Tatenarm und gedankenvoll

Friedrich Hölderlins Charakterisierung der Deutschen verblüfft mit ihrer Präzision bis in die Gegenwart. Ein Gastbeitrag von Ralph Zedler

„So kam ich unter die Deutschen. Ich forderte nicht viel und war gefasst, noch weniger zu finden. (…) Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark der heiligen Grazien, in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit beleidigend für jede gutgeartete Seele, dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes — das, mein Bellarmin, waren meine Tröster“ (1).

Die Identifikationsbilder von deutschem Fleiß und Gründlichkeit, der ruhmreichen Bildungs- und Wissenschaftsnation und auch des unerschütterlichen, Halt gebenden deutschen Katholizismus und Protestantismus haben in den vergangenen zwei Jahren arg Federn lassen müssen.

Alles, was dieses Land einst auszuzeichnen schien, wurde schier vom Winde verweht. Eine unvorstellbare Erosion von Werten und scheinbaren Selbstverständlichkeiten ist über uns hereingebrochen. Ob in Medien oder Jurisprudenz, ob im Arbeitsleben oder bei wissenschaftlichen Standards, ob bezüglich demokratischer Prozederes oder hinsichtlich der nährenden Kraft von Kultur und Religion — urplötzlich standen wir vor einem großen schwarzen Loch, vor einem Scherbenhaufen.

Die Dumpfheit unserer Politiker und auch die plötzlich zutage tretende faschistoide Gesinnung des ein oder anderen Entscheidungsträgers hat viele von uns förmlich schockiert. Die Vernunft wich der Angst. Die nüchterne Bilanzierung einem hysterisierten Alarmismus. Auch die Kirchen stimmten bedenkenlos in den Kanon der allgegenwärtigen Diskriminierung und Ausgrenzung Andersdenkender ein. Jahrzehntelang angewandte medizinische Standards galten auf einmal als überholt, Menschenversuche als unausweichlich. Eine medial zur Existenzkrise der Menschheit hochstilisierte Grippewelle katapultierte uns hinter die Errungenschaften der Aufklärung ins erkenntnistheoretisch finstere Mittelalter zurück.

Spaltung als Grundübel

„Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, dass zerrissner wäre wie die Deutschen.“

Bildete Deutschland zu Zeiten Hölderlins, also um 1800, einen Flickenteppich von mehr als 300 Klein- und Mittelstaaten (2), so haben wir heute 16 Bundesländer mit 16 Landesparlamenten, in denen in den vergangenen zwei Jahren 16 verschiedene Corona-Landesschutzverordnungen beschlossen wurden. Bei den Ministerpräsidentenkonferenzen saßen diese 16 Landesfürsten und -fürstinnen regelmäßig mit der Regierung über Stunden zusammen und heckten hinter verschlossenen Türen neue Regelwerke aus.

Die Coronamaßnahmen, die Einstellung zur Impfung und Ukraine haben die Gesellschaft in den vergangenen zwei Jahren noch weiter gespalten. Dabei prallen Weltbilder aufeinander, die unversöhnlich scheinen. In Ermangelung einer weltanschaulichen Schnittmenge bleibt vielen von uns nur noch der Kontaktabbruch und die Neujustierung des Freundeskreises. Folge dieser Gespaltenheit ist für viele aber auch brutale Isolation.

Äußerlich wie innerlich ist in unserem deutschen Denken und Urteilen viel mehr auf Unterschiede und Spaltung ausgerichtet, als auf das Gemeinsame und Verbindende.

Die Spaltung begann allerdings schon viel früher: In vielen Köpfen existiert auch mehr als 30 Jahre nach der Wende immer noch die Schablone von Ost und West, bevölkert von „den Ossis“ und „den Wessis“. Diese Spezifizierung geht noch weiter: Schwaben, Sachsen, Bayern, Thüringer, Pfälzer, Hanseaten und viele weitere repräsentieren mit ihren landeseigenen Dialekten und ihrem ureigenen Brauchtum nämlich auch kulturelle Eigenständigkeit sowie Autarkie und damit auf Abgrenzung von anderen.

Der regelmäßig getätigte Appell an die Solidarität führt augenscheinlich nur zu noch mehr Spaltung. Einigkeit kann man nämlich nicht verordnen. Man muss sie vorleben. Nur an sie zu appellieren, genügt nicht.

Funktionalität in Reinform

„Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen — Ist das nicht wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergossne Lebensblut im Sande zerrinnt?“

Vieles in unserem Land ist auf reine Funktionalität ausgerichtet. Dinge und eben leider auch Menschen müssen für uns primär einfach nur funktionieren. Das Menschliche, das Emotionale, das Herzliche, das Spirituelle bleiben dabei oft auf der Strecke. Eine Gesellschaft ist dann im Grunde keine mehr, wenn jeder nur neben dem anderen existiert und es keinen Zusammenhalt mehr gibt; dann bleibt alles Stückwerk, das Verbindende, der gemeinsame Fluss und ein gemeinsames Ziel fehlen uns. Das entmenschlichte Einzelkämpfertum ist schon lange die Folge der kapitalistischen Ellenbogengesellschaft und der neoliberalen Selbstoptimierung. Durch Corona wurden Homeoffice und Quarantäne für viele zur neuen Existenzform — und wenn wir Pech haben, wird es zur neuen Normalität.

Hingabe und Leidenschaft

„Ein jeder treibt das Seine, wirst du sagen, und ich sag es auch. Nur muss er es mit ganzer Seele treiben, muss nicht jede Kraft in sich ersticken, wenn sie nicht gerade sich zu seinem Titel passt, muss nicht mit dieser kargen Angst, buchstäblich heuchlerisch das, was er heißt, nur sein, mit Ernst, mit Liebe muss er das sein, was er ist, so lebt ein Geist in seinem Tun.“

Engagement, Herzblut, die Liebe zu dem, was man tut — all das sind unter Deutschen rar gesäte Eigenschaften. Nicht umsonst kursiert das Schmähwort von der „Servicewüste Deutschland“ schon seit Mitte der 1990er-Jahre (3). Viele betrachten ihren Beruf lediglich als Job, als reine Einnahmequelle, zu der man montags widerwillig hingeht und sich schon aufs kommende Wochenende freut. Ergebnis ist eine Freizeitgesellschaft, in der sich die Menschen nach Feierabend und am Wochenende verwirklichen, aber nicht mehr in und durch ihre Arbeit. Diese wird als lästiges Übel angesehen, als unvermeidbare Notwendigkeit, als Fron, als Schmach, der man sich lieber heute als morgen entledigen möchte.

Arbeit als lebenssinnstiftende Beschäftigung und anthropologisches Parameter der Selbstverwirklichung gerät immer mehr aus dem Blickfeld. Und die Politik tut alles dafür, dass das auch so bleibt. Für die Vermenschlichung der Arbeitswelt wird nichts, für die Entmenschlichung der Arbeitswelt alles getan. Und durch die Coronamaßnahmen sind inzwischen auch viele andere Bereiche unserer Gesellschaft von Entmenschlichung und Vereinzelung betroffen.

„Deine Deutschen aber bleiben gerne beim Notwendigsten, und darum ist bei ihnen auch so viel Stümperarbeit und so wenig Freies, Echterfreuliches. Doch das wäre zu verschmerzen, müssten solche Menschen, nur nicht fühllos sein für alles schöne Leben, ruhte nur nicht überall der Fluch der gottverlassnen Unnatur auf solchem Volke.“

Ein permanentes Herunterschrauben des Niveaus ist allerorten zu bemerken. Ein Begriff wie „Minimalanforderungen“, oder das geflügelte Wort vom „kleinsten gemeinsamen Nenner“ oder die Handwerkerweisheit „Was nicht passt, wird passend gemacht“ legen davon beredtes Zeugnis ab.

Pragmatismus statt Leidenschaft lautet die Devise. Abstumpfen sowohl von Machern als auch von Konsumenten von Produkten oder Kunsterzeugnissen sind die logische Konsequenz. Auf der Arbeit gilt es zu funktionieren, Leistung abzuliefern. Sinn und Hingabe fehlen. Depressionen sind die Folge und seit Jahren eine neue Volkskrankheit (4). Ausruhen wird als Faulheit gewertet. Wer nicht arbeiten will oder kann, darf kein Verständnis erwarten. Arbeit ist ein Beweis der Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft. Diese Verpflichtung zur Arbeit dient allerdings auch als Ausrede für gesellschaftspolitisches Engagement. Man hat halt keine Zeit, um auf die Straße zu gehen und Missstände öffentlich anzuprangern.

Fehlende Demut

„Aber du wirst richten, heilige Natur! Denn, wenn sie nur bescheiden wären, diese Menschen, zum Gesetze nicht sich machten für die Bessern unter ihnen! Wenn sie nur nicht lästerten, was sie nicht sind, und möchten sie doch lästern, wenn sie nur das Göttliche nicht höhnten.“

Kapitalistische Ausbeutung von Mensch und Natur, Profitgier, Profitmaximierung — all das hat unsere westliche Welt an einen Abgrund geführt. Um aber dafür zu sorgen, dass die selbst ernannten Geld- und Machteliten bloß nichts abgeben müssen, haben sie sich neue menschenverachtende und naturverhöhnende Ideologien — wie etwa den Transhumanismus — erdacht. Die Verschmelzung von Mensch und Maschine bringt sie dem Ziel der totalen Kontrolle gefährlich nah. Einige wenige Menschen spielen Gott, um den Rest der Menschheit zu unterjochen (5). Das ist pure Hybris, die bedrohliche Ausmaße annimmt. Wenn Menschen Gott spielen, ist der Untergang einer Gesellschaft in der Regel nicht mehr ferne — man denke an die in den Götterstand erhobenen spätrömischen Kaiser (6).

Würdigung von Kunst und Künstlern

„Es ist auch herzzerreißend, wenn man eure Dichter, eure Künstler sieht, und alle, die den Genius noch achten, die das Schöne lieben und es pflegen. Die Guten! Sie leben in der Welt wie Fremdlinge im eigenen Hause.“

Um die gesellschaftliche Achtung der Kunst und ihrer Künstler ist es im „Land der Dichter und Denker“ nicht sonderlich gut bestellt. Viele belächeln diese durchgeknallten Idealisten, die den beschwerlichen Weg gewählt haben, mit Kunst ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Das Vorurteil der „brotlosen Kunst“ geistert immer noch in vielen Köpfen umher. Künstler werden oft missachtet, gelten sie doch als eine daueralimentierbedürftige Gesellschaftsgruppe, die zudem für die Produktivität unseres Landes als überflüssig erachtet wird. Kunst wird in den Augen vieler überproportional subventioniert. Dass das allerdings unter Bildungsauftrag läuft, der staatlich finanziert wird, wollen viele nicht begreifen (7).

Auch unser neoliberalisiertes Gesellschaftsbild bietet echter Kunst immer weniger Raum.

Eine Kunst, die primär in den Kategorien Rentabilität und Profitabilität agieren muss, konterkariert ihren ureigensten Wesenskern.

Echte Kunst ist frei von Kommerz, echte Kunst ist frei von Ökonomie. Kunst ist Emotion und Ästhetik pur und ein Künstler muss unbequem sein dürfen, muss zuspitzen und anecken, wenn er politisch aufrütteln will. Eine Kunst, die nur gefallen will und dementsprechend harmlos daherkommt, verfehlt ihren Zweck. Das gilt auch für das Theater. Wer nur auf Auslastungszahlen blickt und sich dem Publikumsgeschmack anbiedert, liefert in der Regel zahnlose Unterhaltung ab.

Viele Menschen verspüren jedoch große Sehnsucht nach tiefem und echtem Berührtwerden durch die Kunst. Doch für diese Klientel wird immer weniger Kunst gemacht. Zu groß scheint das Risiko eines wirtschaftlichen Scheiterns oder eines Verrisses in den Feuilletons als „bieder und altbacken“.

Bildung und Bildungssystem

„Voll Lieb und Geist und Hoffnung wachsen seine Musenjünglinge dem deutschen Volk heran; du siehst sie sieben Jahre später, und sie wandeln, wie die Schatten, still und kalt, sind, wie ein Boden, den der Feind mit Salz besäete, dass er nimmer einen Grashalm treibt.“

Deutschland wendet pro Jahr 30 Milliarden Euro weniger für sein Bildungssystem auf als der Durchschnitt der OECD-Staaten (8). Inhaltlich ist unser Bildungssystem völlig veraltet. Statt intrinsischer Motivation und Individualförderung setzt man auf Abrichtung und Gleichmacherei wie im alten Preußen. Besonders fatal ist das an den Universitäten, die durch das Bologna-System regelrecht verschult worden sind (9). Ein Studium hat heute mit dem ursprünglichen Gedanken von Studieren als selbstständigem Lernen und Durchdenken nur noch wenig gemeinsam.

Universitäten sind zu „Auswendiglern-Instituten“ geworden, an denen die kommende Generation von Arbeitnehmern abgerichtet wird. Schule und erst recht Universitäten sind heute nur noch „Talentmühlen“, in die man oben begabte hoffnungsvolle Leute hineinwirft, und bei denen dann unten nur noch ein normierter und systemkonformer Einheitsbrei herauskommt. Erschwerend kommt hinzu, dass Universitäten durch diese chronische Unterfinanzierung des Bildungssektors heute zu „Drittmittelbordellen“ mutiert sind (10), was die Unabhängigkeit ihrer Lehre stark in Zweifel zieht. Gefördert wird nur noch, was sich rechnet.

Ohnmacht und Hybris zugleich

„Es ist auf Erden alles unvollkommen, ist das alte Lied der Deutschen. Wenn doch einmal diesen Gottverlassnen einer sagte, dass bei ihnen nur so unvollkommen alles ist, weil sie nichts Reines unverdorben, nichts Heiliges unbetastet lassen mit den plumpen Händen, dass bei ihnen nichts gedeiht, weil sie die Wurzel des Gedeihens, die göttliche Natur nicht achten, dass bei ihnen eigentlich das Leben schal und sorgenschwer und übervoll von kalter, stummer Zwietracht ist, weil sie den Genius verschmähn, der Kraft und Adel in ein menschliches Tun, und Heiterkeit ins Leiden und Lieb und Brüderschaft den Städten und Häusern bringt.“

„Die da oben machen ja eh, was sie wollen!“ „Da kann man nichts machen!“ und viele andere Alltagsfloskeln, die die empfundene Ohnmacht der Deutschen gegenüber ihren Regierungen veranschaulichen, sind uns allgegenwärtig. Sich in sein Schicksal fügend, verzichtet der Deutsche auf Protest. Die Erregung am Stammtisch genügt ihm meist vollends. Tragischerweise verschwinden aber auch diese Stammtische immer mehr aus unseren Städten und Gemeinden — besonders auf dem Lande. Vielen Menschen fehlen inzwischen Begegnungsstätten und der Austausch mit anderen.

Auf der anderen Seite haben wir eine Wissenschaft, die keine Tabus mehr zu kennen scheint, die ohne jegliche moralische Bedenken in jeden noch unerforschten Winkel hineinkriecht und alles zu Geld zu machen sucht, was geht. Unsterblichkeits- und Allmachtsfantasien scheinen der Motor der Eliten zu sein.

Angst und widerspruchsloses Hinnehmen

„Und darum fürchten sie auch den Tod so sehr, und leiden, um des Austernlebens willen, alle Schmach, weil Höhers sie nicht kennen, als ihr Machwerk, das sie sich gestoppelt.“

Nicht nur die sprichwörtliche „German Angst“ (11), auch die Todesangst scheint in Deutschland besonders stark verbreitet. Deswegen werden hier vielleicht auch besonders häufig Tod und Siechtum aus der Gesellschaft in Senioren- und Pflegeheime und auf Palliativstationen ausgelagert, denn aus ihnen dringt quasi nichts von der Beschwerlichkeit des Alterns und Sterbens nach draußen.

Widerspruchsloses Hinnehmen von Ausbeutung und sozialpolitischem Unrecht sind uns seit der Agenda 2010 und erst recht seit Corona tief vertraut. Viele kleben förmlich an ihrem alten Leben und das, obwohl sie damit hochgradig unzufrieden sind. Auf die Straße zu gehen und zu protestieren, scheint vielen abwegig oder gar unvorstellbar. Das Hinnehmen und Erdulden liegt den Deutschen bedeutend mehr. Vielleicht fehlt es auch an Protestkultur. Stattdessen hat man über Jahre eine brave, angepasste junge Generation erzeugt, die den Feind im anderen sieht, aber nicht im System.

Zwischen stummem Erdulden und lautstarkem öffentlichem Protest liegen noch Meckern und Nörgeln. Auch darin sind die Deutschen Meister. Aber mit aktiver Veränderung tun sie sich äußerst schwer.

Das sieht man auch beim Wahlverhalten an der Urne: Egal, welche Lohn- und Rentenkürzungen der Bevölkerung angetan werden, die dafür verantwortlichen Parteien werden mit stoischer Penetranz seit Jahrzehnten immer wieder gewählt. Kürzt die CDU, wählt man „zur Strafe“ die SPD. Kürzt die SPD, wählt man „zur Strafe“ die CDU. Und dieses infantile, sinnlose Spiel geht seit Jahrzehnten ohne Unterbrechung immerfort so weiter. In dieser Mühle der Ohnmacht ist der Deutsche einerseits gefangen, und andererseits scheint er das geradezu zu genießen, denn ein Ausbrechen aus diesem Hamsterrad scheint ihm nicht in den Sinn zu kommen. Jede Bürgerpartei, die ihm die Hand hinstreckt und echte demokratische Alternativen der Mitbestimmung zu diesem System offeriert, schlägt er konsequent aus.

Innerer Kerker und Auswege

„Genug! Du kennst mich, wirst es gut aufnehmen, Bellarmin! Ich sprach in deinem Namen auch, ich sprach für alle, die in diesem Lande sind und leiden, wie ich dort gelitten.“

Hölderlins sprachlich brillante Analyse, aus der durchaus auch Verzweiflung spricht, dringt tief in das Wesen der deutschen Seele ein und breitet dieses schonungslos wie ein offenes Buch vor uns aus. Skurril, dass dieser 1799 veröffentlichte Text trotz der vielen historischen und sozialen Veränderungen, die seither auf deutschem Boden stattgefunden haben, immer noch so treffend ist. Es scheint, als seien Napoleon, Restauration, Biedermeier, die erste industrielle Revolution, Bismarck, das Deutsche Reich, das Kaiserreich, ein Weltkrieg, eine Wirtschaftskrise mit horrender Inflation, ein zweiter Weltkrieg samt Faschismus und Genozid, Wiederaufbau, Wirtschaftswunder im Westen, Diktatur im Osten, die 68er-Bewegung, Terrorismus, 16 Jahre der Erstarrung durch Kohl, Wende, Neoliberalismus, 16 Jahre der Erstarrung durch Merkel und die Coronakrise am Kern des Deutschen spurlos vorbeigegangen. Das liegt wohl schlicht daran, dass der Wesenskern der Deutschen sich nie verändert hat. Unweigerlich kommt einem die berühmte Aussage Heinrich Heines in den Sinn:

„Der Deutsche gleicht dem Sklaven, der seinem Herrn gehorcht, ohne Fessel, ohne Peitsche, durch das bloße Wort, ja durch einen Blick. Die Knechtschaft ist in ihm selbst, in seiner Seele; schlimmer als die materielle Sklaverei ist die spiritualisierte. Man muß die Deutschen von innen befreien, von außen hilft nichts“ (12).

Wie aber befreit man ein Volk von innen? Man kann nicht ein ganzes Volk auf die Couch legen. Wer kann das leisten? Wer reißt dieses Volk aus seiner Lethargie und Apathie?

Hölderlins Titelheld Hyperion wählt am Ende des Romans die Flucht in die Natur. Dort findet er Trost und die Einsicht, dass letztlich alles in Harmonie und Frieden endet:

„Es scheiden und kehren im Herzen die Adern und einiges, ewiges, glühendes Leben ist Alles.“

Der Beitrag erschien zuerst bei rubikon. Wir veröffentlichen ihn hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Zum Autor: Ralph Zedler, Jahrgang 1970, studierte nach dem Abitur Musikwissenschaft, Pädagogik und Allgemeine Sprachwissenschaften an der Universität zu Köln und als Pianist Liedgestaltung an der Musikhochschule Köln. Parallel dazu arbeitete er für den Trierischen Volksfreund als Musikkritiker. Von 1999 bis 2011 war er am Mecklenburgischen Staatstheater in Schwerin als Repetitor engagiert. 2013 erschien seine Monographie über die amerikanische Sopranistin Arleen Auger im Dohr-Verlag und in den Folgejahren drei CDs mit Opernphantasien für das Label MDG. Heute ist er am Volkstheater Rostock engagiert.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Hölderlin, Friedrich: Hyperion. Kehl 1993.
(2) https://www.welt.de/kultur/history/article13641035/Diese-deutsche-Kleinstaaterei-war-segensreich.html
(3) https://blog.hubspot.de/service/servicewueste-deutschland
(4) https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/gesundheitsgefahren/depression.html
(5) https://www.chbeck.de/empfehlungen/specials/yuval-noah-harari-homo-deus/
(6) https://www.sfb1167.uni-bonn.de/aktuelles/nachrichten/interview-voessing
(7) https://www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/60011/oeffentliche-kulturbetriebe-zwischen-bildungsauftrag-und-besucherorientierung/
(8) https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/oecd-studie-30-milliarden-euro-zu-wenig-fuer-bildung-pro-jahr/20316926.html
(9) https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-658-21290-2_17
(10) Der Bildungsphilosoph Matthias Burchardt prägte diesen Begriff in seinem Essay über den „Homo hygienicus“: https://www.itpol.de/der-homo-hygienicus/
(11) https://www.focus.de/politik/praxistipps/german-angst-was-ist-das-eigentlich_id_7705190.html
(12) Heine, Heinrich: Gedanken und Einfälle, in: Letzte Gedichte und Gedanken von Heinrich Heine, herausgegeben von Adolf Strodtmann 1869. IV. Individualität. Staat und Gesellschaft.

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PS: Wer mehr zu dem Thema Depressionen erfahren will, wird hier fündig: Mein Weg aus der Angst