Sonntag, 22. Dezember 2024

Moskau: nördlichste Megacity

Während unser Held den Mond betrachtet und seinen Gedanken nachhängt, sollten wir uns kurz über Städte unterhalten. Darüber, wie sich die Größe von Städten bestimmen lässt und welchen Platz Moskau unter den größten Städten der Welt einnimmt.

In den vergangenen 20 Jahren scheint die Bevölkerungzahl vor allem asiatischer Metropolen regelrecht explodiert zu sein. Tokio, das in diversen Ranglisten als bevölkerungsreichste Stadt geführt wird, soll derzeit rund 38 Millionen Einwohner haben. Bereits Ende der 1980er-Jahre führte die Stadt das Ranking an. Damals noch mit 17 Millionen Einwohnern. Im gleichen Zeitraum wuchs Schanghai angeblich von 7 auf 23 Millionen Einwohner.

Tatsächlich erklärt sich solches Wachstum weniger über wirkliche Populationszunahmen, als über den Faktor Stadtgebiet. So wird häufig die Agglomeration, also das urbane Ballungsgebiet, manchmal auch die Metropolen-Region aus mehreren Groß- oder sogar Millionenstädten unter einem gemeinsamen Stadtnamen zusammen gefasst. Wie im Falle Tokios: die 13.570 Quadratkilometer große Metropolen-Region ist nur wenig kleiner als Schleswig-Holstein und müsste korrekterweise „Großraum Tokio-Yokohama“ heißen, der insgesamt vier Millonenstädte und 27 Städte mit mehr als 200.000 Einwohnern aufweist. Tokios eigentliche Kernstadt hingegen misst lediglich 622 Quadratkilometer und zählte 2016 9,3 Millionen Einwohner. Seit 1965 ein Wachstum um gerade einmal 0.4 Millionen.

Andererseits sind solche kaum vorstellbaren Einwohnerzahlen oft die Folge von Verwaltungsreformen. Durch großflächige Eingemeindungen beispielsweise verzehnfachte sich das Gemeindegebiet Schanghais von 636 Quadratkilometern im Jahre 1958 auf gegenwärtig 6.330 Quadratkilometer. Der historische, „Puxi“ genannte Stadtkern Schanghais indes hatte in den letzten Jahrzehnten konstant 7 Millionen Einwohner auf 282 Quadratkilometern – der Fläche Dortmunds.

Moskau aber ist anders. Die russische Hauptstadt ist kein zusammen gewuchertes Ballungs-Gebiet mit dutzenden großer Vorstädte, sondern besitzt eine sehr dominante Einzellage. Von 1988 bis 2015 wuchs die Bevölkerung um 3,1 auf 11,6 Millionen Einwohner. Zwar wurden 2012 einige Gebiete eingemeindet, die das Verwaltungsgebiet Moskaus auf das Zweieinhalbfache vergrößerten. Dabei handelt es sich jedoch überwiegend um Wald und vergleichsweise dünn besiedelte, kleinstädtisch-dörfliche Strukturen. Seit Jahrzehnten weist die russische Hauptstadt deshalb ihr klar definiertes Stadtgebiet auf – nämlich im Prinzip alles innerhalb des dritten Moskauer Autobahnrings, den Sima zur Umfahrung empfohlen hatte. Nur diese sich vom Umland scharf abgrenzende Kernstadt wollen wir mit anderen „Kernstädten“ vergleichen.

Ein dritter Punkt, der es erschwert, die Größe von Städten vergleichbar zu machen, ist die Unterscheidung zwischen dauerhaft registrierten Einwohnern, solchen mit temporärer Aufenthaltsgenehmigung und Unregistrierten, also Illegalen. Manche Stadtverwaltungen geben die temporären Einwohner mit an. Bei anderen Städten werden gar Schätzungen inklusive der Illegalen angegeben, deren es in Moskau sehr viele gibt. Uns interessieren hier nur die offiziell registrierten, dauerhaften Einwohner.

In den Ranglisten der größten Städte liegt die russische Hauptstadt meist irgendwo zwischen Rang 9 und Rang 15. Folgt man jedoch oben vorgenommener Eingrenzung, dann rückt Moskau nach vorn. Gemessen an der Einwohnerzahl der historischen Kernstadt gibt es gegenwärtig nur drei größere Städte:

1. Lagos: 13,1 Millionen Einwohner (2015) im eigentlichen Stadtgebiet (907 Quadratkilometer Fläche)

2. Mumbai (Bombay), 12,5 Millionen Einwohner (2011) im eigentlichen Stadtgebiet (603 Quadratkilometer, davon 103 Quadratkilometer Sanjay-Gandhi-Nationalpark).

3. São Paulo, 11,9 Millionen Einwohner (2015, 1221 Quadratkilometer)

Dann folgt bereits Moskau mit 11,6 Millionen Einwohnern (2014) auf 1043 Quadratkilometern.

Freilich fallen hier oft auch andere Namen: Mexico-City, Peking, Istanbul – die Liste der Städte mit über 10 Millionen Einwohnern ließe sich fortsetzen. Doch fast immer ist es entweder deren Agglomeration, die mehr Einwohner verzeichnet als Moskau, ein Verwaltungsgebiet, das mehr als die Kernstadt umfasst oder die Zahl inklusive unregistrierter Einwohner. Mit letzteren wird auch Moskau auf bis zu 20 Millionen Menschen geschätzt.

Richten wir deshalb unser Augenmerk auf die zweite, für einer nächtliche Durchfahrt entscheidende Kategorie: die schiere Größe des eigentlichen Stadtgebiets. Moskaus Fläche misst 1043 Quadratkilometer und erstreckt sich in Luftlinie etwa 39 Kilometer in Nord-Süd-Richtung, und rund 30 Kilometer in Ost-West-Richtung. Dazu ein vergleichender Blick in die Welt. Berlin ist nach Gemeindegrenzen inklusive des grünen Streifens an der Havel 891 Quadratkilometer groß. Berlins bebaute Fläche beträgt allerdings nur etwa 580 Quadratkilometer. New York City bringt 789 Quadratkilometer urbanes Gebiet mit. Von Delhis, der Hauptstadt Indiens, 1.483 Quadratkilometern sind 50 Prozent ländlich geprägt. Peking weist 1368 Quadratkilometer auf, gegliedert in die Zonen „innere Stadt“ und „Stadt“, die nahtlos in weitere verstädterte und eingemeindete Distrikte übergehen. Es scheint, dass 1000 Quadratkilometer reine Stadtfläche nur selten übertroffen werden.

Damit gehört Moskau auch hinsichtlich seines Kernstadt-Territoriums ohne Vororte zu den flächengrößten Städten der Welt. Von all diesen Besonderheiten abgesehen ist Moskau außerdem die nördlichste Megacity und jene, die am weitesten von einem vergleichbaren urbanen Gebilde (über 10 Millionen Einwohner) entfernt liegt. Bei Bergen nennt man diese Eigenschaft „Dominanz“. Je größer die Dominanz eines Berges, desto weiter müsste man gehen, um zu einem noch höheren Berg zu gelangen. (Daraus folgt, dass die Dominanz des Mount Everest „unendlich“, aber die des K2 (8611m) kleiner als die des Kilimanjaro (5895m) ist.) Kurzum: Die Stadt, auf die sich der weiße Bus mit den zwei unausgeschlafenen Reisenden zubewegte, war eine geografische Ausnahmeerscheinung. Deshalb nun zurück zur jener nächtlichen Fahrt …

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David Berger
David Bergerhttps://philosophia-perennis.com/
David Berger (Jg. 1968) war nach Promotion (Dr. phil.) und Habilitation (Dr. theol.) viele Jahre Professor im Vatikan. 2010 Outing: Es erscheint das zum Bestseller werdende Buch "Der heilige Schein". Anschließend zwei Jahre Chefredakteur eines Gay-Magazins, Rauswurf wegen zu offener Islamkritik. Seit 2016 Blogger (philosophia-perennis) und freier Journalist (u.a. für die Die Zeit, Junge Freiheit, The European).

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