Montag, 18. März 2024

CDU-Politiker Rissmann: Regierungspolitik unter Merkel ist „faktisch sozialdemokratisch“ geworden

Der Berliner CDU-Politiker Sven Rissmann hat sich in einem Brief an die Mitglieder seines Kreisverbandes gewendet. Der Brief hat nicht nur in der CDU den Nerv vieler ihrer Mitglieder getroffen, sondern auch in den Medien die Runde gemacht. Ist er doch eine schonungslose fulminante Abrechnung mit Kanzlerin Merkel: desaströses Wahlergebnis, eine von den Deutschen abgewählte Flüchtlingspolitik und ein degeneriert Partei. Wir dokumentieren den wichtigen Brief, der in die Parteigeschichte der CDU eingehen wird (David Berger):

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde,

die CDU Deutschlands hat die Wahlen zum Deutschen Bundestag verloren. Wir haben das schlechteste Wahlergebnis unserer Partei seit 1949 zu verzeichnen. Mit minus 8,6 Prozentpunkten haben wir den höchsten Verlust erlitten, den die Union seit
ihrer Gründung jemals zu verzeichnen hatte. Wirklich überraschend kam das aus meiner Sicht nicht. Wenn ich unsere Bundesvorsitzende einen Tag nach einem derartig desaströsen Ergebnis sagen höre: „Ich kann nicht erkennen, was wir jetzt anders machen müssen“, muss ich den Eindruck gewinnen, dass nicht alle Verantwortungsträger unserer Partei erkannt haben oder anerkennen wollen, wie ernst die Lage ist. 

Die Pflicht, eine regierungsfähige Koalition für unser Land zu bilden, darf nicht dazu führen, dass wir nicht ehrlich aufarbeiten, wie es soweit kommen konnte. Es darf zudem keinesfalls passieren, dass bei einer etwaigen „Jamaika-Koalition“ gar nichts mehr von der sowieso schon schmerzlich und weitgehend ausgeweideten CDU übrig bleibt. Die Schlussfolgerung aus dem Wahldebakel kann nämlich meines Erachtens nicht weniger Markenkern CDU sein, sondern ist der Warnschuss, dass CDU im Bund wieder erkennbar werden muss. Die nun angestoßenen Debatten über Positionierungen „rechts“ oder „links“ sowie die Frage, ob man konservativer werden oder liberal bleiben müsse, treffen nicht den Kern des Problems. Die Union war nie nur konservativ oder liberal, was immer das auch in heutigen Zeiten bedeuten mag. Die Union war immer eine Volkspartei der Mitte mit starken Flügeln, die ihr ihre Kraft verliehen haben. Aber die Union war nie eine sozialdemokratische oder gar linke Partei. Betrachten wir unsere Programmatik, unsere Tradition sowie unsere Parteitagsbeschlüsse von der Kreis- bis zur Bundesebene, dann sind wir weiterhin keine linke Partei. Allerdings entspricht die praktische Politik der CDU auf Bundesebene der letzten Jahre in einigen Bereichen nicht mehr der Politik unserer Tradition oder unserer Grundsätze. Die Regierungspolitik ist in gefährlicher Entfernung von unserem Programm und der Verortung eines Großteils unserer Mitgliedschaft faktisch sozialdemokratisch geworden, ohne dass die Partei das je beschlossen hat und – so meine Überzeugung – auch je beschlossen hätte. Wenn die Union an alte Erfolge anknüpfen und unserem Land einen Dienst auch dadurch erweisen will, dass es keine demokratische Partei „rechts“ neben uns gibt, dann muss endlich die krasse Kluft zwischen Programm, Tradition und Meinung eines Großteils der Mitgliedschaft auf der einen Seite und der CDU-Bundespolitik auf der anderen Seite geschlossen werden. Es wäre gut, wenn in einer CDU/CSU-geführten Bundesregierung im Kern das umgesetzt würde, was in unserem Grundsatzprogramm steht und in Parteitagsbeschlüssen verlangt wird.

Außerdem bedarf es einer neuen Debattenkultur. Seit einigen Jahren hat sich die CDU dahingehend degeneriert, der Bundeskanzlerin bedingungslos zu applaudieren. Parteitage müssen endlich wieder der Ort sein, an dem wir die großen Fragen der Gegenwart und Zukunft diskutieren und Antworten formulieren, die dann auch selbstverständlich die Parteiführung binden. Politischer Gestaltungswille ist mehr als die Frage nach der Dauer des Applauses für die Parteivorsitzende. Loyalität und Gefolgschaft sind bürgerliche Tugenden, zu denen ich mich ausdrücklich bekenne. Sie müssen aber immer eine inhaltliche Rechtfertigung aufweisen. Machterhalt darf niemals zum Selbstzweck werden. Diskussionen und eine vernünftige Debattenkultur waren nach meinem Eindruck nicht immer möglich. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass Kritik an dem Kurs der Bundeskanzlerin sofort als unzulässige Majestätsbeleidigung gewertet wurde. Jeder, der eine abweichende Meinung formulierte, wurde schnell verantwortlich gemacht für schlechte Wahlergebnisse bzw. wurde zur Ruhe ermahnt, da Wahlen anstanden und Geschlossenheit zu wahren sei. Die Bundestagswahl liegt nun hinter uns. Wenn nicht jetzt, wann dann soll eine Partei diskutieren und im positiven Sinne um den richtigen Weg ringen?! Das schließt konstruktive Kritik ein. Sie ist das Lebenselixier der Demokratie, einschließlich der parteiinternen Demokratie. Wir müssen benennen, was nicht richtig war, um es zukünftig besser zu machen.

Dazu gehört aus meiner Sicht ein vollkommen verfehlter Wahlkampfansatz aus dem Konrad-Adenauer-Haus, der den Wählerinnen und Wählern mit bunten Bildern vorgegaukelt hat, alles sei gut, uns gehe es gut, „also weiter so“. Wenn aber viele Menschen das Gefühl haben, abgehängt zu sein und subjektive Ängste haben, ob begründet oder nicht, dann verfehlt man das Thema und erreicht die Menschen nicht. Und dass in großen Teilen unseres Bezirks nicht alles gut ist, ist auch leider objektiv so. Es ist daher nachvollziehbar, dass viele Menschen sich von dem Wohlfühlansatz der CDU nicht angesprochen fühlten. Wo waren die Antworten zu konkreten Fragen wie Pflege bei Krankheit und im Alter, bezahlbares Wohnen, Steuergerechtigkeit, funktionierende Infrastrukturen, Altersarmut, Langzeitarbeitslosigkeit, Integration usw.? Die Union muss klare Kante bei Themen zeigen. Das mag mal konservativ, mal liberal, mal sozial und damit eben in der Summe christdemokratisch im besten Sinne unserer Tradition als der deutschen Volkspartei sein.

Schließlich stellt es sich aus meiner Sicht so dar, dass die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin endgültig abgewählt wurde. Es entspricht weder unserem Programm noch unserer Tradition, seit nunmehr zwei Jahren Menschen unkontrolliert, wahllos und undifferenziert in unser Land kommen zu lassen und in der Folge die Maßstäbe, die wir zurecht an eine funktionierende Verwaltung stellen, mehr oder weniger auszusetzen. Eine nachhaltige und nicht nur kosmetische Wende in der Flüchtlingspolitik ist dringend erforderlich. Selbstverständlichkeiten müssen wieder gelten und das heißt, dass nur derjenige in unser Land kommen darf, der darauf einen Anspruch hat. Und dies kann nur in einem europäischen Kontext erfolgen, der deutsche Alleingänge ausschließt. Alles andere ist nicht erklärbar.

Ich weiß, dass diese Worte Widerspruch provozieren werden und nicht jeder sie teilen wird. Aber das Wahlergebnis unserer Partei und die drängenden Fragen unseres Landes erfordern eine Kontroverse. Ein „weiter so“ wird der Lage nicht gerecht.

Als Kreisvorsitzender der CDU Mitte bin ich stolz auf unseren Verband. Ich bin unseren vielen Mitgliedern sehr dankbar, die in den letzten Wochen ehrenamtlich und unglaublich engagiert Wahlkampf geführt haben. Sie haben ein besseres Ergebnis verdient. An dem Einsatz der Mitglieder, der Ortsverbände und der Vereinigungen hat es nicht gelegen. Ich möchte unserem Kandidaten Frank Henkel und dem Wahlkampfmanager Dominique Vollmar sowie dem Wahlkampfleiter Carsten Spallek stellvertretend für die Arbeit der letzten Wochen danken.

Die Christlich Demokratische Union Deutschlands braucht Sie! Gerade jetzt. Kommen Sie vorbei, bringen Sie sich ein, bestimmen Sie den Kurs der Union mit!
Ich grüße Sie herzlich
Ihr Sven Rissmann

Quelle: Rundbrief CDU Mitte

David Berger
David Bergerhttps://philosophia-perennis.com/
David Berger (Jg. 1968) war nach Promotion (Dr. phil.) und Habilitation (Dr. theol.) viele Jahre Professor im Vatikan. 2010 Outing: Es erscheint das zum Besteller werdende Buch "Der heilige Schein". Anschließend zwei Jahre Chefredakteur eines Gay-Magazins, Rauswurf wegen zu offener Islamkritik. Seit 2016 Blogger (philosophia-perennis) und freier Journalist (u.a. für die Die Zeit, Junge Freiheit, The European).

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