Samstag, 20. April 2024

10. Kapitel – Jewgeni

I

Ich schlug die Augen auf. Alles war still. Unruhe hatte mich aus im Schlaf zurück geholt: Motorstörung + + + Werkstatt aufsuchen! Was jetzt? Ich schaute auf mein Mobiltelefon: es war 6 Uhr nochwas…! Gerade mal vier Stunden… Ich lag da und versuchte, ruhig zu werden. Doch der Tumult in meinem Inneren war zu heftig. Ich stand auf und tappte leise in der Wohnung umher. Eine Tür stand etwas offen. Ich lugte hinein. Gernot und Dunja schliefen. Tanja hatte sich vermutlich bei ihrer Tochter einquartiert.

Ich setzte mich in die Küche und versuchte, nachzudenken. Der Bus hatte ein Problem, das ließ sich nicht leugnen. Ich musste eine Werkstatt finden. Doch heute war Sonntag… und selbst wenn es mir gelingen sollte… möglicherweise brauchte der Bus ein Ersatzteil, das es hier gar nicht gab oder das nur sehr schwer zu beschaffen sein würde. Gefangen in Tomsk… Bei diesem Gedanken wurde mir unwohl. Ich konnte nicht in Tomsk bleiben. Ich kannte hier keinen. Mein Gepäck war in Nowosibirsk. Meine Bleibe war in Nowosibirsk. Meine Kontakte waren in Nowosibirsk. Das Ziel meiner Fahrt war Nowosibirsk gewesen. Was hatte ich in Tomsk verloren? Warum war ich überhaupt hier? Das alles musste ein schlechter Film sein.

Möglicherweise könnte ich noch zurückfahren und das Auto in Nowosibirsk reparieren lassen. Doch dazu musste ich erst herausfinden, ob der Bus die 260 Kilometer überstehen würde. Es konnte ja alles sein… Irgendwie glaubte ich nicht an Gernots „bestimmt nichts Großes“. Nastja hatte ihren Freund erwähnt, Jewgeni, der diese Werkstatt haben sollte. Sie hatte gesagt, er sei möglicherweise morgen dort, in der Werkstatt. Doch was, wenn er nur Vormittags da sein würde – in genau der Zeit, in der hier alle schliefen? Wenn er sich für Nachmittag etwas vorgenommen hatte und dann gar nicht in Tomsk sein würde? Was, wenn ich selbst – durch Vertrödeln von Zeit – meinem Unglück zuarbeiten würde? Wenn sich die Umstände tragisch verketteten und summierten? Das Motorstörung + + + Werkstatt aufsuchen! saß mir wie ein Zuchtmeister im Nacken. Wie ich es auch drehte und wendete – ich kam immer wieder zum gleichen Ergebnis: es musste sich schnellstmöglich jemand den Bus ansehen. Doch hier schliefen alle den Schlaf der Gerechten. Es konnte Mittag werden, ehe die Leute munter würden. Ich musste selbst handeln, irgendetwas unternehmen. Durfte nicht auf andere warten. Zu viel stand auf dem Spiel. 

Leise, um keinen zu wecken, packte ich meinen kleinen Rucksack. Heute kann ich beim besten Willen nicht mehr sagen, was ich vorgehabt hatte. Ziellos in der Stadt herumfahren und Jewgenis Werkstatt suchen, von der ich nur die Gegend wusste, nicht aber die exakte Adresse? „Prostitje poschalsta – tuij snajesch Jewgenis Awto Service?“ Ich weiß es nicht. Vermutlich wäre es eine Dummheit und Sinnlosigkeit gleichermaßen gewesen. Wozu man sich eben hinreißen lässt, wenn einen die Angst reitet. Doch ich wurde davor bewahrt, mich wie ein Dieb und Idiot aus der Wohnung zu schleichen und nichts als ein paar handgeschriebene Zeilen an Gernot zu hinterlassen. Denn gerade, als ich gehen wollte, kam Dunja im weißen Blümchennachtgewand – vermutlich musste sie auf Klo – sah mich in voller Montur mit einem Bein am Boden knien, mir die Schuhe binden und fragte mich verschlafen, was ich vorhätte. Ich meinte, ich müsse mich um mein Auto kümmern. Das sei ein großes Problem. „Ah“, meinte sie, „warte. Warte!“

Sie verschwand und kehrte mit der ebenfalls verschlafenen Tanja zurück, die die Lage rasch erfasste. Tanja rief Nastja an. Die war gestern Nacht noch zu ihrem Freund gefahren. Gernot kam im Schlafanzug dazu und fragte missgelaunt, was denn hier eigentlich los sei. Tanja legte auf und teilte mir – von Dunja übersetzt – mit: Nastja würde gegen 9 Uhr hierher kommen und dann zusammen mit mir zu Jewgenis Werkstatt fahren. Gernot begriff, dass es um mich und mein Auto ging. Obwohl nicht erfreut über die viel zu frühe Störung konnte er nicht anders, und reicherte mir die Situation mit ein paar Hintergrundinformationen auf Deutsch an: Jewgeni sei verheiratet, wolle sich aber von seiner Frau scheiden lassen, um mit Nastja zusammen zu leben. Er sei ein patenter Mann und in der Familie hier sehr beliebt. Tanja setzte Kaffee auf. Ich nahm einen und aß etwas. Danach bat ich um Internetzugang, doch Tanja kannte das Passwort ihrer Tochter nicht. Ich vertrieb mir Zeit unter anderem mit einem Blick ins Handbuch des VW. Dort stand: 

 

Tritt während der Fahrt eine Störung der Motorsteuerung auf, wird dies durch Blinken der Kontrollleuchte /\/\/\ angezeigt. Der Motor sollte umgehend von einem Fachbetrieb überprüft werden. 

(und dann, fettgedruckt:)

! Achtung !

Wenn Sie die blinkende Kontrollleuchte /\/\/\ und die dazugehörigen Beschreibungen und Warnhinweise nicht beachten, kann das zu Verletzungen oder Fahrzeugbeschädigungen führen.

Ich hatte es gewusst: Es war ernst. Viel schlauer indes war ich dadurch nicht geworden.

Gernot traf mich im Wohnzimmer. Ich meinte noch einmal, ich mache mir wirklich Sorgen um mein Auto. Er erwiderte, er sehe dazu keinen Anlass. So etwas hätte er auch schon öfters gehabt. Derweil saßen die beiden Frauen in der Küche, frühstückten sich in Ruhe munter und erzählten und erzählten…

II

Nastja und Jewgeni kamen fast pünktlich zur angekündigten Uhrzeit. Ich sah Jewgeni nur kurz durch die Seitenscheibe seines kleinen, alten Japaners. Erster Eindruck: zuverlässiger Mann. Dann fuhr er wieder, um die Werkstatt aufzuschließen. Nastja würde mich im Bus dorthin begleiten. Vorher wollte sie kurz bei ihrer Mutter hereinschauen. Es dauerte noch einmal eine halbe Stunde, ehe wir loskamen. Dunja gab mir ihre Handynummer. Ich sollte sie auf dem Laufenden halten – sie würde dann alle anderen informieren. 

Der Weg zur Werkstatt war weiter, als gedacht. Niemals hätte ich allein dahin gefunden. Die ersten Minuten verhielt sich der Bus normal. Ich wollte gerade hoffen, der Fehler hätte sich über Nacht von selbst behoben, da machte es pling! und wir waren wieder mitten im Problem-Modus. Er schien sich sogar etwas verschärft zu haben, denn die blinkende Vorglühleuchte ging nicht wieder aus. Der Motor reagierte kaum noch auf’s Gas, beschleunigte schlecht und fuhr mit stark gedrosselter Kraft. Erst wenn man einen oder zwei Gänge zurück schaltete und Vollgas gab, war es, als puste er sich frei. Dann packte er kräftig zu. Doch nie lange. Außerdem erklang das pling! in immer kürzeren Abständen. Auch die Aufforderung, die Werkstatt aufzusuchen, wurde immer drängender. Nun wurde dem Werkstatt aufsuchen! noch das Wort dringend vorangestellt. Deutlicher ging es nicht. Damit hatte sich die Rückfahrt nach Nowosibirsk erledigt. Dem Bus musste hier geholfen werden. So schlimm ich das fand – wir würden gleich in einer Werkstatt sein. Das war schon mal die halbe Miete.

Jewgenis Werkstatt befand sich am nordöstlichen Tomsker Stadtrand, in einer Abteilung einer langen Halle, die ehemals als LPG-Garage gedient haben mochte. Die Zufahrt war eine breite, kurvige Schotterpiste zwischen weiteren Fertigteil-Hallen aus vergangenen Zeiten; überall standen ausgeschlachtete Autowracks. Kieshäufen, aus denen Grünzeug spross, warteten auf irgendeine Verwendung. Wer hier an Autos herumschrauben ließ, hatte vermutlich keine andere Wahl. Wie ich… 

Jewgeni war etwa in meinem Alter, klein, dünn, drahtig, mit Dreitagebart und einem streichholzlangen, grauen Igelschnitt. Die Seiten kurz rasiert. Er hatte ein freundliches, von der Natur gegerbtes Antlitz, eine glitzernd-graue Iris und mehrere Goldzähne. Wenn er lachte, lächelte oder angestrengt nachdachte, dann erschienen auf seinem Gesicht lauter Falten, die sich wie Linien eines lustigen Magnetfeldes von seinen Augenschlitzen bis zu seinen Mundwinkeln zogen. Er trug Jeans, T-Shirt und erweckte in mir vom ersten Moment an Vertrauen.

Der Bus konnte nicht in die Werkstatt – dort war noch ein anderes Auto aufgebockt. Untersucht wurde er draußen, in der Sonne, auf einem zwischen den Hallen gelegenen Hof, der mit alten Betonplatten befestigt war und ein ziemliches Gefälle hatte. Jewgeni und ein weiterer Mechaniker unterhielten sich über die Fehlerauslese. Ihr Diagnosegerät – ich hatte nicht gedacht, dass sie eines hätten – zeigte irgendeine Art von Überhitzung. Allerdings nicht, was die Ursache dafür war. Jewgeni vermutete deshalb etwas anderes als ein elektronisches Problem. Als erstes tippte er auf den Luftfilter. Da er kaum Englisch sprach und auch Nastja nicht besonders firm in dieser Sprache war, unterhielten wir uns schriftlich über Nastjas Smartphone und ein Internet-Übersetzungsprogramm. Das funktionierte ganz gut. Jewgeni und sein Kumpel mühten sich am Luftfilter ab. Ab und zu schaute auch ein baumlanger, junger Monteur in einem roten Blaumann vorbei. Sein sonnengebräunter, kahlrasierter Schädel glänzte, als hätte man ihn mit einer Speckschwarte poliert. Er arbeitete vor einer schräg gegenüberliegenden Werkstatt an einem Truck. Interessierte ihn das Innere eines VW? Oder eher der Deutsche? Als Jewgeni und sein Kumpel den Luftfilter offen hatten, war das Teil schwarz und verstaubt wie der Boden eines Kohlenkellers. Zunächst versuchten die beiden, das ehemals helle Filterelement aus Pappe zu reinigen. Was sich bald als zwecklos herausstellte. Jewgeni kam mit einem neuen Filter an, den er noch irgendwo herumliegen hatte. Er passte. War das normal? Oder ein Wunder? Keine Ahnung. Dann holte er ein Hochdruckgebläse und reinigten den Kühler, der ebenfalls so voller Fliegen, Käfer und Libellen war, dass der Fahrtwind vermutlich kaum noch Kontakt mit den Rippen des Kühlers hatte. Jetzt verstand ich auch, warum so viele Autos mit Fliegengittern vor dem Kühler herum fuhren. Es kamen Insekten zum Vorschein, wie ich sie noch nie zuvor in Natura gesehen hatte. Eine, die schillernd dunkelviolett und so groß wie die Hand eines Zweijährigen war, tat ich in die Getränkehalterung, um meinen Kindern zeigen zu können, was für Fliegen es in Russland gibt. Jewgeni ging noch einmal in die Werkstatt und kam mit einer Plastikflasche zurück. „Please“, reichte er sie mir. „Schto eta?“, fragte ich. „Present“, sagte er – ein Geschenk. Treibstoffzusatz für Diesel. Ich sollte pro 10 Liter 10 Milliliter zugeben. „Nasch Diesel otschen plocho“, meinte er. Das Mittel würde den ganzen Dreck aus den Leitungen und die Verschmutzung in den Zylindern entfernen. Die Flasche war noch fast voll – 150 ml. Also beinahe zwei ganze Tankfüllungen. Ich nahm mir vor, sparsam damit umzugehen, bedankte mich und fragte, was er für den neuen Luftfilter bekäme. „De nada“ – nichts. Ich schüttelte den Kopf und griff zum Geld. Er machte eine verneinende Geste, die keine weitere Diskussion zuließ. Mit der flachen Hand auf der Brust sagt er: „Present, please. I happy when help you.“

Ich bat ihn um eine Foto. Er stellte sich grinsend neben den noch geöffneten Motorraum und zeigte seine Goldzähne. Wir verabschiedeten uns herzlich. Nastja erklärte mir den Weg zur Wohnung ihrer Mutter in der Nowosibirskaja Uliza, ich bedankte mich tausendmal bei den beiden, fuhr eine Paraderunde, winkte und war, als ich zwischen den Hallen davonkurvte, glücklich, wie schnell mir geholfen worden war. Der Reisende aus Deutschland konnte weiter ziehen. Nastja hatte Sonntag Nachmittag etwas vor; Jewgeni würde sie begleiten. Gut, dass ich es nicht hatte hinhängen lassen. Ich bog auf die Hauptstraße ein und wollte glücklich, von meinen Sorgen befreit, Gas geben, da machte es pling! Im Display stand Motorstörung, Werkstatt aufsuchen! Das Vorglühsymbol blinkte und der Motor entwickelte keine Kraft. Oh nein – ohneinohneinohneinohnein! Ich wendete sofort. Hoffentlich würde Jewgeni noch da sein. Bittebittebittebitte! Er war noch da. Ich sprang heraus – „Jewgeni, maschina jehst problem!“ Ich fühlte mich nicht besonders fein dabei. Was mutete ich den Leuten nur zu…

Jewgeni schien nicht enttäuscht, dass es noch ein wenig länger gehen würde. So war das eben in Russland: Am Mittag kommt es ganz anders, als du am Morgen dachtest. Die Menschen waren auf solche überraschenden Kurswechsel eingestellt. Ich noch noch. In der westsibirischen Tiefebene hatte ich „Europa aus mir herausgefahren“. Jetzt stand offenbar die nächste Lektion an. Ich musste lernen, dass man nicht weiter segeln kann, wenn der Wind nicht weht. Noch war ich nicht soweit…

 

Jewgeni meinte, dann sei es wahrscheinlich der Dieselfilter. Den könne man aber nicht reinigen. Da müsse auf alle Fälle ein neuer her. Was bei der russischen Treibstoffqualität alle paar tausend Kilometer normal sei, meinte er. Es könne allerdings schwierig sein, ein Geschäft zu finden, das heute geöffnet und den passenden Filter hätte. Mir kamen Zweifel, ob ein neuer Filter das Problem überhaupt beheben würde. Was hatte denn ein Filter mit Überhitzung und Störung der Motorsteuerung zu tun? Jewgeni aber meinte, es könne jetzt nur noch der Dieselfilter sein. Er telefonierte eine Weile herum, dann nannte er Nastja den Laden, welcher vermutlich das hatte, was wir brauchten. Er schrieb ihr etwas auf und schärfte ihr ein, die Daten unbedingt im Geschäft abzugleichen. Dann sollten wir mit meinem Bus losfahren, denn mit Jewgenis eigenem Auto war gerade ein Kumpel unterwegs. Die Fahrt wurde zum Spießrutenlauf. Es war heiß geworden und die Anzeige machte mehrmals pro Minute pling! Ich dachte an die eindringliche Warnung aus dem Service-Handbuch (… kann das zu Verletzungen oder Fahrzeugbeschädigungen führen) und hoffte inständig, dem Bus nicht zuviel zuzumuten. Er hielt durch, der Gute. Das Geschäft war klein – ein Tante-Emma-Laden für Autoteile. Aber gut sortiert. Man hatte tatsächlich einen solchen Filter für VW-Fahrzeuge. Nastja verglich die Daten und nickt mir zu. Beim Bezahlen haderte ich erneut. War das wirklich nötig: 5.500 Rubel? Was, wenn das Problem hernach immer noch nicht behoben sein würde? Egal, wir mussten es versuchen.

Auf der Rückfahrt hatte ich mich schon fast an das andauernde pling! gewöhnt. Wieder hielt der Bus durch. Jewgeni besah sich den Filter. Die Größe schien zu passen. Da brach der Akku von Nastjas Smartphone zusammen. Wir konnten uns nicht mehr austauschen. Der hochgewachsene Mechaniker im roten Blaumann steckte es für ein paar Minuten an das Ladegerät des Zigarettenanzünders im Truck, an dem er arbeitete. Nach ein paar Minuten Ladezeit konnte Jewgeni mir wieder etwas zum Filter schreiben, bis der Akku erneut leer war. Der andere kam herauf, um uns ein wenig zuzuschauen und das Smartphone noch einmal abzuholen. Er nahm meine Hände mit forschem Griff und sah kritisch hinein. Ich fragte, „Schto?“ – Was? Er meinte „Ja Schaman“ – ich bin Schamane. Ich zog die Augenbrauen hoch und meine Hand zurück. Er lächelte. Ein seltsam-ernstes Lächeln. Ich konnte es nicht deuten. Manchmal frage ich mich, ob er das, was mir auf dieser Reise noch bevorstand, „gelesen“ hatte, es mir aber nicht sagen wollte…

Nach einer ganzen Weile hatte Nastja den Dieselfilter ausgebaut. Vom Gehäuse her glichen sich mein alter und der neue Filter. Doch der neue hatte einen Anschluss mehr. Nastja schwankte noch, ob man es nicht versuchen sollte, doch Jewgeni meinte, das wäre sinnlos. Wir schauten uns die Verpackung genau an. Tatsächlich. Im Kleingedruckten stand, der Filter sei für das Modell „Touareg“. Von denen gab es in Russland einige. Transporter wie meiner hingegen – und überhaupt alle sonstigen Volkswagen – waren Exoten. Klar, dass Geschäfte, wenn schon, dann Ersatzteile für VWs großes Prestige-Modell bereit hielten.

 

Wir standen ein wenig ratlos herum. Da kam Jewgenis Kumpel mit dem Auto um Nastja zu ihrem Termin zu bringen. Sie würde auch ihr Smartphone mitnehmen. Nix mehr online-translator. Jewgeni und Nastja tauschten ein paar zärtliche Küsschen aus. Das erste Mal, dass ich die beiden so sah. Bislang hätte man nicht auf die Idee kommen können, dass da etwas laufen würde. Nastja hatte sich nur kollegial verhalten – eben wie jemand von der Mannschaft. Als sie fort war, musste der Bus noch einmal herhalten. Da wir den neuen Filter nicht gebrauchen konnten, brachten Jewgeni und ich ihn wieder ins Geschäft. Ich bekam meine 5.500 Rubel zurück. Jewgeni regelte das für mich. Wenigstens keine sinnlosen Ausgaben. Danach waren Jewgeni und ich allein an der Werkstatt. Es war heiß und die Hallen menschenleer. Ich fühlte mich gestrandet, wie ein Schiffbrüchiger. Jewgeni sah wenig glücklich aus: „I can not help this car. Maschina need Volkswagen-Service. I very sorry.“ Mir schien, als hätte auch er keine Ahnung, wie es nun weiter gehen sollte.

Ich musste dringend ein paar Mails schreiben und fragte Jewgeni, ob er Internet habe. Es ging nicht – nur eine ziemlich alte kyrillische Tastatur im Mini-Büro, mit der ich nichts anfangen konnte. Niedergeschlagen setzte ich mich hin und wartete, ohne zu wissen, worauf. Jewgeni war raus gegangen. Er klärte etwas mit jemandem, der sein inzwischen fertig gewordenes Auto abholen wollte und blieb so lange weg, bis ich dachte, er habe mich vielleicht vergessen. Doch dann schneite er kurz ins Büro, wühlte ein paar Dokumente durch, nur um gleich wieder zu verschwinden, ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben. Mir wurde immer elender zu Mute. Was würde denn jetzt werden? Ich hing hier in dieser Werkstatt am Ende der Welt, war unter Leuten, mit denen ich mich nicht unterhalten konnte, die kein Englisch sprachen, gekettet an ein Auto, von dem keiner wusste, was ihm fehlte und wie weit es noch fahren würde, bevor es möglicherweise endgültig den Geist aufgab… Und wie teuer würde der ganze Spaß werden? War das das Ende meiner Reise? Müsste ich nach Hause zurückkehren als geprügelter Hund, dessen Traum in einem lächerlichen Furz namens Autopanne verpufft war?

Ich ging zum Bus, der draußen einsam in der Sonne briet, und dennoch mit seinem gutmütigen Gesicht die Halle anblickte. Es war schon nach 16 Uhr. Nur Jewgeni, der hinzugekommene Kunde und ich waren noch hier. Morgen, am Montag, sollte der Bus in eine VW-Werkstatt? Gab es in Tomsk denn überhaupt eine? Davon konnte man nicht einfach ausgehen. Ich beschloss, das Auto keinen Meter mehr fahren zu lassen und die Nacht hier zu verbringen. Morgen müsste es abgeschleppt werden – wohin auch immer. Dunja und Gernot hatten ja ohnehin in Tomsk bleiben wollen. Ich räumte mir den Kofferraum so um, dass ich mich hinlegen und lesen konnte, bis der Tag vorbei wäre. Eine lange Zeit. Aber das würde ich auch überstehen. Jewgeni kam und fragte, was ich mache. Ich versuchte es ihm zu erklären. „I sleep here, na Maschina.“ Er entgegnete etwas, schüttelte den Kopf, versuchte mich dazu zu bewegen, etwas zu tun. Es schien ihm wichtig zu sein. Ich verstand kein Wort und rief Dunja an. Wenigstens das funktionierte. Sie dolmetschte für mich: Jewgeni wolle, dass ich den Bus in die Werkstatt fahre und über Nacht da lasse. Ich könne ihm vertrauen, keiner würde kommen. Er würde die Halle abschließen. Das wäre absolut sicher. In ein paar Stunden käme sein Kumpel, würde uns abholen und zu Tanja bringen. Was blieb mir anderes übrig? Also musste der Bus doch noch einmal fahren: 15 Meter, in die Halle. Auch das schaffte er.

III

Jewgeni winkte mir, ihm zu folgen: Komm, komm! Wir stiegen die Eisengitter-Treppe hinauf und gingen in einen Zimmer hinter dem Büro. Anscheinend der Pausenraum der Mechaniker. Eine lange Eckbank, ein langer Tisch mit Wachstuchdecke, ein Kühlschrank, ein altes Kofferradio, eine Garderobe, ein Regal und ein paar Stühle. Jewgeni deutete, ich solle mich auf die Bank setzen. Dann nahm er mir gegenüber Platz, langte nach unten, holte einen Plastik-Beutel herauf, griff hinein, warf zwei steife, geräucherte Fische auf den Tisch und lächelte. Hier, wenigstens etwas Sinnvolles an diesem miserablen Tag, schien sein Lächeln zu sagen. Dann fügte er etwas auf Russisch hinzu. Ich verstand, was er meinte: eigentlich müsse man dazu noch Wodka trinken, aber er hätte leider keinen hier. Ich sagte „wait!“ – warte! – ging zum Auto runter, holte meinen Rucksack und stellte die fast volle Flasche Altai aus dem Staryj Zamok auf den Tisch. Gernot hatte ja gesagt, man müsse in Russland immer etwas Wodka dabei haben. Ich nahm mir vor, nie wieder ohne Wodka in diesem Land unterwegs zu sein. Auch ein wenig Weißbrot aus dem Restaurant hatte ich noch und tat es mit dazu. Jewgeni zeigte mir, wie ich den Fisch zerteilen und essen müsse. Man riss das getrocknete und gesalzene Fischfleich mit den Zähnen von der Fischhaut ab. Irgendwie wild. Mir gefiel das sehr. Jewgeni stellte zwei Gläser auf den Tisch. Damit hatten wir unsere Beschäftigung für die nächsten Stunden: Fisch essen und langsam betrunken werden. 

Als wir schon etwas angedüdelt waren, wiederholte Jewgeni, wie leid es ihm täte, dass er mir nicht hatte helfen können. Er schien das als persönliches Versagen zu werten – ja, vielleicht sogar größer noch: als Unfähigkeit Russlands mir gegenüber. Ich versicherte ihm, dass er doch alles in seinen Möglichkeiten Stehende unternommen hätte:

„No, it’s okay, it’s okay!“

Es gäbe überhaupt keinen Grund, sich deswegen zu grämen.

„Trotzdem“, sagte er, „trotzdem…“

Jewgeni schwärmte vom Ryjba – vom Fisch. Er erzählte (ich muss dazu sagen: ich weiß nicht mehr, wie das Gespräch funktionierte; zwar hatte ich in der Zwischenzeit mein kleines Reisewörterbuch geholt, doch wir sprachen wirklich nur sehr, sehr wenige Worte, die der andere auch verstand! Und wenn wir etwas im Wörterbuch nachschlugen, dann dauerte das mitunter Minuten, denn wir wurden immer betrunkener…) er erzählte also, dass er immer zum Angeln in den Norden fahre, ins Flachland, in die Wildnis. Oft tagelang. Dorthin, wo es nur noch Taiga – den Wald, den Fluss und die Mücken – gibt. Wenn ich länger in Tomsk bleiben oder später noch einmal zurück kommen sollte, dann würde er mich mit zum Angeln nehmen. In seinem Boot. In die Wildnis. Diese im halb-trunkenen Zustand ausgesprochenen Worte waren von solcher Intensität… eine der stärksten Beteuerungen, die mir jemals jemand machte. Ich wusste, ich konnte ihm nicht zusagen, da meine Ziele im Süden lagen – Nowosibirsk, Altai. Er schien das zu ahnen und traurig zu sein. Vielleicht wollte er mit der Angeleinladung zeigen, wie grandios Russland war, vielleicht sah er in mir eine verwandte Seele – ich habe keine Ahnung. „Weißt du“, sagte er, „es gibt in Russland ein Sprichwort: wenn man zusammen Wodka trinkt, versteht man sich auch ohne Worte.“ Genau das geschah gerade. Beinahe magisch, in jedem Falle übersinnlich. Was Jewgeni erzählte, war möglicherweise gar nicht das, was er tatsächlich sagte; doch es war das, was ich verstand; mochte er also gar nicht Mücken, Fluss, Norden, Flachland gesagt haben – ich verstand Mücken, Fluss, Norden, Flachland, als er Taiga sagte und Ryjba (Fisch). Ja, ich wusste, dass es genau so war. Deshalb konnte auch dieser kleine Pausentisch mit Wachstuchdecke zu einer Bühne werden, auf der wir Gott und die halbe Welt aufmarschieren und die Fragen aller Fragen durchexerzieren ließen: Was war das Leben, was die Wahrheit, wieso waren Beziehungen hier wie da denselben Kräften unterworfen? Ich sah Jewgeni an, er sah mich an. Das Auto war immer noch kaputt. Doch was spielte das für eine Rolle angesichts der Tatsache, dass wir jetzt hier zusammen saßen, mit fettigen Händen auf dem Wachstuchtisch über das Leben und die Wildnis sprachen und er mich auf einen Angeltrip einlud? Jedes leere Glas wurde stante pede nachgefüllt. Es gab keine Probleme mehr. Sie wurden alle gelöst. Oder aufgelöst . . . in 40%iger Klarheit. Und dafür liebte ich diesen Menschen. Wie konnte das möglich sein? Wie konnte ein Tag, der so bescheiden begonnen hatte, so selig enden? Das war mehr, als sich zu besaufen. Das war metaphysische Heilkunst. Zwei unvergessliche Stunden, in denen mein aufgewühltes Gemüt vollständig zur Ruhe kam. 

Die Tüg ging auf, ein großer Kerl trat ein und pflanzte sich zu uns. Jewgeni ging zum Kühlschrank, holte einen Beutel mit einem weiteren großen Fisch heraus und reichte ihn dem Mann. Vielleicht waren Jewgenis Fische eine Art Ersatzwährung? Der Mann blieb ein paar Minuten, erzählte mit Jewgeni und ging dann wieder. Kurz darauf klingelte Jewgenis Handy. „Sind da … Komm, gehen“, winkte er mir mit dem Kopf. Bevor wir den Pausenraum verließen, nahm Jewgeni noch eine der Fischtrophäen vom Regal und hielt sie mir hin: der hinter den Kiemen abgeschnittene Kopf eines riesigen Hechtes, der sein Maul weit aufriss, seine langen, spitzen Zähne zeigte und böse schaute. Ein unglaubliches Gerät. Jewgeni hatte die Trophäe mit Lack präpariert. Sie war die größte auf dem Regal. „For you“ – für dich – sagte er, „Present“. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Es war ohnehin klar. Der Wodka dolmetschte zwischen uns. Am Auto hielt ich das Maul ans VW-Zeichen und tat, als würde das meine neue Kühlerfigur. Jewgeni lachte: „da, charascho!“ Die Trophäe war mein Schatz und lag während der Weiterreise stets offen im Auto, oben auf einer Lebensmittelkiste, damit sie nicht beschädigt würde. Sie beeindruckte jeden. Heute hole ich sie manchmal zum Spaß vom Wohnzimmerschrank, wenn mein Söhnchen nicht spuren will. Wann immer ich den Kopf des Hechtes anschaue erinnert er mich an Jewgeni und unsere zwei Stunden im Pausenraum seiner Werkstatt … das Beste an meinem Abstecher nach Tomsk. 

IV

Jewgenis Freunde warteten im Auto. Mir war mittlerweile alles recht. Ich segelte. Jedenfalls im Moment. Der Wind blies aus den seltsamsten Richtungen – und ich ließ es geschehen. So auch jetzt: denn natürlich fuhren wir nicht zu Tanja, Dunja und Gernot – zumindest nicht so, wie ich es gedacht hatte. Sondern in eine Gartensiedlung. Zur Datsche eines Bekannten von Tanja, wo ein Grillabend stattfand. Und Jewgeni kam auch nicht mit. Ich wurde einfach dort abgeladen. Jewgeni und seine Kumpels fuhren weiter. Die gesamte Mannschaft inklusive weiterer, mir unbekannter Menschen war dort versammelt. Ich hatte außerordentlich gute Laune, als ich aufschlug. Es gab noch Fleisch. Man hieß mich, zuzugreifen. Der Besitzer zeigte mir seine Datsche – eine helle Blockhütte mit Sauna. Sehr schön. Dunja begrüßte mich und fragte, ob alles in Ordnung sei. Ich meinte, nein, das Auto müsse morgen in eine VW-Werkstatt. Sie nickte. Einige Männer saßen im Garten, in einem hölzernen Pavillon. Ich wurde herangewunken und gesellte mich dazu. Gernot war auch da. Er sah finster aus. „Unglaublich, was du dir heute erlaubt hast“, zischte er mich zur Begrüßung an. 

„Wieso? Was habe ich mir denn erlaubt?“ 

Ich hatte keine Ahnung, was er von mir wollte.

„Das fragst du ernsthaft? Wegen dir mussten heute alle sonstwie zeitig aufstehen…“ 

„Das war aber nicht meine Absicht…“ 

„…zwanzig (!!!) Anrufe sind tagsüber deinetwegen eingegangen – alles Leute, die dir helfen wollten. Was du uns allen damit zugemutet hast, ist dir wahrscheinlich nicht einmal ansatzweise bewusst!“

Als ob ich die russische Gastfreundschaft, von der er so viel hielt, missbraucht hätte! Ich nahm diese Vorwürfe nicht weiter ernst. Viel zu schön war der Abend. Gernot würde sich schon wieder beruhigen. Ich ließ ihn und wandte mich fröhlicheren Menschen zu. Bier und Wodka standen auf dem Tisch. Ich tat mir keinen Zwang an. Auch ein bisschen Wein konnte nicht schaden… Einige der Männer sprachen sehr gut Englisch, verfügten sogar über die Gabe der Ironie. Das war lustig! Welch eine angenehme Leichtigkeit nach den Tagen mit Dima und Gernot. Ich muss mir wohl einige Zentner von der Seele gelacht haben. Nach kurzer Zeit war ich voll integriert. Im Gegensatz zu Gernot. Auch Dunja und Tanja schien meine Heiterkeit zu gefallen. Irgendwie waren alle richtig ausgelassen, als uns ein Bekannter Tanjas spät Nachts zurück zu ihrer Wohnung brachte. Alle, bis auf einen.

Der Bekannte kam noch mit herein. Drinnen ging es wie am Vorabend in der Küche weiter. Schnaps, Tee, Süßes. Alle standen oder saßen herum. Gernot schob sich neben mich und raunte mir in vertrauensvollem Ton zu: „Du bist doch schon einmal in Russland gewesen. Wie lange war das gleich noch mal?“

Sofort war mir klar, dass dies keine Frage, sondern eine Schlinge war. Jede Erwiderung würde er gegen mich verwenden. Deshalb tat ich, als hätte ich die Frage nicht gehört und erzählte munter mit anderen weiter. Doch Gernot ließ sich nicht abbringen. Auch das war mir klar. Ich hatte nur etwas Zeit, nicht aber die Auseinandersetzung gewonnen. Als ich in ein anderes Zimmer ging, folgte er mir wie beiläufig. 

„Ich hatte dir vorhin eine Frage gestellt“, begann er, als wir allein waren.

„Und welche soll das gewesen sein?“

„Ich hatte gefragt, wie lange du beim ersten Mal in Russland gewesen bist.“

„Eine Woche.“

„Eine Woche…“ Er tat, er sinniere er. „Da hättest du jetzt eigentlich besser vorbereitet sein müssen. Zumindest hättest du wissen müssen, was hier auf dich zukommt, und dass man sich vorher informieren muss. So wie du dich hier verhältst, das geht einfach nicht. Da kann man von jemandem, der angeblich schon einmal in Russland gewesen ist, eigentlich mehr erwarten. Gerade als Journalist.“

Ich hatte keine Lust auf derartige Belehrungen.

„Is gut Gernot, lass gut sein.“ 

„Nein, es ist eben nicht gut. Ich muss dir das sagen, weil die Leute hier höflich sind und dir das nie ins Gesicht sagen werden. Aber du musst wissen, dass du so, wie du dich hier verhältst, jeden vor den Kopf stößt. Ich sage dir das, weil ich dir helfen will, besser zurechtzukommen.“

Ich war seiner Belehrungen überdrüssig. In der Hoffnung, er würd es dabei bewenden lassen, sagte ich:

„Vielen Dank!“ 

Wieder in die Küche setzte ich mich auf einen freien Stuhl am Tischchen. Gernot kam nach. Ich merkte, dass er gereizt war, bereit, sich um Kopf und Kragen zu reden. Doch ich hatte mich ihm entzogen. Er klinkte sich auf Englisch in ein russisches Gespräch zwischen Tanja und dem Bekannten ein, der uns hergebracht hatte. Ein gestandener Mann in meinem Alter, der einen sehr aufgeweckten Eindruck machte. Völlig unpassend begann Gernot, der Runde anthropologische Erkenntnisse auszubreiten. Es sei interessant, fing er an, aber alle Menschen stammten von einem gemeinsamen Grundtypus ab. Deswegen verbiete es sich eigentlich, von einem russischen Volk zu sprechen, denn ein solches gebe es in Wahrheit gar nicht. Das sei erwiesen. Russen seien genetisch lediglich ein Mischvolk – die Nachfolger der Wikinger und Skythen. Ich hatte den Eindruck, das kaum etwas mehr daneben sein konnte. Musste das nicht als beleidigend aufgefasst werden? Die Frauen reagierten. Eher aus Höflichkeit, denn aus Interesse. Man wollte ihm nicht das Gefühl geben, keiner Antwort wert zu sein. Der genetische Urtypus der jetzigen Menschheit stamme vermutlich aus dem Altai und sei sehr wahrscheinlich skythisch, fuhr er fort. Nun mischte sich der junge Mann etwas lebhafter ein. Seines Wissens nach gebe es durchaus mehrere deutlich voneinander unterscheidbare Rasse-Grundtypen. Und überhaupt wisse er nicht, was dieses Thema jetzt eigentlich solle. Er würde seine Verwandtschaft sehr wohl als Russen bezeichnen, nicht als Wikinger oder Skythen. Und er kenne auch keinen, der das nicht ebenso hielte. Sie alle hier wären doch Russen, das sei ja wohl eindeutig. Er habe auch keine Lust, jetzt noch groß darüber zu diskutieren. 

Jemand war darauf eingegangen – Gernot hatte die Diskussion, die er wollte. Nun konnte er den Fortgang diktieren, war Lehrer, Dozent und zwang die anderen in die Schülerrolle. „You need to understand this“, meinte er mit weit ausholendem Duktus in kaum mittelprächtig zu nennendem Englisch, in einer Hand ein Glas, die andere, das Sakko zurückwerfend, in der Hosentasche. „It’s very important.“ Die meisten seien in diesem alten Denken von den Russen als einem slawischen Volk verhaftet. Man lerne es schließlich auch nirgends richtig. Gernot ließ nicht locker. Wie eine Bulldogge hatte er sich in sein Thema verbissen, ohne zu merken, dass der Kampf längst vorbei war, weil keiner darüber diskutieren wollte. Ich lehnte mich zurück; was für eine groteske Darbietung so spät in der Nacht! 

„Slawen, Wikinger, Altai-Urtypus – Bullshit!“, wies Tanjas Bekannter Gernots Ansprüche zurück. Es ging dabei weniger um den Inhalt, als um die Rolle, die Gernot undbedingt einnehmen wollte: die Rolle der unangefochtenen intellektuellen Autorität. Das habe doch heute überhaupt keine Bedeutung mehr. Heute seien sie eben Russen – und gut. Das war eine derbe, rechte Gerade. Ich wunderte mich, dass Gernot sie so gelassen hinnahm.

„Listen to me, listen to me“, setzte er zur endgültigen Darlegung an.

„No, please“, bat Tanja.

„Listen to me“, Gernot ließ sich nicht beirren. „Lis… Listen to me: You need to understand…“

„No, we don’t.“

„… you need to.“

„Gernot …“

„… you need to understand …“

„… please!.“

„You need to understand …“

Endlich hatte er ihren Widerstand gebrochen: Man hörte ihm zu.

Sie alle müssten verstehen: Es ließe sich wissenschaftlich nun einmal nicht von der Hand weisen, dass die slawischen Völker eine viel größere Verwandtschaft mit … und nicht die Russen … überhaupt begann es ja mit dem Kiewer Rus … und die Waräger … und die Mongolen … und die Skythen … Stein- und Hügelgräber zeugten von … Gernot hielt einen Monolog. Unterbrochen von einzelnen Wortmeldungen. Die jedoch nur weiteres Wasser auf Gernots Mühlen waren. Am Ende brachte er sogar Außerirdische ins Spiel, die diesen gemeinsamen humanoiden Urtypus vor Jahrtausenden auf die Erde gebracht haben könnten. Oha, dachte ich, da hat aber jemand seinen Erich von Däniken gelesen. Fasziniert beobachtete ich, wie Gernot sich mehr und mehr selbst demontierte. Man verdrehte schon die Augen, während er sprach. Nur er selbst schien es nicht zu bemerken, blieb penetrant und badete fast wonnevoll in seiner Rolle als Wissender.

Da herrschte Dunja ihn an. Noch nie hatte ich sie in diesem Ton sprechen hören. Es schien die sonst so Zurückhaltende einiges an Überwindung zu kosten: „Gernot. Stop it! Stop it! Nobody wants to listen to it!“ Offenbar war das nicht das erste Mal, dass Gernot sich als Enfant terrible aufführte. Gefasst und ein wenig beleidigt lehnte er sich an die Wand und schwieg. Aber ich wollte euch doch bloß helfen, sagte seine Miene. Gernot schien nicht zu verstehen, was man auf einmal gegen ihn hatte, weshalb man den von ihm freimütig dargebotenen Bildungsschatz so unbedacht ausschlug. Seid ihr alles Banausen?, schien er zu fragen. Ich wiederum verstand nicht, warum er das tat. Wollte er glänzen? War es das, was er in Gesellschaft zu geben und beizutragen im Stande war? Warum so schwer und übertrieben tiefgründig? Warum kein leichtfüßiger Smalltalk? Warum nicht darüber reden, worüber auch die anderen sprachen – über Menschen, Unverfängliches, Heiteres? Irgendwie schien ihm ein Instrument zu fehlen, mit Hilfe dessen er die allgemeine Stimmung hätte erfassen und angemessen darauf reagieren können.

Dunja wandte sich mir zu: „We have figured out VW-Center Tomsk. They will be open at 9 o’clock. Tomorrow we bring your car there.“ 

Ach Leute, ihr seid so nett! Das war eine gute Nachricht.

Diese Nacht schlief ich besser.

David Berger
David Bergerhttps://philosophia-perennis.com/
David Berger (Jg. 1968) war nach Promotion (Dr. phil.) und Habilitation (Dr. theol.) viele Jahre Professor im Vatikan. 2010 Outing: Es erscheint das zum Besteller werdende Buch "Der heilige Schein". Anschließend zwei Jahre Chefredakteur eines Gay-Magazins, Rauswurf wegen zu offener Islamkritik. Seit 2016 Blogger (philosophia-perennis) und freier Journalist (u.a. für die Die Zeit, Junge Freiheit, The European).

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