und töten ließ. Egon Bahr, der Chefstratege der Entspannungspolitik, sprach damals dennoch von einem „Wandel durch Annäherung“. Scholz und andere westliche Politiker hingegen wünschen keine Annäherung. Sie wollen mit Putin nicht einmal reden, selbst wenn dadurch ein Krieg beendet würde, der die Ukraine mittelfristig ruiniert und entvölkert und Europa, vor allem aber Deutschland in große Gefahr bringt.

Die Arroganz des Westens nach dem Untergang der Sowjetunion

Angesichts dieses Befundes stellt sich die Frage, was sich in den letzten 50 Jahren geändert hat. Offensichtlich fühlt sich der Westen seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Sieger der Geschichte: in politischer, wirtschaftlicher und vor allem moralischer Hinsicht. Aus dieser Attitüde heraus hat er schrittweise die ehemaligen Ostblockstaaten entgegen allen Versprechungen in die Nato und die EU aufgenommen. Für die Ukraine, die im Mittelalter immerhin den Kern der russischen Nation bildete, plant er dasselbe, letztlich mit dem Ziel, amerikanische Raketen an der russischen Grenze aufzustellen.

Den USA und ihren westeuropäischen Vasallen geht es mehr denn je um nackte Hegemonialpolitik. Dazu gehört auch die Aufrechterhaltung jener unipolaren Weltordnung, die nach dem Zusammenbruch der UdSSR entstanden ist. Russland, das unter Jelzin und Putin die Annäherung, ja den Anschluss an den Westen suchte, wurde demütigend abgewiesen. In der anstehenden Auseinandersetzung mit China soll es nun auch geopolitisch geschwächt werden.

Zu Breschnews Zeiten dagegen akzeptierte der Westen, dass die Sowjetunion über den Ostblock als ihren eigenen Macht- und Sicherheitsbereich herrschte. Selbst wenn Demokratiebewegungen gewaltsam unterdrückt wurden, beschränkte man sich auf Proteste. Zwar unterstützte die CIA ab 1980 die polnische Solidarność-Bewegung logistisch, doch trug sie – anders als beim Maidan 2014 – nicht aktiv zu einem Umsturz bei.

Die moralische Autismus der heutigen Systemeliten

Hinzu kommt, dass viele Politiker heute weder über eine Berufsausbildung noch über gesunden Sachverstand verfügen. Sie sind Ideologen und Hypermoralisten. Sie berufen sich scheinheilig auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, missachten aber die Autonomiebestrebungen der Russen im Donbass. Die Verbrechen von Burtscha, deren Urheberschaft nach wie vor ungeklärt ist, wird zum Menetekel. Die Massenmorde durch ukrainische Ultranationalisten an Russen werden hingegen geflissentlich übersehen.

Bei dieser selektiven Wahrnehmung könnte nicht zuletzt ein psychologischer Faktor mitspielen. Zumindest unterbewusst ahnt der Westen seine Dekadenz und seine geistige, kulturelle und demographische Selbstzerstörung. Im Gegenzug missgönnt er Russland die nationale Vitalität. Selbstzweifel werden durch Großspurigkeit kaschiert, Selbsthass durch Fremdhass überblendet. Zugleich zielen ideologische Selbstverabsolutierung und moralische Selbstüberhöhung auf eine Dämonisierung jener Politiker, die für andere Werte und Ziele stehen. Neben Putin wären Donald Trump und Viktor Orbán zu nennen.

Das Wiedererwachen deutscher Großmannssucht

Für diesen Hass sind die Deutschen besonders anfällig. Innenpolitisch konkretisiert er sich im sogenannten Kampf gegen Rechts. Nach der finsteren NS-Zeit, die umso mehr heraufbeschworen wird, je weiter sie zurückliegt, wollen die Deutschen sich vor Freund und Feind endlich als die Guten, ja als die Besten profilieren. Dabei fällt der selbsternannte Moralweltmeister ausgerechnet in die jene Verhaltensmuster zurück, die er vorgeblich zu überwinden trachtet. Wieder einmal soll am deutschen Wesen die Welt genesen, heißt Deutschsein, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun. Erneut wird die öffentliche Meinung gleichgeschaltet, geht der Staatschutz gegen kritische Bürger vor. Abermals gedeiht die Verachtung des russischen Untermenschen, schielen deutsche Offiziere auf eine Eroberung der Krim. Die Kriegsbegeisterung, die Marin Niemöller 1973 überwunden glaubte, ist zurückgekehrt – zumindest in den Köpfen des Establishments. Einige Protagonisten wie Marie Agnes Strack-Zimmermann träumen sogar vom Endsieg, wenngleich ihre Wunderwaffe nicht mehr V2, sondern Taurus heißt.

Brandts unwürdige Erben

Politiker der alten Bundesrepublik wie Konrad Adenauer, Helmut Schmidt und eben auch Willy Brandt hatten die Schrecken der NS-Zeit und des Krieges persönlich erlebt und erduldet. Anders als der heutige Politikernachwuchs, der in sorgenfreien Wohlstand mit Geschichten über Pippi Langstrumpf aufgewachsen ist, glaubten sie nicht, dass man sich die Welt machen könne, wie sie einem gefällt. Der offenbar immer wiederkehrende Irrglaube von einem „Triumph des Willens“ war zumindest damals einem nüchternen Pragmatismus gewichen. In diesem Sinne wurde auch eine herzlichen Begegnung mit dem Diktator Breschnew als eine Chance begriffen.

Das Fazit

Eigentlich wäre es höchste Zeit, dass die SPD sich auf das Erbe des Friedensnobelpreisträgers Willy Brandt zurückbesinnt. Auch bleibt zu hoffen, dass Olaf Scholz wenigstens in Fragen der Taurusraketen dem Druck der Falken von CDU, FDP und Grünen standhält. Sollte er auch in diesem Punkt nachgeben, wäre es an der Zeit, dass die SPD ihre Parteizentrale umgehend umbenennt. Den ersten Schritt hat sein Generalsekretär Lars Klingbeil unlängst getan, als er forderte, man müsse sich von der „Willy-Brandt-Folklore“ und dem Prinzip „Wandel durch Handel“ verabschieden. Ein sehr riskanter Satz. Denn manch ein Wandel kommt schneller, vor allem aber auch anders, als man denkt.

 

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