Verfolgt man heute die Schlagzeilen in den Medien, so liest man immer reißerische Überschriften, die dazu angehalten sind, einem logisch denkenden Menschen das Blut in den Adern gefrieren lassen. Russland soll besiegt werden. Selenskyj fordert nach Kampfpanzern nun Kampfflugzeuge, U-Boote und Langstreckenwaffen, um das russische Kernland angreifen zu können. Unser Leserbrief des Monats von Sven Korte, Attendorn
Und aller Wahrscheinlichkeit nach, wird die Ukraine früher oder später auch alles erhalten, was sie haben will. Deeskalation scheint nicht mehr „in“ zu sein und jeder, der sich für Friedensverhandlungen oder gegen Waffenlieferungen ausspricht, wird sofort als „Putinfreund“ oder gleich als „Nazi“ abgestempelt, damit man diese Diskussion erst gar nicht führen muss.
Auch, wenn man es im besten und freisten Deutschland aller Zeiten nicht mehr offen aussprechen darf, trifft es zu, dass der Ukraine-Konflikt viele Ursachen hat und im Hintergrund spielen so viele Interessen und Interessengruppen mit, dass man sie wahrscheinlich gar nicht alle benennen kann.
In der natürlich stark vereinfachten Kurzfassung wollen beide Seiten Ziele erreichen, die die jeweils andere Seite unter allen Umständen verhindern möchte.
Russland will bestimmen, mit welchen Partnern und mit welchem Territorium die Ukraine weiter existieren kann, weil es durch die ukrainischen Entscheidungen zur EU und NATO seine eigenen Sicherheitsinteressen gefährdet sieht. Das hat Russland immer ganz klar so kommuniziert.
Der Westen will Russland besiegen, es maßgeblich schwächen, dort einen Regime-Change bewerkstelligen und das größte Land der Erde in ein dutzend Nachfolgestaaten zerschlagen, um sich die dortigen Bodenschätze sichern zu können. Und nein, dass ist keine wirre Verschwörungstheorie von irgendwelchen russischen Trollen, dass wird von US-Offiziellen so ganz frei von der Leber weg zugegeben. Die berühmt-berüchtigte RAND-Cooperation, die maßgeblichen Einfluss auf sie US-Außenpolitik ausüben kann, hat dazu verschiedene Studien, Planspiele und Handlungsanweisungen erstellt, die jeder im Internet nachlesen kann.
Wie auch immer, jede Seite glaubt, ihre Ziele mit militärischen Mitteln erreichen zu müssen und kann dafür – aus der jeweiligen Sicht – auch maßgebliche Gründe anführen. So eskaliert jede Seite den Konflikt ständig weiter, setzt letzten Endes nur noch auf Sieg oder Niederlage und hat die feine Kunst der Diplomatie scheinbar völlig aufgegeben.
Dabei sollte sich jeder gewahr sein, dass wir uns rasend schnell auf eine Situation zubewegen, wie wir sie im Oktober 1962 während Kuba-Krise bereits schon einmal er- und vor allem überlebt haben. Damals ging es im geopolitischen Poker um nicht weniger, als die Vernichtung der gesamten Menschheit – und beide Seiten waren vernünftig genug, miteinander zu verhandeln und eine Lösung aus diesem Dilemma zu finden, bevor wir uns selbst auslöschen konnten.
Zumindest in unserer sogenannten Regierung scheint heute niemand mehr fähig zu sein, das wahre Ausmaß der Gefahr zu erkennen, in der wir uns befinden. Anstatt miteinander zu reden und über ein Ende der Kämpfe zu verhandeln, ergeht man sich lieber in ukrainischen Hurra-Patriotismus – während man gleichzeitig den Deutschen jede Form von Patriotismus erfolgreich ausgetrieben hat – und will nur noch die Waffen sprechen lassen, um eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld zu erzwingen. Dass dabei hunderttausende von jungen Ukrainern und Russen ihr Leben verlieren werden, ist ein Opfer, das man im Namen von unseren ach so moralischen westlichen Werten gerne hinnimmt. Zynische Stimmen sprechen schon länger davon, dass der Westen bereit ist, die Ukraine bis zum letzten Ukrainer zu verteidigen.
Sowohl im Westen wie im Osten existieren bestimmte rote Linien, bei denen der Einsatz von Kernwaffen als mögliche Reaktion auf als feindlich eingestufte Handlungen als angemessen gilt. Die Grenze zwischen Angemessen und Unangemessen ist dabei nicht klar umrissen, sondern eine Grauzone, die niemand näher bestimmen kann. Um ein Beispiel zu nennen, nehmen wir einmal an, russische Panzer stünden vor dem Reichstag in Berlin. Wäre dadurch der Einsatz von Kernwaffen gerechtfertigt? Für die Regierung in Berlin wahrscheinlich schon, für die amerikanische Regierung im fernen und sicheren Washington jedoch eher nicht.
Anders sähe es hingegen aus, wenn die vitalen Interessen der NATO gefährdet wären. Nehmen wir einmal an, die Situation wäre so weit eskaliert, dass die NATO in der Ukraine im direkten Kampf mit den Streitkräften der russischen Föderation stünde. Die Ukrainer verfeuern pro Tag in etwa 10.000 Schuss an Artilleriemunition aller Kaliber und die NATO-Länder haben inzwischen so viel Waffen und Munition an die Ukraine geliefert, dass ihre eigenen Bestände – deren genauer Umfang zwar geheim ist, aber alleine Deutschland hat da ein Munitions-Defizit im Wert von 20 Milliarden Euro! – derart zusammengeschrumpft ist, dass sie im direkten Kampf mit den Russen innerhalb weniger Tage über keine Reserven mehr verfügen würden. Die NATO-Streitkräfte müssten sich also aus der Ukraine zurückziehen, weil sonst die Gefahr bestünde, dass sie ohne Munition an Ort und Stelle vernichtet werden. Die Russen würden die fliehenden Streitkräfte natürlich verfolgen, damit sie nicht entkommen und auf das Territorium der NATO einfallen. Hiermit bestünde eine ernste Bedrohung für die NATO und der Einsatz von Kernwaffen würde zumindest ernsthaft in Erwägung gezogen, sofern die konventionellen Streitkräfte nicht ausreichend wären, um den russischen Vormarsch zu stoppen. Und derzeit reichen die konventionellen Mittel der NATO für diese Aufgabe einfach nicht aus, was den Einsatz von Kernwaffen zwingend notwendig machen würde. Entsprechend ihrer Nukleardoktrin würde die NATO also zu Verteidigung ihres Territoriums stufenweise taktische Kernwaffen gegen die russischen Truppen einsetzten müssen, wobei die Reaktion der Russen natürlich umgehend erfolgen würde.
Dieser Schlag würde aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls mit taktischen Waffen erfolgen, sich jedoch nicht gegen mobile Truppenverbände im Felde richten, sondern gegen ausgesuchte strategische Ziele, also z.B. Kasernen, Munitions- und Versorgungslager, Flugplätze und Verkehrsknotenpunkte.
Die Doktrin der NATO sähe nun wiederum einen Schlag gegen vergleichbare Ziele in Russland vor und damit ginge dann der atomare Schlagabtausch in die nächste Runde. Die Einsatzdoktrin beider Seiten sieht in diesem Falle eine „Pause“ vor, damit bewertet werden kann, ob man an diesem Punkt den Schlagabtausch abbricht oder gleich zur nächsten Stufe übergeht und die großen Kaliber auf die gegnerischen Städte abfeuert.
Dieser hypothetische Ablauf ist hier natürlich sehr stark vereinfacht dargestellt worden, in Wirklichkeit ist das Thema Kernwaffeneinsatz viel komplexer und mit reichlich Fragezeichen versehen, eine übereinstimmende Meinung dazu existiert weder innerhalb der NATO, noch in Russland oder anderen Atommächten.
Während der langen Jahre des Kalten Krieges, funktionierte die nukleare Abschreckung nur deswegen, weil beiden Seiten bewusst war, welchen Preis die Menschheit würde zahlen müssen, sollte es zu einem Atomkrieg kommen. Und obwohl beide Seiten immer wieder die Grenzen des Gegners mit unzähligen Provokationen austesteten, überschritt doch niemand die berühmte rote Linie, denn das wäre ein Weg ohne Wiederkehr gewesen.
Grundvoraussetzung für dieses gegenseitige in-Schach-halten war jedoch ein Realitätsbewusstsein, dass ausgerechnet heute, in diesen krisenhaften Zeiten, bei Politik und Journalisten gleichermaßen nicht mehr vorhanden zu sein scheint. Ständig wird nach mehr Waffen und mehr Krieg verlangt und dabei bedient man sich eines Vokabulars, dass wir bisher allenfalls aus den Geschichtsbüchern kannten und mit denen wir alle keine guten Erinnerungen verbinden.
Während die Politik alles unternimmt, um den Konflikt stufenweise auf eine immer höhere Eben eskalieren zu lassen, mehren sich die warnenden Stimmen aus dem Militär, dass alle Beteiligten zur Zurückhaltung auffordert und Verhandlungen anmahnt. Dazu zählt auch der Ex-Brigade-General Erich Vad, dem man nun wirklich nicht vorwerfen kann, er wäre ein „Putinfreund“ oder ein „Russlandtroll“. Aber all diese warnenden Stimmen von echten Fachleuten auf diesem Gebiet verhallen weitgehend ungehört in der allgemeinen Kriegsbegeisterung, die sich der Politik und der Medien bemächtigt hat. Dafür führen sich ehemalige Wehrdienstverweigerer und vormalige Friedensdemonstranten so auf, als währen sie altgediente Militärexperten. Dies ist eine überaus kuriose Situation, die Militärs warnen, möchten deeskalieren und sprechen sich für Verhandlungen aus, während die Politiker das genaue Gegenteil anstreben.
Was wohl Carl von Clausewitz von dieser Situation gehalten hätte? Der preußische Militärhistoriker schrieb in seinem leider unvollendeten Werk „Vom Kriege“ darüber, dass der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei – was genau erleben wir dann heute? Dass die Politik die Fortsetzung des Krieges mit allen Mitteln ist?
Hinzu kommt, dass während der sogenannten Corona-Pandemie keine Maßnahme zu streng und kein Opfer zu groß war, um jeden einzelne Menschenleben zu beschützen – heute spielt man schier unbekümmert mit einem möglichen Atomkrieg und wischt sämtliche Bedenken der Militärs beiseite, als würde es sich bei Nuklearwaffen nur um lästige Knallfrösche handeln. Es kamen sogar schon Stimmen auf, die die Folgen eines Atomkrieges im Hinblick auf den Klimaschutz als positiv darzustellen versuchten, denn in einem nuklearen Winter gäbe es keine Klimaerwärmung mehr. Man muss sich ernsthaft fragen, ob unsere Politiker und Journalisten allesamt unter einem massiven Anfall von Realitätsverlust leiden oder ob ihnen einfach nicht klar ist, mit was für Mächten sie hier herumspielen. Und es ist irrelevant, was uns Politik und Medien derzeit zu verkaufen versuchen – bei einem nuklearen Schlagabtausch kann es keinen Gewinner geben!
Es gibt nur eine Erde, nur ein Ökosystem, wie unsere Klima-Kinder uns ja immer einhämmern, und wir können nur überleben, wenn wir unsere Welt nicht mit nuklearem Feuer in Brand setzen. Und wenn es nun ausgerechnet die Grünen sind, die mit dieser eigentlich undenkbaren Option herum spielen und sie für „lohnend“ erachten, dann sollten wir als Bürger endlich mal vom Sofa aufstehen und auf die Straße gehen, um denen da oben in ihrem Berliner Elfenbeinturm klar zu machen, dass es so nicht weitergehen darf. Der schreckliche Krieg in der Ukraine muss umgehend beendet werden, bevor die Situation – ob gewollt oder ungewollt – außer Kontrolle gerät. Die ist jedoch nicht mit Waffengewalt möglich, sondern allein auf dem Verhandlungswege. Denn so lange Atomwaffen existieren, ist ihr Einsatz auch möglich und die Wahrscheinlichkeit dafür steigt mit jedem Tag, an dem die Waffen sprechen an.