Gastbeitrag von Meinrad Müller
Wenn mein Sohn, 45, mich, 71, „Papa“ nennt, tanzt meine Seele. Es ist kein Wort, es ist Musik. Sie trägt mich zurück in jene Jahre, als er gerade zu sprechen begann und zu meinem leichten Missvergnügen zuerst „Mama“ sagte. Natürlich, sie war näher dran. Aber irgendwann kam dieses erste „Papa“, zaghaft, wie ein Geschenk. Wer das einmal gehört hat, weiß, dass Liebe auch in zwei Silben wohnen kann.
Die Pyramide der Liebe
Ohne einen unserer Vorfahren – und sei er hunderttausende Jahre her – gäbe es uns nicht. Ein Mann und eine Frau begegneten sich, fühlten Zuneigung, und wie von Zauberhand begann der Strom des Lebens zu fließen. Seitdem geht dieses Wunder weiter, Generation für Generation.
Wir stehen heute an der Spitze einer Pyramide, die aus Zuneigung gebaut wurde. Unten, im breiten Fundament, Millionen Liebesgeschichten, Schweiß, Tränen, Zufälle – alles trägt uns. Und doch kennen wir meist nur die obere Schicht: Eltern, vielleicht noch die Großeltern, die Urgroßeltern schon selterner. Die Erinnerung reißt ab. Aber das Werk ihrer Liebe lebt in uns fort.
Was bleibt, wenn alles andere vergeht?
Wahrer Reichtum – das sind nicht die Dinge, die man zählen kann. Es sind die Menschen, die man vermisst, wenn sie fehlen. Es ist die Hand, die dich hält, wenn du schwach bist. Der Blick, der dich erkennt, auch wenn du selbst dich verloren hast.
Wenn der Sohn den alten Vater „Papa“ nennt, dann ist das kein Rest aus Kindheitstagen. Es ist ein Echo des Ewigen. Ein Beweis, dass Liebe nicht verbraucht, sondern vererbt wird.
Wer wird auf unsere Pyramide klettern? Werden unsere Kinder sie weiterbauen – oder legen sie die Hände in den Schoß, im bequemen Glauben, die Geschichte beginne mit ihnen und ende auch dort?Vielleicht ist der „andere Reichtum“ nichts anderes als die Fähigkeit, die eigenen Wurzeln zu ehren. Zu wissen: Ich bin nicht das Zentrum, sondern ein Glied in einer langen Kette. Wer das versteht, wird demütig – und reich.
Ein Erbe, das sich vermehrt
Geld verliert an Wert, Aktienkurse schwanken, Häuser verfallen. Aber die Erinnerung an einen Vater, der zuhört, oder an eine Mutter, die tröstet, bleibt. Sie wird weitergegeben, unmerklich, über Gesten, Blicke, Haltungen.
Vielleicht ist das das wahre Kapital einer Familie: nicht das, was man anhäuft, sondern das, was man weitergibt. Wer Kinder erzieht, vermehrt den Reichtum der Welt. Nicht durch Besitz, sondern durch Beispiel.
Und wenn mein Enkel mich „Opi“ nennt, dann weiß ich: Die Pyramide wächst weiter.
Entdecke mehr von Philosophia Perennis
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.