Sonntag, 16. März 2025

Am Wertewesten soll die Welt genesen

Europäische Selbstüberschätzung nach deutschem Vorbild. Ein Gastbeitrag von Frank Steinkron.

1841 verfasste August Heinrich Hoffmann von Fallersleben das „Lied der Deutschen“, das seit 1919 die offizielle deutsche Nationalhymne ist. Nach Gründung der Bundesrepublik wird zu offiziellen Anlässen nur noch die dritte Strophe („Einigkeit und Recht und Freiheit“) gesungen. Die erste Strophe mit der einleitenden Zeile „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt“ gilt als problematisch. Ihr ursprünglicher Sinn war jedoch ein völlig anderer als gemeinhin angenommen.

„Deutschland über alles“: Vom Weckruf der Freiheit zur Parole des Unheils

Hoffmann von Fallerslebens Anliegen war die Überwindung der aus autoritären Monarchien bestehenden Kleinstaaterei. Jahrhundertelang hatten deutsche Fürsten ihre Untertanen für fremde Hegemonialinteressen bluten lassen: im Kampf gegeneinander wie im Dreißigjährigen und im Siebenjährigen Krieg, aber auch auf internationalen Schlachtfeldern. In den amerikanischen Freiheitskriegen kämpften 30.000 Deutsche, vor allem Hessen und Braunschweiger, für die Britische Krone; in der „Grand Armee“ Napoleons, die 1812/1813 im russischen Winter unterging, dienten sogar 150.000 Deutsche, allein 30.000 kamen aus Bayern. Im preußisch-österreichischen „Bruderkrieg“ von 1866 töteten sich die Deutschen erneut gegenseitig.

Angesichts dieser Selbstpreisgabe und Selbstzerfleischung war der Ruf „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt, wenn es stets zu Schutz und Trutze brüderlich zusammenhält“ durchaus ein Gebot der Stunde. Die einzelnen Fürsten sollten sich allein dem deutschen Volk verpflichtet fühlen, vor allem wenn es galt, sich äußerer Aggressoren zu erwehren. In der durch den Versailler Diktatfrieden schwer gedemütigten Weimarer Republik erhielt die erste Strophe dann eine neue Bedeutung. Nun war sie Ausdruck nationaler Selbstbehauptung. Zugleich rief sie dazu auf, den innerdeutschen Parteienhader zu überwinden. Die Nationalsozialisten leiteten aus ihr schließlich einen weltpolitischen Herrschaftsanspruch ab.

„Am deutschen Wesen mag die Welt genesen“: Vom Friedenswillen zur Großmannssucht

Eine ähnlich verheerende Umdeutung erfuhr der Spruch „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“. Zunächst bildet er das Fazit des Gedichts „Deutschlands Beruf“, das der nationalliberale Dichter Emanuel Geibel 1861 verfasste. Geibel verlieh der Erwartung Ausdruck, ein unter preußischer Führung geeintes Deutschland werde zu einem Hort der Sicherheit und der Stabilität, der ganz Europa Frieden bringe – gerade weil die europäischen Großmächte nicht mehr in innerdeutsche Konflikte hineingezogen werden könnten. Daher beschloss er sein Lied mit den Worten:

Macht und Freiheit, Recht und Sitte,
Klarer Geist und scharfer Hieb
Zügeln dann aus starker Mitte
Jeder Selbstsucht wilden Trieb,
Und es mag am deutschen Wesen
Einmal noch die Welt genesen.“

Bekanntlich erfuhr dieser Text zugegebenermaßen zu Missdeutungen einladende Text nach der Reichsgründung gleichfalls eine verhängnisvolle Umdeutung. Besonders unter der Regierung Kaiser Wilhelms II. stand er für den verwegenen Anspruch, die Welt zu verbessern, und damit für deutsche Großmannssucht.

Europa über alles?

Geschichte, so sagt man, wiederholt sich nicht. Jedoch gibt im Verhalten von Menschen wie von Staaten wiederkehrende Grundmuster. 1914 fühlten sich die endlich in einem Reich geeinten Deutschen mächtig genug, es mit dem übrigen Europa aufzunehmen. Heute, so scheint es, wähnen sich die nach schrecklichen Kriegen in einer Union geeinten Europäer imstande, es mit Russland, Amerika und China gleichzeitig aufnehmen: Europa über alles? Wie im Deutschen Kaiserreich unter preußischer Führung ist heute der europäische Wertewesten unter deutschem Einfluss überzeugt, an seinem Wesen könne, ja müsse die Welt genesen. Wie das Deutsche Kaiserreich beginnt die Europäische Union, sich in Selbstüberschätzung zu isolieren.

Eine schwere Stunde ist heute über Europa hereingebrochen. Diktatoren überall zwingen uns zu gerechter Verteidigung. […] Putin und Trump aber würden wir zeigen, was es heißt, Europa zu reizen.“

Könnten diese Sätze nicht von Anton Hofreiter, Marie Agnes Strack-Zimmermann und Roderich Kiesewetter stammen? Nun ersetze man die Wörter „Europa“ durch „Deutschland“, „Diktatoren“ durch „Neider“ sowie „Putin und Trump“ durch „Gegner“. Dann haben wir die Sätze, die Wilhelm II. anlässlich der russischen Generalmobilmachung am 31. Juli 1914 vom Balkon des Berliner Schlosses zu der im Lustgarten versammelten Menge sprach. Damals begann der Erste Weltkrieg.

Wie gesagt, Geschichte wiederholt sich nicht. Aber sie reimt sich. Ähnliche Verhaltensmuster zeitigen ähnliche Konsequenzen – und münden schlimmstenfalls in ähnliche Katastrophen.

PP-Redaktion
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Eigentlich ist PP nach wie vor ein Blog. Dennoch hat sich aufgrund der Größe des Blogs inzwischen eine Gruppe an Mitarbeitern rund um den Blogmacher Dr. David Berger gebildet, die man als eine Art Redaktion von PP bezeichnen kann.

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