Gastbeitrag von Meinrad Müller
Der Schock saß 30 Studierenden der Texas A&M University in den Gliedern: Ihr Professor teilte ihnen per E-Mail mit, dass er ihre letzte Seminararbeit nicht anerkennen würde. Ohne diese Note gibt es keinen Abschluss und kein Master-Diplom. Der Grund: Der Professor hatte den Verdacht, dass seine Studierenden eine clevere Abkürzung nahmen und sich die Denkarbeit vom KI-Roboter ChatGPT abnehmen ließen.
Die viel benutzte Lederhose des Autors glänzte speckig. Diese dunkle Fläche eignete sich daher hervorragend als Notizfläche. Mit der spitzen Nadel des Zirkels konnten Formeln und Jahreszahlen „eingeritzt“ werden. Selbst wenn der gesenkte Kopf des Schülers während der Schulaufgabe auf die „Daten“ auf der Lederhose gerichtet war, fiel dies den Lehrern nicht auf. Das aktuelle Wissen griffbereit zu haben, war besonders für Schüler damals hilfreich.
Hilfsmittel für Schüler erst nach und nach
In grauer Vorzeit waren Rechenschieber und Algorithmentafeln zum Lösen von Rechenaufgaben erlaubt. Die Verwendung des aufkommenden Taschenrechners wurde in Prüfungen jedoch sofort verboten.
Es dauerte noch Jahrzehnte, bis der Taschenrechner als ein erlaubtes Hilfsmittel eingesetzt werden durfte. Eine Folge davon war, dass dabei die Kunst des Kopfrechnens verloren ging. Das merken wir heute beim Einkaufen, wenn das Verkaufspersonal 3,20 Euro von 10 Euro mit dem Taschenrechner subtrahiert.
Eltern, die ihren Kindern etwas besonders Gutes tun wollten, investierten gut 8000 Mark (auf Raten) in 30 Bände des Großen Brockhaus. Rund 24.500 Seiten mit 300.000 Stichwörtern halfen ihnen dabei. Das Wissen der Welt, nach ABC geordnet, stand im Wohnzimmerschrank, teils um die Verwandtschaft zu beeindrucken, teils um dem Nachwuchs die Möglichkeit zu geben, nachzuschlagen, wie tief der Gardasee oder der Atlantik ist.
Und dann kam 1998 Google
Der Verkauf des Großen Brockhaus brach infolge im Jahre 2000 ein, weil jeder es nützlich fand, aktuelle Informationen schnell zu finden. Während die Daten im Brockhaus schnell veralteten, konnte neues Wissen nur über Suchmaschinen gewonnen werden. Doch Vorsicht war und ist geboten. So wie die Brockhaus-Redaktion entschied, dies oder jenes nicht zu erwähnen, so verhält es sich heute. Unliebsame Seiten werden in der Google-Suche gar nicht erst angezeigt.
Plötzlich tauchte im November 2022 am Horizont eine kostenlose Online-Version einer künstlichen Intelligenz auf, welche die Google-Suche weit in den Schatten stellt. Während wir bei Google nach Stichworten suchen und unzählige Treffer präsentiert bekommen, geht ChatGPT einen Schritt weiter. Wir erhalten vorgefertigte Zusammenfassungen, die auf den ersten Blick kaum von menschlichen Texten zu unterscheiden sind. Würde man aber 10 Schüler einen Aufsatz über die Reichsgründung schreiben lassen, könnten die Ergebnisse doch sehr unterschiedlich ausfallen. Der Roboter reagiert vor allem auf die Formulierung der Fragen, die bis zu 3000 Zeichen lang sein können. Nur wer sein bisheriges Wissen, seine Vermutungen, Befürchtungen und Hoffnungen formulieren kann, erhält korrekte Ergebnisse.
Schulbehörden weltweit im Dilemma
Während ChatGPT in einigen Staaten und Ländern verboten ist, wird es in anderen Schulen sogar gefördert. Der Vorfall in Texas unterstreicht auch die Notwendigkeit für Bildungseinrichtungen, sich auf die zunehmende Verbreitung von KI-Technologien einzustellen.
Das bedeutet, dass Lehrpläne und die Ausbildung von Lehrern angepasst werden müssen. Experten argumentieren, dass es unrealistisch ist, den Einsatz von KI-Tools wie ChatGPT im Klassenzimmer zu verbieten. Stattdessen sollten Pädagogen klare Anweisungen geben, wie diese Tools auf ethische Weise eingesetzt werden können.
Wenn Künstliche Intelligenz in die Hose geht
ChatGPT-4 erlaubt seit Mitte Mai 2023 auch die Installation von Zusatzprogrammen (Plugins), die auf aktuelle Weltdaten zugreifen können. Wie das schiefgehen kann, zeigt dieses aktuelle Beispiel:
21. Mai 2023:
Frage an ChatGPT mit dem Plugin „Scraper“.
„Nenne wichtige politische Themen, die heute diskutiert werden.“
Antwort:
Es gibt eine Diskussion über Bundeskanzlerin Annalena Baerbock und ihre Politik. Es scheint einige Kontroversen um sie zu geben. Der Künstlichen Intelligenz blindlings zu vertrauen ist nicht möglich. Der gesunde Menschenverstand wird nicht obsolet.
Der Autor befasst sich nun seit sechs Monaten mit dieser Technologie. Ein tägliches Hinzulernen ist unumgänglich, um die Nützlichkeit für Wirtschaft und auch Politik zu
erproben.