(David Berger) Nicht erst seit Orlando oder Nizza und den unverhohlenen Drohungen von um Akzeptanz kämpfenden Mitmenschen sind mir große Menschensammlungen unangenehm. Hier habe ich es immer mit dem römischen Denker Seneca gehalten, der an Lucilius schrieb: „Was du hauptsächlich zu meiden hast, fragst du mich? Das Menschengewühl“ (7,1: Quid tibi vitandum praecipue existimes, quaeris? Turbam).
Allen guten Vorsätzen und Sitten zum Trotz habe ich es dann dennoch getan und bin heute auf Europas größtes Stadtfest für homosexuelle Menschen gegangen. Und schon die erste Begegnung war es wert, mich aufgerafft zu haben. Gleich am Eingang auf fast menschenleerem Platz stehen zwei ehemalige Hochglanzaktivisten von „Enough ist enough“ und blicken auf die Bühne.
Als sie mich auf sie zukommen sehen, scheinen sie vor Schreck fast zu erstarren. Ihre Blicke verraten: hier kommt der Leibhaftige auf uns zu. Bei meiner Frage, ob sie auf einen Bühnenauftritt warten, bekommt einer der beiden eine roten Kopf, aber gar kein Wort heraus, der andere murmelt etwas Unverständliches. So bin ich auch schon wieder an der nächsten Bierbude als mir einfällt, dass ich den beiden eigentlich noch eine kleine Spende für ihre geplanten nächsten CSD-Tripps zukommen lassen wollte.
Es geht weiter zur Lesbenbühne. Die bemühte Band spielt vor dem Motto: „Lesben sichtbar machen“. Vor der Bühne sieht man aber weit und breit nur unsichtbare Lesben.
Sichtbar sind stattdessen die Fetischfreunde. Ein Vergnügen für die ganze Familie, allerdings nicht für unseren Hund, der meinen Freund und mich begleitet, und sich ziemlich über die Rollenspiele aufregen muss.
Bei den Parteienständen das selbe wie jedes Jahr. Zwei Ausnahmen: Die Schwusos heißen nun QueerSozis, haben sich sozusagen von der Last des Wortes schwul befreit. Ob sie um die antisemitischen Implikationen der Queerideologie wissen? Egal, mit dieser Namensänderung sind sie ganz sicher auf dem besten Weg wieder massenhaft schwule und lesbische Wähler zurück zu gewinnen.
Außerdem sichte ich eine Politikerin, die für die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt. Allerdings nur von hinten. Das macht aber nichts, denn die wichtigste Erinnerung, die ich an sie habe, ist, dass sie – während ich auf einem Empfang des LSVD vor zwei Jahren – mit dem Rücken zu ihr stand, einen meiner damaligen Redakteure bei dem Magazin „Männer“ mit Blick auf mich fragte: „Was macht der Katholiban da?“
Der eigentliche Höhepunkt dann am Ende des Rundgangs, als wir Richtung Nollendorfplatz und Regenbogenminarett schon wieder die Festivität verlassen:
Ein sonst als Damendarsteller („Margot Schlönske“) auftretender Anzeigenverkäufer des kostenlosen Werbemagazins „Siegessäule“, Matthias Reetz, bemüht sich dieses an die interessierten Besucher des Stadtfestes zu verschenken.
Mein Fazit: Es lebe die Physiognomie!
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