Montag, 9. Dezember 2024

Eine Geschichte aus zwei Städten

Reisenotizen aus Berlin und Florenz – Von Dr. Bernd Fischer

Corona bleibt uns noch eine Weile erhalten. Nach einer entspannteren Phase nimmt das Virus nun wieder Beschlag von unserem gesellschaftlichen Leben—und wohl vor allem von unseren Köpfen. Wir beschlossen Mahnungen der Bundesregierung zu ignorieren und unser Konzept der Reisen in Orte, die wir aufgrund des gewöhnlichen Touristenandrangs sonst gemieden hätten, wieder aufzunehmen. Im Sommer war es Venedig, nun Florenz! Zuvor machten wir noch einen Abstecher in unsere Hauptstadt, die angeblich zwar arm aber sexy sein soll.

Als das Denkmal von Friedrich dem Großen noch in Potsdam stand

Zuerst also Berlin, die Stadt, die ich von klein auf immer wieder besucht und schon sehr früh durch die Ausflüge mit meinem kulturbeflissenen Cousin erkundet habe, zu einer Zeit, als das Denkmal von Friedrich dem Großen noch in Potsdam stand (bevor es 1980 wieder an seinen ursprünglichen Platz unter den Linden verfrachtet wurde) und im Palast der Republik die Olympischen Spiele von Moskau übertragen wurden. Obwohl ich nie dort gelebt habe, spielte diese Stadt für mich immer eine zentrale Rolle. Einen großen Teil meiner Familie hatte es nach dem Krieg dorthin verschlagen. Es war auch die Stadt, in der meine Mutter als junge Frau (eigentlich war sie noch ein Mädchen) im Reichsluftfahrtministerium in der Leipziger Straße noch im April 1945 Einsatzbefehle zur Verteidigung der Stadt auf der Schreibmaschine tippte und mit den anderen Schreibkräften den Führer-Geburtstag feierte. Am Folgetag wurde sie noch schnell aus Stadt herausgeschleust, bevor die Russen sie vollständig umschließen konnten. Wie oft habe ich als Kind diese Geschichten gehört. „Mein Gott, wie schreibt man „Belle-Alliance-Platz?!“ Sie konnte kein Französisch. So wurde Berlin für mich irgendwie zum Kulminationspunkt unserer komplizierten Familiengeschichte, einer Geschichte von Flüchtlingen aus den Ostgebieten, aber auch zu einem Sehnsuchtsort durch seine Bedeutung als Kunst-, Musik- und Wissenschaftsstadt …

Bevor wir wie stets bei einem Berlin-Besuch die Mitte aufsuchten, unternahmen wir zunächst Ausflüge im Westteil der Stadt. Erstaunlich, wie sich der Bereich um den Bahnhof Zoo mittlerweile gewandelt hat. Wer würde etwa angesichts der zahlreichen Döner- und Kebab-Läden noch an Berliner Weiße und Bouletten denken, wenn er typische Berliner Speisen benennen würde? Ein Symbol dieses Wandels ist auch das ehemalige Café Kranzler (Foto © Taxiarchos228, FAL, via Wikimedia Commons), an das heute nur noch die Fassade erinnert. Lediglich in der Rotunde wird noch Kaffee ausgeschenkt in einer spartanischen Ausstattung, betrieben von erst kürzlich Eingewanderten.

Selbst entlang des einst noblen Kurfürstendamms beschleicht uns angesichts der Nobelkarossen mit fremdartig aussehenden jungen Männern ein komisches Gefühl. Wir schlenderten zum Breitscheidplatz, der Weihnachten 2016 durch den Anschlag eines Mannes Berühmtheit erlangt hat, der zuvor unter 14 Alias-Namen Asyl oder Sozialleistungen beantragt hatte. Heute gleicht dieser Platz einer Festung. Rings herum wurde wie um eine mittelalterliche Burg ein Wall aus Betonpollern errichtet, die von entschiedenen Kritikern der Flüchtlingspolitik abschätzig als Merkelpoller bezeichnet werden. Immerhin erinnert diese flapsige Bezeichnung noch an die ehemals berüchtigte Berliner Schnauze. Wie kann man aber dieses erschütternde Mahnmal anders deuten als eines, das den Verlust an Freiheit und Unbefangenheit symbolisiert, den unsere Gesellschaft bereit ist, für eine weitgehend ungeordnete Immigrationspolitik in Kauf zu nehmen?

Eines dieser hippen Kinos in der Nähe vom Zoologischen Garten

Da die Opern- und Konzerthäuser coronabedingt nur Schmalkost anzubieten hatten, beschlossen wir einen Kinobesuch zu unternehmen in einem dieser hippen Kinos in der Nähe vom Zoologischen Garten, das sogar mit einem Preis von der Bundesregierung ausgezeichnet wurde. Wir bekamen eine Idee davon, welche Kriterien dieser Vergabe zugrunde gelegen haben mochten. Eigentliche Werbefilme gab es nicht, dafür aber jede Menge Schulungs- oder Propagandafilme. Neben den üblichen Corona-Mahnaufrufen noch ein Filmchen für ein Flüchtlings-NGO, in dem ein bekannter Schauspieler (Benno Soundso) an das schlechte Gewissen der Zuschauer (und an deren Geldbeutel) appelliert. Allerdings bestand durchaus Grund zur Annahme, dass die einzigen Zuschauer mit einem schlechten Corona- und Flüchtlings-Gewissen wir waren. Die anderen schienen sich an dieser Art von Volksbeglückung (natürlich Gendersprach-konform) zu erfreuen. Dann der Hauptfilm: „On the rocks“ von Sofia Copola. Er fügte sich nahtlos in die Political-Correctness-Wolke ein, von der wir umgeben waren, denn er könnte geradezu ein Musterfilm für die seitens des linken politischen Spektrums geforderte „Diversität“ in Filmen gelten. Der Film war schön bunt besetzt, ohne dass erkennbar war, welchen tieferen Sinn das Ganze ergeben sollte. Zwischen den Hauptdarstellern (unterschiedlicher Hautfarbe), die ein Ehepaar darstellten, bestand nicht die geringste emotionale Verbindung. Die Rolle des Narren wurde natürlich einem alten weißen Mann (Bill Murray) anvertraut, dem restlos alle Negativklischees (Womanizer, Hedonist etc.) aufgeladen wurden. Die Frau hatte ihren Mann in Verdacht fremdzugehen. Schließlich dämmerte es aber dem woken modernen Paar, dass sie ja bereits eine höhere Bewusstseinsstufe erklommen hatten, in der sich die hergebrachten Rollenbilder zwischen Mann und Frau und die Evolutionsgeschichte aufgelöst hatten! Der Ehemann war bereits so aufgeklärt, dass er gar nicht mehr seine Partnerin hätte betrügen können, und die Auflösung des winzigen Handlungsknotens (das Happy End) ergab sich dadurch, dass ihr bewusst wurde, wie sehr sie zu Unrecht gezweifelt hatte. Aber daran war nur der alte weiße Mann (ihr Vater) Schuld, der versucht hatte, sein überkommenes Gender-Rollenverständnis auf sie zu projizieren. Erneut musste ich an meine Mutter denken und fragte mich, ob sie wohl so ähnlich empfunden hat wie ich, wenn sie 1944 und wohl auch noch 1945 im Kino die Wochenschauen und Propagandafilme sah.

Zwischendurch erfuhren wir von der Veröffentlichung eines 44-seitigen, „diversitysensiblen“ Leitfadens des Berliner Senats für Behörden, demzufolge man u.a. nicht mehr von „Ausländern“ oder „Schwarzfahrern“ sprechen darf. Auf welch einem infantilen Niveau mittlerweile operiert wird!

Idylle Preußisch-Arkadiens

Nach diesen ernüchternden Erlebnissen, beschlossen wir in die Idylle Preußisch-Arkadiens zu entfliehen. Wir unternahmen also Ausflüge nach Potsdam und genossen die Parklandschaften des Schlossparks Babelsberg und der Pfaueninsel.  – Hier atmet man freier, und obwohl die Bauwerke der preußischen Könige ein ziemliches Durcheinander an unterschiedlichen Baustilen ergeben—Sanssouci ist ein Rokokoschlösschen, der Lange Stall in Potsdam ist reiner Palladianismus, das Neue Schloss Palladianismus im englischen Gewande, die Alte Bibliothek in Berlin wurde im Stil des Wiener Barocks und Schloss Babelsberg im Tudorstil erbaut usw.— so formen sie mit den sie umgebenden Gebäuden bzw. Parklandschaften doch immer ein mehr oder weniger schlüssiges Gesamtensemble.

Beim Nachdenken darüber stellt sich durchaus ein europäischer Zusammenhang her (zumindest eine Illusion davon), denn die „Copy and paste“ Methode in Bezug auf die Architektur der Antike und der Renaissance (insbes. natürlich Palladio) wurde nicht nur in Preußen, sondern auch in England, Russland und vielen anderen Ländern angewandt.

Schließlich näherten wir uns der Berliner Mitte über einen Besuch der Gemäldegalerie am Kulturforum. Es besteht wahrlich kein Mangel an gänzlich missratenen Plätzen in dieser Stadt: Alexander, Potsdamer, Reuter, Mehring, der Platz vor dem Hauptbahnhof usw. Aber wohl keiner in Berlin— ja in unserer gesamten Republik—verdeutlicht die These von Wolf Jobst Siedler über die Unfähigkeit moderner Architektur, Plätze, die Mitte einer Stadt zu formen, besser als das Kulturforum am südlichen Rand des Tiergartens. Einzelnen Gebäuden soll ein hoher architektonischer Wert gar nicht abgesprochen werden — etwa der Philharmonie, der Neuen Nationalgalerie—, eine irgendwie sinnhaft geartete Ensemblewirkung will sich zwischen diesen beziehungslosen Solitären und den restlichen Gebäuden (darunter das Kunstgewerbemuseum, das an eine Gesamtschule im Stile der 80er Jahre erinnert) auch beim besten Willen des Betrachters nicht einstellen. Die von der riesigen Freifläche ausgehende Ödnis erinnert eher an ein Industriegebiet als eines der weltweit bedeutendsten kulturellen Zentren. Der Grad des Scheiterns dieses so symbolhaften Projekts kann als nachgerade monumental bezeichnet werden. Dieser Platz sollte tatsächlich das westliche Pendant zur Museumsinsel werden! Welch eine verpasste Chance angesichts der unermesslichen kulturellen Schätze, den diese Gebäude beherbergen! Lange hielten wir vor den Gemälden Vermeers und Rembrandts inne. Wie kann es nur sein, dass der Mann mit dem Goldhelm nicht aus der Hand Rembrandts stammen soll!? Rasch verließen diesen menschenleeren, unwirtlichen Platz.

Mit welch großen Erwartungen hatten wir der Fertigstellung der Rekonstruktion des Stadtschlosses entgegengesehen, des Bezugspunktes für das Ensemble an Gebäuden um den Lustgarten herum, durch den die Straße Unter den Linden wieder ihren Fluchtpunkt erhält. Wir hatten gespendet und eine der Bauhütten besucht. Und so sahen wir dem Gang vom Brandenburger Tor die Linden hinunter mit großer Vorfreude entgegen, nun, da das Schloss in seiner Außengestalt annähernd fertig ist. Und es war zunächst auch wie ein Traum, der wahr wurde, wie ein surreales Erlebnis. Da stand es wieder in alter Schönheit, intakt, als sei es nie bombardiert und von den Kommunisten gesprengt worden, inklusive Kuppel und Kreuz. Aber als wir dann näherkamen, zeichnete sich der anmontierte künstliche Ostflügel immer deutlicher ab, der vom Bebelplatz aus dem Betrachter nur eine kalte helle Betonfassade entgegenstreckt, eine Art von Halterung für das Gebäude. Ich konnte den Blick nicht mehr davon abwenden! So wie man bei einem Menschen mit einem deformierten Körperglied nicht den Blick von eben jenem Makel abwenden kann, so sehr man sich auch bemüht. Und der Gedanke, dass dieses Gebäude völlig deplatziert an diesem Ort ist, wie auch der Rest des Forum Fridericianums, verfestigte sich in mir immer mehr; nicht weil es sich um eine Rekonstruktion handelt (so wie fast alle Gebäude des Forums), sondern weil es immer schwerer fällt, zwischen den Menschen dieser Stadt und ihm  einen sinnvollen Bezug herzustellen. Wäre angesichts der politischen Anarchie, der „Diversity“ und „Buntheit“ dieser Stadt nicht die Errichtung einer Art überdimensionierten Hundertwasserhauses ehrlicher gewesen? Ein solches würde auch viel besser zur infantilen Wippe passen, die schon bald als Einheitsdenkmal die Schlossfreiheit zieren soll. Als ich nach der Rückkehr von unseren Reisen die Fotos des Planungsbüros für das Schlossumfeld hervorholte, erkannte ich übrigens, dass in der von uns eingenommenen Perspektive der hintere Gebäudeteil stets von fiktiven Bäumen verdeckt war. Passend dazu auch die Meldung über die Besudelung der großen Granitschale im Lustgarten. Jugendliche hatten sie vollständig mit teilweise obszönen Graffitis beschmiert. Die Verfertigung dieser 75 Tonnen schweren Schale zu Beginn des 19. Jahrhunderts war eine ungeheure handwerkliche Meisterleistung. Sie ist die größte jemals aus einem einzelnen Stein gefertigte Schale und übertrifft somit sogar die berühmte Porphyrschale aus Neros Domus Aurea, die heute im vatikanischen Museum steht. Den zweiten Weltkrieg und den Sozialismus hatte sie abgesehen von einem Riss und manchen Blessuren gut überstanden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde ihre Herstellung von der Öffentlichkeit mit großem Interesse verfolgt. In vielen Gemälden wurde sie abgebildet, darunter das bekannteste von Johann Erdmann Hummel, das heute in der in der Nationalgalerie hängt. Ihre Beschädigung ist heute nurmehr eine Randnotiz.

Der Gedanke erfüllte mich mit Wehmut, dass mir Berlin —oder vielleicht auch nur: die Illusion von Berlin— unter den Händen zerronnen war. Als wir es verließen, wurden neben Mitte und Friedrichshain auch die ersten westlichen Bezirke zu Corona-Risikogebieten erklärt. Dem Zeitgeist entsprechend hätten wir wohl in den sozialen Medien heldenhaft posten können, dass wir Berlin „survived“ hätten mit Smiley und Daumen hoch. Wieder stellte ich mir vor, wie meine Mutter auf solch ein läppisch-infantiles Gehabe herabgeblickt hätte.

Cameriere und Portiere – Florenz

Wir brachen auf nach Florenz. Unser Hotel in unmittelbarer Nähe des Palazzo Vecchio (Foto © Magnus Gertkemper, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons  bot alle Annehmlichkeiten, die man von einem Fünfsternehotel erwartet. Obwohl Florenz nicht so menschenleer war wie die italienischen Touristenstädte im Frühsommer, nahmen wir in dem riesigen Speisesaal des Hotels, der wohl im späten 19 Jahrhundert als Treffpunkt für Parlamentarier des Italienischen Parlaments diente (Florenz war von 1864 bis 1870 die Hauptstadt Italiens) unser Frühstück zumeist alleine ein. Der den Saal umgebene Fries enthielt Tondi führender italienischer Männer, die eine bedeutende Rolle beim Risorgimento innehatten. Garibaldi befand sich natürlich prominent an der Stirnseite des Saales über der Empore. Daneben hätte man Cavour, den wohl eigentlichen Kopf der Unabhängigkeitsbewegung erwartet. Ihn fanden wir nach einigem Suchen jedoch nur an einer Längsseite in einer Gruppe von Männern, die uns gänzlich unbekannt waren. Vielleicht weil er aus dem Piemont stammte?

Der Service im Hotel, aber ausnahmslos auch in allen Restaurants und Cafés, die wir in dieser Woche aufsuchten, erinnerte uns schmerzlich daran, in wie unterschiedliche Richtungen sich die beiden Länder entwickelt haben, besser gesagt: wie sehr Deutschland sich verändert hat! Der Beruf eines Cameriere oder auch eines Portiere haben in Italien immer noch einen hohen Stellenwert. Es sind respektierte Berufe, entsprechend agieren alle mit Selbstbewusstsein und mit Stolz. Es ist eine der bedauerlichen Konsequenzen sozialdemokratischer Bildungspolitik, die zum Ziel hatte, alle zu (Schmalspur-)Abiturienten und eine Mehrzahl von diesen zu (Schmalspur-)Studenten zu machen, die das einst intakte gesellschaftliche Gefüge ins Wanken gebracht hat. In Deutschland glaubt man sich klein machen zu müssen als Gast, indem man als „Studierter“ gegenüber dem Dienstleistenden seine vermeintlich höhere soziale Stellung herunterspielt. Nur das passt in Italien überhaupt nicht. Wer sich klein macht, wird auch so behandelt! Selbstverständlich lässt man sich im Grand Hotel vom Valletto die Koffer aufs Zimmer tragen lassen und gibt ein entsprechendes Trinkgeld! Selbst die Koffer aufs Zimmer zu schleppen würde als befremdlich und würdelos empfunden! Bittet man einen Portiere nach einer Auskunft, sei es nach einer Veranstaltung, einem Restaurant oder was auch immer, wird ein Portiere, der halbwegs auf sich hält, alle Hebel in Bewegung setzen, bis er eine befriedigende Auskunft geben kann. Übrigens waren alle Hotelbediensteten und Kellner, denen wir begegneten, Italiener. Man verdeutliche die Situation an deutschen Hotels und Restaurants, wo kaum noch ein vergleichbares, qualifiziertes Personal existiert.

Einmal kam es allerdings doch zu einer unschönen Situation. An einem Tag war eine uns bis dato unbekannte Frau mit der Organisation des Frühstücks beauftragt, die scheinbar als Aushilfe fungierte und, obschon nur sehr wenige Gäste zugegen waren, mit der Abarbeitung der Bestellungen restlos überfordert war. Als sie uns dann noch erklärte, dass nur noch gesüßtes Brot vorhanden sei, platzte uns der Kragen und wir beschwerten uns mit deutlichen Worten. Als dies nichts fruchtete, luden wir unseren Zorn beim Direktor des Hauses in immer noch höflichen, aber sehr deutlichen Worten ab, und zwar in der Sprache des Landes. Nun wurden wir ernst genommen! Wenn wir stattdessen wie die französischen Gäste wortlos an unseren Crostinis herumgekaut hätten, hätte niemand Respekt bekundet! Indem wir den Angestellten aufzeigten, inwiefern sie ihren eigenen hohen Standards nicht gerecht wurden, bezeugten wir auch unseren Respekt für ihre Profession. Was soll ich sagen?! So etwas von subito ließ der Direktor nach frischem Brot schicken und am Abend erwartete uns sogar ein Früchtekorb auf unserem Zimmer! Nach diesem kleinen Donnerwetter war unser Verhältnis nicht nur ungetrübt, sondern von ehrlich empfundener Herzlichkeit und Respekt bestimmt. Dies ist übrigens eine Lektion, die man als Italien-Reisender gelernt haben muss: Wer ernst genommen werden will muss sich selber ernst nehmen!

Katholizismus, überlieferte Traditionen und Werte

Mit einem Kellner eines Restaurants, das wir mehrmals aufsuchten, kamen wir in etwas näheren Kontakt. Eines Tages verabschiedete er sich von uns, da er zu der Kommunion seines Neffen in den Süden reisen musste. Er klagte uns sein Leid, dass ein Teil der Verwandtschaft es immer noch ablehnt dieses Kind als legitim anzusehen und in Kontakt mit ihm zu treten, da sein Bruder geschieden ist und das Kind von einer neuen Lebenspartnerin stammt. Solche Vorkommnisse sind also immer noch möglich und scheinbar gar nicht so selten. Sie verdeutlichen, dass die Verankerung in Traditionen und in der Religion Ländern wie Italien immer noch eine Orientierung verleiht, wie immer man sie im Einzelnen auch beurteilen mag. Nicht nur empfinden sich viele Italiener als Katholiken, sie nehmen auch die Inhalte des Katholizismus noch ernst und begreifen Kirche nicht als eine Art NGO oder eine Agentur des Zeitgeists! Dies ist aus der Perspektive eines Landes, in dem mittlerweile (fast) alles gesellschaftlich akzeptabel ist, ja, in dem es nachgerade zu einer Art Fetisch geworden ist, überlieferte Traditionen und Werte zu schleifen, natürlich schwer begreifbar. Als eine der letzten Bastionen wird in Deutschland der Familienbegriff nach und nach ausgehöhlt. Auch in Florenz gelingt es uns nicht, diese bedrückenden Themen auszuklammern.

Kuppel der Florentiner Kathedrale © Stefan Bauer, CC BY-SA 2.5  via Wikimedia Commons

Nachrichten erreichten uns, dass nun neben den Grünen auch die Jungen Liberalen fordern, die Begriffe Mutter und Vater im Familienrecht durch den Begriff „Eltern“ zu ersetzen und vier Elternteile zuzulassen. Bald werden sicher Stimmen laut, die eine höhere Zahl fordern, und man muss kein Prophet sein, um vorauszusehen, wie es dann laufen wird, nämlich so wie stets in den letzten Jahren. Der Druck wird seitens der Woke-community so groß werden, dass zuletzt auch Teile der CDU/CSU umschwenken werden. Schließlich wird es einen faulen Kompromiss geben mit einer beliebigen (in den Folgejahren ständig erhöhten) Höchstgrenze, den dann alle als vernünftigen Kompromiss ansehen müssen. Wer anschließend nicht mitzieht, wird in der Folge vom Juste Milieu als Hetzer diffamiert. Und dieses Land wird weitertaumeln, immer rascher, um neue Maßstäbe zu definieren, die es übermorgen schon wieder revidiert, ohne wohl jemals Halt zu finden…

Ein italienischer Kunsthistoriker, mit dem wir im berühmten Café Rivoire auf der Piazza Signoria eine Trinkschokolade genossen, berichtete uns stolz vom Dante-Tag, der auf Initiative der Dante-Gesellschaft und des Corriere della Sera vom Ministerrat beschlossen wurde und jährlich am 25. März stattfinden soll, dem Tag also, an dem in der Göttlichen Komödie die Reise ins Jenseits beginnt. Er zitierte den italienischen Kulturminister: „Dante erinnert uns an viele Dinge, die wir gemeinsam haben: Dante ist die Einheit des Landes, Dante ist die italienische Sprache, Dante ist die Idee von Italien selbst.“ Wir waren sprachlos und entgegneten, dass man einen deutschen Minister, der solche Worte über einen Goethe- oder Schillertag sprechen würde, bei uns wohl gleich einen Aufnahme-Antrag für die AFD zusenden würde. Bei uns spielten nur noch weitgehend nichtssagende bzw. abstrakte Begriffe wie „Europa“, „bunt“ und „offen“ eine Rolle. Von Deutschland sprächen wir eigentlich nur noch, wenn es um die deutsche Verantwortung oder Schuld ginge. Er schwieg und lächelte süffisant. Schließlich sprach er: „Niemand in unserem Land versteht die deutsche Politik! Ein Volk, das sich selber nicht ernst nimmt, kann von anderen nicht ernstgenommen werden!“

Auch bei der Piazza della Signoria ist es ganz offensichtlich, dass ihm kein einheitliches Konzept zugrunde liegt. Dominiert wird er von dem im Stil eines Kastells errichtete Palazzo Vecchio, der wie eine skurrile Trutzburg über dem Platz ragt. Der seltsam asymmetrisch eigefügte Turm mit seinem nach oben strebendem Wehrgang verleiht diesem Bauwerk aber eine leichte, fast spielerische Komponente. Daneben die luftige, elegante Loggia dei Lanzi. Es sind wohl gerade auch diese Gegensätze, die diesen Platz so überwältigend machen. Dass sich die Wittelsbacher hier so reichlich inspirieren ließen, um die zentralen Plätze Münchens zu gestalten, spricht für ihren Kunstverstand.

Nabucco kurz vor dem Lockdown

Abends noch in der Oper mit Nabucco auf dem Programm. Bis zuletzt hatten wir gezittert, ob diese Aufführung stattfinden würde, da im Vorfeld unserer Reise die Corona-Zahlen auch in der Toskana deutlich angestiegen waren (in der Stadt bestand schon die Pflicht la mascherina zu tragen). Die Besetzung war durchweg erstklassig mit Maria José Siri, Alexander Vinogradov und Placido Domingo in den Rollen der Abigaille, des Zaccaria und des Nabucco. Bewundernswert, wie Domingo mit beinahe achtzig Jahren diese anspruchsvolle Partie noch bewältigt. In der Dynamik kann er natürlich mit den dreißig, vierzig Jahre jüngeren Kollegen, die phantastisch sangen, nicht mithalten, aber dank seiner Erfahrung überspielte er sehr geschickt die Stellen, an denen es etwas eng wurde. Aber seine Stärken — intelligente Phrasierung, Legato, das Einstreuen der von seinen Fans so geliebten Schluchzer—sind immer noch da. Bewundernswert auch seine Fitness. In der eher konventionellen— will sagen: am Libretto orientierten Inszenierung (nichts also für deutsche Opernhäuser, wo wir es ja als Zeichen unserer unvergleichlichen Progressivität ansehen, wenn wir eine vom Regisseur neu imaginierte Handlung vorgesetzt bekommen) —, konnte er sich nicht schonen. Er hatte kaum Mühe sich vor Zerknirschtheit zu Boden zu werfen und anschließend wieder behände aufzustehen. Um das Infektionsrisiko zu minimieren, wurden nur schätzungsweise die Hälfte der Plätze besetzt. Die Einteilung der Sitze war allerdings etwas durcheinandergeraten. In vielen Fällen war es merkwürdigerweise nicht gelungen, die unterschiedlichen Parteien durch freie Plätze zu trennen. Dies wurde dann aber durch die Besucher in Eigenregie realisiert, die sich ohne Zögern „coronagerecht“ auf angemessene freie Plätze umsetzten (so auch wir). Trotz kleiner Eingriffe kam dieser Abend einer „normalen“ Aufführung sehr nahe. Im Vergleich zu der protestantischen Friedhofsstimmung, die seit der Wiederöffnung in den deutschen Opernhäusern herrscht, war dieser leichte, fröhliche Abend eine willkommene Abwechslung, der uns Corona für einen Moment beinahe vergessen ließ.

Wir verließen Florenz mit dem tiefen Gefühl, dass die in der Mitte des 19. Jahrhunderts formulierten Worte des amerikanischen Diplomaten und Schriftstellers William D. Howell über Italien —bei allen Veränderungen, die es durchgemacht hat, und allen seinen unbestreitbaren Problemen— auch heute noch nicht ganz ihre Gültigkeit verloren haben:

„…but I say that while the Brothers oft the Misericordia (…) continue to light the street of Florence with their flaring torches, the mediaval tradition remains unbroken : Italy is still Italy.“

Wir verließen ein Land, das weder seine Geschichte noch seine Kontinuität in Frage stellt.

An Realitäten vorbei zu leben

Kommen wir zum Schluss noch einmal auf unseren Abstecher nach Potsdam zurück. Am 3. Oktober wurden dort überall Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten abgehalten. An zentralen Punkten der Stadt waren Bildschirme aufgestellt (Foto r.), mit denen ikonische Szenen der deutschen Geschichte nachvollzogen werden konnten. Auf uns wirkten diese historischen Aufnahmen bereits wie Reportagen aus einem fernen, fremden Land. Das Deutschland des Jahres 2020 ist zu einem Land geworden, welches gelernt hat, an Realitäten vorbei zu leben.

Die Moderatoren, die in den Filmen einleitende (nichtssagende) Worte sprachen, hatten übrigens, soweit wir es beurteilen konnten, allesamt ein eher „neudeutsches“ Aussehen, wie es den ungeschriebenen (und mittlerweile teilweise geschriebenen) Regeln der Political correctness entspricht. Das Motto der Feier lautete entsprechend: „Wir sind eines: vieles!“ Selbst wenn es jemand mit außergewöhnlichen rhetorischen Fähigkeiten versucht hätte, besser hätte wohl auch er nicht die inhaltliche Leere in Worte kleiden können, die unser Land ergriffen hat.

 

Zum Autor: Dr. Bernd Fischer hat viele Jahre in leitenden Positionen in der Finanzindustrie gearbeitet. Er ist ausgebildeter Physiker und promovierter Mathematiker.

Seit ca. einem Jahr auch freiberuflicher Schriftsteller.

Mehr von ihm finden Sie auf seinem Blog www.philippicae.de.

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