Donnerstag, 18. April 2024

27. Januar: Hört endlich auf, vom „Schuldkult“ zu reden!

(David Berger) „Hört endlich auf mit dem Schuldkult“, „Der Schuldkult ist die Ursache für die Grenzöffnung Merkels“ – solche und ähnliche Aussprüche hört man immer öfter im Lager derer, die sich gerne als „Patrioten“ bezeichnen. Und das selbst heute, am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Die Problematik dieses Begriffs ist dabei den wenigsten bewusst.

Aufgrund heftiger Aggressionen rechtsextremer Kreise gegen meine Person wurde ich in den Diskussionen der letzten Wochen immer wieder mit dem Begriff „Schuldkult“ konfrontiert. Er wird meistens von den „neuen Rechten“, gelegentlich aber auch einigen Liberal-Konservativen gebraucht.

Bei „Schuldkult“ handelt es sich, das sollten alle zuerst wissen, die ihn gebrauchen, um einen Begriff, der von ehemaligen Nationalsozialisten im Kontext der Entnazifizierung erfunden wurde. Er soll die nach dem Ende des Dritten Reiches entstandene Erinnerungskultur im Hinblick auf die Verbrechen des nationalsozialistischen  Deutschlands, besonders die Schoa, entwerten.

Immer wieder entsteht dadurch der Eindruck, dass mit dem Gebrauch des Begriffs mehr oder weniger bewusst der Versuch gemacht wird, die Verantwortung für die Verbrechen der Nationalsozialisten und deren Folgen zu verharmlosen. Dabei unterstellt man allen, die von diesen Verbrechen sprechen, dass sie dies demagogisch zur Unterdrückung Deutschlands und zur Verhinderung der Entstehung eines neuen Nationalismus tun. Sehr oft wird dann im gleichen Atemzug betont, dass die NS-Verbrechen auch nicht schlimmer seien als die Kriegsverbrechen der Alliierten im Zweiten Weltkrieg.

Brauchen wir eine erinnerungspolitische Wende?

In diesem Zusammenhang wird dann auch die Forderung erhoben, dass wir in unserer Erinnerungskultur eine Wende brauchen: Dass es Zeit ist, endlich den Jahren des Nationalsozialismus, diesem hyper-perversen Sozialismus, und den damit verbundenen Verbrechen der Schoah weniger Aufmerksamkeit zu widmen als bisher geschehen.

Bei dem Ruf nach einer „erinnerungspolitischen Wende“ begegnen wir häufig folgenden Argumenten:

„Was gehen mich die Verbrechen meiner Ururgroßväter und Mütter an? Wieso werde ich dafür heute noch haftbar gemacht? Ich habe doch keine Schuld an dem, was passiert ist!“

Und in der Folge dann:

„Dieses Schuldgefühl wird doch nur instrumentalisiert, damit wir Deutschen zu allem, von offenen Grenzen bis zu massenhaften Vergewaltigungen deutscher Frauen und Kinder durch Migranten, verschämt schweigen.“

(Achtung an die Qualitätsmedien und die damit verbundenen Zensurstellen: Das sind Zitate aus sozialen Netzwerken! Nicht meine Aussagen!)

Es gibt keine Kollektivschuld im Sinne einer „Solidarschuld“

Zunächst ist es völlig korrekt: Eine persönliche Schuld gibt es bei jenen, denen die „Gnade der späten Geburt“ (Helmut Kohl) vergönnt war, tatsächlich nicht. Auch gegen eine Kollektivschuld im Sinne einer „Solidarschuld“ haben sich schon 1945 kluge Köpfe, wie etwa der britisch-jüdische Verleger Victor Gollancz, ausgesprochen. Und das zu einem Zeitpunkt und unter Bedingungen, die alles andere hätten verständlich erscheinen lassen.

Das heißt, es ist geradezu „unsinnig, jeden einzelnen Deutschen der Naziverbrechen für schuldig zu halten– aus dem einfachen Grund seiner Zugehörigkeit zur deutschen Nation“ ( Benjamin Sagalowitz, 1950).

Etwas anderes freilich ist es, von „Versagen“ und damit auch „Schuld“ in historischen Zusammenhängen zu sprechen.

Ich bin in den Bundesrepublik Deutschland 1968 geboren. Ich habe dieses Land in meiner Kindheit und Jugend als meine Heimat, die mir alle Entfaltungschancen gab, schätzen gelernt.

Heimatliebe ist kein Verbrechen

In Bayern aufgewachsen und auf einer Klosterschule gebildet, war mein Unterricht noch so gestaltet, dass die deutsche Geschichte nicht auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 reduziert war, wie die „Schuldkult“-Rufer immer wieder insinuieren. Sondern es war ein Unterricht, in dem auch die großen Zeiten unseres Volkes, seine Hochleistungen in Kunst und Kultur eine entscheidende Rolle in allen geisteswissenschaftlichen Fächern spielten.

Wenn ich mich recht erinnere, trat in dieser Zeit neben die einfache Liebe zur Heimat, die sehr regional auf das Frankenland und auf Bayern bezogen war, jene zu meinem Vaterland. Ich empfand zum ersten mal das Glück zu einem Volk zu gehören, das in seiner Geschichte neben Dunkelheiten eben auch viele lichte Sternstunden, von der Kaiserkrönung Karls bis hin zur friedlichen Revolution von 1989 kennt. Ein Volk, das ganz entscheidend die Geschicke Europas mitgeprägt hat. und noch heute schlägt mein Herz höher, wenn die Bayern- oder Deutschlandhymne erklingt.

Gott mit dir, du Land der Bayern,
deutsche Erde, Vaterland!
Über deinen weiten Gauen
ruhe Seine Segenshand!
Er behüte deine Fluren,
schirme deiner Städte Bau
Und erhalte dir die Farben
Seines Himmels, weiß und blau!

Je mehr ich mich mit der Geschichte und Gegenwart des jüdisch-christlichen Abendlandes beschäftigt habe, ist auch in mir die Freude daran gewachsen, selbst von dieser Kultur und Geschichte geprägt zu sein. Von jenem in den letzten Jahren auf einmal im Zusammenhang mit Pegida zum „Nazibegriff“ herabgewürdigten Abendland, in dem Menschen deutscher Sprache eine wichtige Rolle gespielt haben. Bereits im Winter 2017/18 ist dieses Video dazu entstanden:

Das jüdisch-christliche Abendland gegen einen falschen Nationalismus

Es erfüllt mich nach wie vor mit Stolz, Kind des Abendlandes zu sein. Jenes Abendlandes, das im Mittelmeerrraum in der Antike geboren, aus dem Denken großer Geister wie Sokrates, Platon und Aristoteles hervor wuchs, vom Rechtsdenken und den strategischen Leistungen der Römer geprägt wurde.

Ein Erbe, das nach dem Untergang der Antike von der katholischen Kirche und ihren Geistesgrößen – wie einem Thomas von Aquin – bereichert wurde. Und ganz entscheidend auch durch den Einfluss der immerhin fast ein Jahrtausend prägenden Tradition des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ (962-1806) – weiter getragen wurde.

Ein stets in einem lebendigen Traditionsprozess und interkulturellem Austausch modifiziertes Erbe, das zunächst die Geburt der Universität und eines echten Wissenschaftsverständnisses, dann durch heftige Kämpfe (von dem Investiturstreit angefangen bis hin zur immer noch nicht ganz abgeschlossenen Kampf für die Trennung von Thron und Altar) hindurch Aufklärung und Säkularisierung ermöglichte.

Dieser Stolz und diese Freude ist jedoch immer verbunden mit dem Wissen um die tiefen Schatten, die neben diesen Lichtsäulen der Geschichte stehen:

Aristoteles, der mit Plato wie kein anderer für das Geistesgerüst der hellenistischen Kultur und damit die Geburt des Abendlandes steht, war auch der Lehrer eines Alexander, dem die Geschichte den Beinahmen des Großen gegeben hat. Und das obwohl er Tausende seiner Soldaten, seinen Geliebten und schließlich sich selbst für seine Machtgelüste und ein Denken, in dem sich (soweit wir das wissen) Idee und Ideologie vermischen, in den Untergang trieb.

Das Wissen auch darum, dass der Untergang der Monarchien im Zusammenhang des ersten Weltkrieges eigentlich mehr Demokratie hätte ermöglichen sollen, aber stattdessen Diktaturen in ganz Europa und damit dem Zweiten Weltkrieg den Weg bereitet hat.

Das Wissen darum, dass die katholische Kirche die Entwicklung der Menschenrechte über das christliche Ethos vorbereitete, stets ihre Stimme gegen übertriebene Nationalismen erhob, aber gleichzeitig noch bis vor wenigen Jahrzehnten den heidnischen Antisemitismus ideologisch vorbereiten half. Und nun wieder fast komplett versagen, wenn es um den Import von Millionen an Antisemiten nach Europa geht.

Und das Wissen darum, wie sehr das Volk der Dichter und Denker sich zum willfährigen Vollstrecker von verbrecherischen Barbaren hat machen lassen.

Neben dem Stolz steht auch tiefe Scham über die Verbrechen der Nationalsozialisten

So steht neben all dem Stolz auch immer die tiefe Scham über die Unheilsjahre in Deutschland und die damit verbundenen Verbrechen der Nationalsozialisten, zumal an den Juden, aber unter anderem auch an Homosexuellen, Katholiken, dem Adel und den Zeugen Jehovas – und an den angegriffenen Völkern der eigenen deutschen Bevölkerung.

Wer diese Geschichte näher betrachtet, sieht wie das Böse und die damit verbundene Schuld in ihrer enormen Macht ungeheuer starke Verflechtungen und Netzwerke bildet, die eine Dimension erreichen, in der kaum jemand mehr komplett unschuldig bleiben kann. Der damalige Papst Pius XII ist dafür ein anschauliches Beispiel.

Die Scham eines Abendländers auch darüber, dass man Osteuropa die Schande des Kommunismus angetan hat – mit all seinen Verbrechen, seinen Gulags und vielen anderen Widerwärtigkeiten, die (wie man am langen Arm der Stasi sieht) bis in unsere heutige Zeit fortwirken. Auch ein Teil Deutschlands wurde Opfer dieser verbrecherischen Ideologie und nicht wenige Deutsche haben sich in der Zeit des DDR-Regimes zu Mittätern gemacht. Auch hier ist das gezielte Vergessen eine Katastrophe, die sich derzeit besonders fatal auswirkt.

Ich werde jetzt nicht die Zahl der Opfer des Nationalsozialismus neben jene der Opfer des Kommunismus stellen, wie das nicht nur durch jene geschieht, die damit die Schandtaten der Nationalsozialisten relativieren wollen. Denn ich weiß natürlich, dass so wie kein Mensch letztlich mit dem anderen vergleichbar ist, auch keine Schuld mit der anderen abwägbar ist.

Deshalb taugen auch die nervenden, in ihrer letzten Konsequenz perversen Diskussionen über die exakte Opferzahl der jeweiligen Unrechtsregime, zu nichts. Aber darum geht es auch nicht.

Es geht viel mehr darum, dass es zu unserem eigenen Schaden geschieht, wenn wir – zumal auf programmatische Ansage – vergessen.

Denn – und ich sage das auch im Blick auf den Umbruch, den wir derzeit in Deutschland erleben – es sind immer ähnliche Mechanismen, mit denen Menschen zum Bösen oder zumindest zum Schweigen angesichts des Bösen getrieben werden. Der Sozialismus in seinen roten und braunen Ausprägungen hat noch immer eine ungeheure Macht.

Die Weisheit der immerwährenden Philosophie

Der Mensch – so eine der tiefen Weisheiten der philosophia perennis – verändert sich in seiner Natur nicht. Die conditio humana bleibt immer dieselbe. In den Menschen, die im Dritten Reich lebten, quälten und mordeten, gequält und ermordet wurden, floss das gleiche Blut wie in jenen, die heute lebten oder vor Jahrhunderten. Wir sind nicht weniger anfällig als sie für das Böse.

Wer vor dem alltäglichen Terror in Europa und unserem Vaterland nicht krampfhaft die Augen verschließt, der kann gar nicht anders als hier eine geradezu dämonische Besessenheit am Werk zu sehen.

Und immer wieder ist es das mysterium iniquitatis, das undurchdringliche Geheimnis des Bösen, dem der Mensch sich zuneigt in einer fast nihilistischen Ponderation, die ihm neben dem Streben nach dem Glück und damit dem Guten und der Tugend innewohnt.

Der Psychologe Carl G. Jung hat dieses Zusammen von dunklen und hellen Archetypen gar als konstitutionell für den ganzen Menschen und daher auch seine psychische Gesundheit gedeutet.

In diesen Einsichten aus Philosophie und Psychologie finden wir die Basis, warum und unter welchem Vorbehalt wir von einer Wiederholung der Geschichte sprechen können, was nichts anderes heißt, als dass wir den Menschen in seiner Größe, aber auch seiner Niedertracht und Schuld wieder erkennen.

Mir geht es in diesem Sinne darum, dass ich ebenso selbstbewusst, wie ich mich als Abendländer fühle und die Deutschland- und Bayernhymne mitsinge, die Deutschlandfahne mit Freude sehe und sage, dass ich Deutscher bin, mich schäme für das, was da Menschen Menschen, Europäer Europäern, Deutsche Deutschen angetan haben.

Echter Nationalstolz ist nur möglich, wenn wir die Schuld nicht verdrängen

Nur beides, Größe und Niederung, Stolz und Scham zusammen ist für mich – als Menschen, der immer wieder zum Bösen neigt und doch von Verzeihung und Gnade lebt – glaubwürdig.

Nur ein Körper mit Narben ist wirklich echt und daher schön. Für mich ist diese Selbsterkenntnis des einzelnen, der nach Aristoteles zoon politicon (gesellschaftliches Lebewesen) ist, auch die Basis für ein umfassenderes Denken. Das einen falschen übertriebenen und andere ausschließenden Nationalismus, der eine Superiorität welcher Hautfarbe oder „Rasse“ (?) auch immer postuliert, von einer tiefen und wehrhaften Liebe zum eigenen Vaterland, der angestammten Heimat unterscheiden kann.

Wer echten Nationalstolz bei den Deutschen wiedergewinnen will, auch um der von Antifa & Co tatsächlich schamlos instrumentalisierten Nazikeule und dem krankhaften Hass linksgrüner Kreise auf Deutschland etwas entgegen zu setzen, aber gleichzeitig die dunklen Stellen unserer Geschichte ausblenden und verstecken möchte, wird erbärmlich scheitern.

Statt die Feinde unserer offenen Gesellschaft und Demokratie zu bekämpfen, füttert er sie wider willen. Und nimmt die Gefahr in Kauf, dass der neue Faschismus, getarnt als Antifaschismus – erneut mit ähnlichen Opfergruppen – wieder Oberwasser gewinnen könnte. Nie wieder!

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David Berger
David Bergerhttps://philosophia-perennis.com/
David Berger (Jg. 1968) war nach Promotion (Dr. phil.) und Habilitation (Dr. theol.) viele Jahre Professor im Vatikan. 2010 Outing: Es erscheint das zum Besteller werdende Buch "Der heilige Schein". Anschließend zwei Jahre Chefredakteur eines Gay-Magazins, Rauswurf wegen zu offener Islamkritik. Seit 2016 Blogger (philosophia-perennis) und freier Journalist (u.a. für die Die Zeit, Junge Freiheit, The European).

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