Überlegungen zum 750. Todestag des hl. Kirchenlehrers Thomas von Aquin. Von David Berger
Heute vor genau 750 Jahren, am 7. März 1274, ist Thomas von Aquin bei den Zisterziensern in Fossanova gestorben.Der bekannteste und älteste Ehrentitel des Kirchenlehrers lautet „Doctor communis“ – der allgemein bekannte und anerkannte Lehrer. Er bringt anschaulich zum Ausdruck, dass Thomas über sein Wirken zu Lebzeiten, über die Theologie seiner Zeit, seines Ordens und bestimmter theologischer Schulen hinaus, in der katholischen Kirche und ihrer Theologie eine Autorität inne hat, die ihresgleichen sucht.
Schon 1279, also nur fünf Jahre nach dem Tod des großen Lehrers erließ das Generalkapitel seines Ordens eine Weisung an die Lehrer des Predigerordens, der Doktrin des Bruder Thomas zu folgen; eine Weisung, die 1346 von Papst Clemens VI bestätigt wurde, der den Lehrern des Dominikanerordens verbot, in irgendeinem Lehrpunkt von Thomas abzuweichen.
Schon bald erwählten auch die wichtigsten Universitäten der damaligen Zeit – Paris, Salamanca, Padua und Löwen – Thomas zu ihrem allgemeinen Lehrer. An der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert schreibt der Kirchenhistoriker Tholomäus von Lucca (+1327):
„Thomas überragt alle modernen Doktoren in der Philosophie und Theologie, wie allgemein anerkannt wird, und er wird deshalb heute an der Pariser Hochschule der Doctor communis genannt.“
Besonders jedoch hat das kirchliche Lehramt sehr früh und von da an mit großer Hartnäckigkeit und bewunderungswürdiger Kontinuierlichkeit die allgemeine Autorität des Aquinaten hervorgehoben. Johannes XXII bemerkte anlässlich der Kanonisation des Thomas am 18. Juli 1323:
„Thomas hat so viele Wunder gewirkt, wie er Artikel geschrieben hat.“
Ein weiteres wichtiges Datum für den Aufstieg des Thomas zum Doctor communis stellt das Konzil von Trient (1545-1563) dar. Kardinal Baronius, der bekannte Geschichtsschreiber des genannten Konzils, bemerkt in dieser Sache, dass es kaum auszudrücken ist, welch entscheidenden Einfluss der hl. Thomas auf die Konzilsväter besaß und Papst Leo XIII. erinnert in seiner Thomasenzyklika Aeterni Patris (1879) an die Tatsache, dass die Summa theologiae des Aquinaten neben der Heiligen Schrift und den Büchern mit den päpstlichen Dekreten während des ganzen Tridentinums aufgeschlagen und von den Vätern eifrig konsultiert auf dem Konzilstisch gelegen hat. Und so hat das Konzil auch dort, wo es auf auch die heutige Situation zutiefst berührende Fragen: jene nach der Rechtfertigung des Sünders, der Realpräsenz und der Transsubstantiation geantwortet hat, fast wörtlich auf Texte des hl. Thomas zurückgegriffen.
Hier schon deutet sich an, dass die Konzilien und Päpste die Lehre des hl. Thomas stets als Schutzwall gegen die Heterodoxie betrachtet haben.
Dies zeigt sich auf besonders nachdrückliche Weise in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Hier verdienen die Enzykliken „Aeterni Patris“ Leos XIII., „Studiorum Ducem“ Pius’ XI. (1923), und „Humani Generis“ Pius’ XII. (1950) sowie die zahlreichen klaren und weitsichtigen Äußerungen des hl. Papstes Pius X. im Kontext der Bekämpfung des Modernismus erwähnt zu werden.
In keiner Weise hätte dieser Papst die Bedeutung, die man zu jener Zeit dem Thomismus als Gegenprogramm zuerkannte gegen die verschiedenen unter dem Oberbegriff „Modernismus“ zusammengefassten Strömungen, von denen viele auch heute nach wie vor in modifizierter Form virulent sind, besser charakterisieren können als in dem berühmten Satz aus der Enzyklika „Pascendi“:
„Vom heiligen Thomas in irgendeiner Frage abzuweichen, bedeutet stets einen unermesslichen Schaden“.
Ganz in dieser Tradition konnte der italienische Kardinal Bacci auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil gegen Stimmen, die diese einzigartige Stellung des hl. Thomas mit seltsamen Argumenten stürzen wollten, antworten:
„Den Vorrang des hl. Thomas von Aquin bestreiten zu wollen, hieße das Konzil über die Päpste und gegen die Päpste stellen, die sich mehr als achtzigmal über diesen Gegenstand geäußert haben.“
Dass das Vatikanum II die Autorität des hl. Thomas in gleich zwei Dokumenten ausdrücklich hervorhebt, verwundert dann auch nicht.
Liest man die Texte des Konzils nicht im Sinne einer heute freilich weit verbreiteten Rezeption, die das letzte Konzil als einen revolutionären Revancheakt für 1900 Jahre Kirchengeschichte betrachtet, sondern interpretiert man es – wie dies der Papst erst jüngst wieder in seinem Apostolischen Schreiben Novo millenio ineunte gefordert und das neue Kirchenrecht dies mit seinem Canon 252 getan hat – im Kontext der Tradition, das heißt auch der von der „Vorbereitenden Kommission“ erstellten Texte (hier des Dokumentes „De doctrina S. Thomae servanda“); bedenkt man daneben, dass das Vatikanum II das erste ökumenische Konzil der Kirchengeschichte ist, das einen individuellen Autor explizit mit Namen nennt und empfiehlt, wird einigermaßen deutlich, welche Bedeutung das Lehramt der Kirche dem hl. Thomas nach wie vor einräumt.
Ganz in diesem Sinne hat Papst Johannes Paul II. in seiner wegweisenden Enzyklika „Fides et Ratio“ (1998) hervorgehoben, dass der
„hl. Thomas zu Recht von der Kirche immer als Lehrmeister und Vorbild dafür hingestellt worden ist, wie Theologie richtig betrieben werden soll.“
(Nr.43) Und er zitiert zustimmend seinen Vorgänger Leo XIII.:
„Das Denken des Aquinaten erreichte Gipfel, wie sie die menschliche Intelligenz niemals zu denken vermocht hätte.“ (Nr.44)
Der radikale Einbruch des Thomismus und seine Ursachen. In um so erstaunlicherem Kontrast zu dieser eindeutigen und überragenden Autorität, die dem hl. Thomas zukommt, steht der nicht zu bezweifelnde, auch vom Papst in „Fides et Ratio“ (Nr. 61) beklagte, radikale Einbruch, den der Thomismus seit Mitte der 60er Jahre, besonders in Westeuropa, erlitten hat. Der amerikanische Dominikaner und Professor an Notre Dame, Thomas O’Meara hat in seinem jüngsten Thomasbuch festgestellt:
„Man mag es drehen und wenden, wie man will, die Folgen des Zweiten Vatikanischen Konzils im Hinblick auf den Thomismus waren ein Desaster …“
Woher nun kam diese tragische Entwicklung, die eine knapp siebenhundertjährige Tradition fast restlos zum Einsturz brachte?
Sicher wird man hier auf sehr viele Faktoren, dem Thomismus eher externe Gründe hinblicken müssen. Aber auch der Neothomismus, der am Vorabend dieses Zusammenbruchs weite Teile der im kirchlichen Kontext betriebenen Philosophie und der Theologie beherrschte, scheint daran nicht unbeteiligt. Zumeist von Jesuiten – Joseph Maréchal, Karl Rahner u.a. – sowie transzendentalphilosophisch geprägt, ging es ihm primär darum, die Aktualität des Thomas im Hinblick auf die moderne Philosophie und Theologie möglichst schlüssig und reibungsfrei aufzuweisen.
Dies führte dazu, dass auf für historische Zusammenhänge wenig sensible Weise der Unterschied zwischen Thomas und der Moderne eingeebnet und so das Spezifische der thomistischen Synthese – und damit auch ihr kritisches Potential – verdrängt wurde.
Besonders klar profiliert findet sich die aufgezeigte Problematik in der Thomasrezeption Johann B. Metz’ und dessen Lehrers Karl Rahner. In seinen „Schriften zur Theologie“ und einem Vorwort zu Metz’ Dissertationsschrift äußert sich Karl Rahner folgendermaßen:
„Eine Restauration des bisherigen Schulthomismus und des diesem zugrundeliegenden unmittelbaren und fast naiven Verhältnisses zu Thomas wäre ein Verbrechen [sic!] an der Kirche und an den Menschen von heute.“
Nur „ein Thomas, der am Anfang der Zeit steht, die heute noch unsere ist, kann auch heute noch unser Lehrer sein, kann ein Mann sein, der – mit anderen – den noch halb verborgenen Anfang der Zeit bildet, die noch unsere Zeit ist: der Neuzeit“.
Vergangenheit wird also nur zugelassen, solange sie kritiklos einfach alles absegnet, was wir gegenwärtig tun und für die Zukunft wollen.
Die Konsequenz eines solchermaßen aktualisierten Thomas ist offensichtlich: Gerade die von Rahner immer wieder geforderte Fähigkeit, Texte so zu lesen, dass sie nicht zum „Stimmzettel“ für unsere Positionen degradiert werden, geht damit rapide verloren. Wofür benötigen wir einen Rekurs auf eine Vergangenheit, die uns im Hinblick auf Gegenwart und Zukunft nichts wirklich Neues, keine Alternativen zu bieten hat?
Was ist langweiliger als ein Thomas, der uns nur in etwas naiver Form sagt, was wir längst in vollkommener Form wissen?
Was liegt letztlich näher als sich von einem Thomismus, der im Grunde genommen nur eine primitive, unterentwickelte Form des modernen Denkens darstellt und dieser folglich keine echten Alternativen zu bieten imstande ist, endgültig zu verabschieden? Genau das hat man dann vor allem in jenen Ländern auch getan, in denen das Denken von Männern wir Rahner und Metz in der Theologie die Oberhand gewinnen konnte.
Nochmals also die Frage: Worin besteht die wirklich fruchtbare Aktualität des Thomas von Aquin für das 21. Jahrhundert? Ich meine, sie ist in der Erkenntnis zu suchen, dass die eigentliche Aktualität des Thomas, seine Eigenschaft als allgemeiner Lehrer für unsere Zeit, gerade eben nicht an jenen Stellen offenbar wird, wo seine Lehre in den Blindstellen dieser unserer Zeit wie in einem schwarzen Loch absorbiert wird, gerade nicht dort, er einfach mit den Dogmen unserer eigenen Gegenwart – ganz gleich ob wir sie nun als Neuzeit, Moderne, Postmoderne o.ä. umschreiben – gleichzeitig gemacht wird.
Vielmehr ist die hier gesuchte Gleichzeitigkeit jene des Ungleichzeitigen: Vergangenheit wird dort aktuell, wo sie uns etwas über unsere eigene Begrenzung hinaus zu sagen vermag und uns so neue Wege in die Zukunft weist!
Die eigentliche Aktualität des Thomas zeigt sich in dessen Fremdheit; dort wo sich der große Lehrer als Antipode des Zeitgeistes erweist,
…wo er jene vordergründigen Plausibilitäten und die Eindimensionalität unseres Heute, die die Glaubenssätze des Zeitgeistes stützen und sich heute weithin im kirchlichen Alltagsjargon ihre eigene Sprache geschaffen haben, durchbricht; dort, wo dessen überzeitliche Weisheit uns in eine schmerzhafte und doch heilsame Unruhe versetzt, die Verengungen unseres Denkens aufbricht, uns aus unserem Haus der Zeitlichkeit zerrt, um uns zu einem echten, weil allem Kontingenten enthobenen und ganz dem Ewigen zugewandten Fortschritt zu führen.
Ob wir es wollen oder nicht, wir alle schwimmen in statu viae im Strom der Zeit. Oft ist unser Kopf dabei unter Wasser und wir werden einfach mit der Flutrichtung mitgetrieben. Um aber atmen und – sollte die Strömung in gefährliche Strudel führen – entgegen rudern zu können,
…brauchen wir jemanden, der nicht in derselben Strömung mitgetrieben wird, sondern am Ufer steht und unseren Kopf immer wieder aus dem Strom hebt, um unsere Augen die immer gleichen Sterne als Orientierungspunkte sehen zu lassen. Ihren „ewig gleichen Gang, ihre unverrückbare Ordnung, ihre unendlichen Weiten“ (Romano Guardini).
Gerade dadurch, dass das Vergangene durch das Gegenwärtige nicht einfach neutralisiert, aufgesogen und dann letztlich negiert, sondern in seinem Eigensein, seiner Andersheit und damit auch seinem Spannungsverhältnis zum Gegenwärtigen belassen wird, wird es nicht nur zum kritischen Gewissen unseres Wirkens, sondern es wird zudem echtes Verstehen erst ermöglicht.
Dabei darf man nicht der Illusion verfallen, mit dieser Aktualität die ungeteilte Anerkennung aller Zeitgenossen zu erlangen. Was der Münsteraner Theologe William Hoye im Anschluss an Hans Blumenberg und Platos Höhlengleichnis (im Gemälde: Plato (l.) und sein Schüler Aristoteles im Disput) für den Bereich der Philosophie insgesamt konstatiert, gilt analog auch in unserem Bereich:
Eine soziologisch erfolgreiche Philosophie erhält dadurch ihre Überzeugungskraft, dass sie die Vorurteile ihrer Adressaten voraussetzt.
Stellt aber der wahrheitssuchende Philosoph umgekehrt ein in seiner Umwelt herrschendes Vor-Urteil in Frage – und sei es nur mit der wohlwollenden Absicht, dieses zu ergründen -, so erntet er normalerweise vitalen Widerstand.
Bereits Thomas selbst hat in seinem Kommentar zum Matthäusevangelium von dem „Skandal“, den die Wahrheit für manche Menschen darstellt, gesprochen. Gerade der Wahrheitsbegriff eignet sich konkret deutlich zu machen, inwiefern Thomas heute aktuell ist.
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.