Freitag, 29. März 2024

9. Kapitel 2. Teil: „Gitarre, Musik!“

Marko Wild

Draußen hatte es heftig zu regnen begonnen. Ich nahm einige Leute im Bus mit. Wenigstens konnte ich mich dadurch ein bisschen nützlich machen. Der Name des Restaurants, das sich gar nicht weit weg in einer Parallelstraße befand, lautete Staryj Zamok – Alte Burg. Da wir nun möglicherweise auch den ganzen nächsten Tag in Tomsk verbringen würden, wollte ich die Gelegenheit nutzen, das Deutsche Haus zu besuchen. Gernot hatte erzählt, das Deutsche Haus in Tomsk sei „viel besser“, als das in Nowosibirsk. Was „besser“ bedeuten sollte, war mir zwar nicht klar; doch die russlanddeutsche Gemeinde, welche von Tomsk aus betreut wurde, war angeblich größer und bedeutender, als die Nowosibirsker, in der es nur noch wenige Russlanddeutsche gab. Ich ließ mir also auf dem Weg zum Restaurant das Deutsche Haus von einer mitfahrenden Kommilitonin zeigen; es befand sich in der gleichen Straße wie das Staryj Zamok, nur einige hundert Meter weiter.

Im Obergeschoss des Staryj Zamok war in einem langen, schmalen Raum eine ebenso lange Tafel für rund 20 Personen – unsere Gesellschaft – reserviert. Auf rustikalen Holztischen warteten bereits kalte Platten, Schnaps, Wein und Wasser. Weil ich beobachten und keinesfalls im Mittelpunkt stehen wollte, setzte ich mich in eine der hinteren Ecken. Dunja und Gernot nahmen mir gegenüber Platz. Eine junge Kellnerin im rot-weißen Kostüm einer Bojarentochter und mit seitlich gebundenem, blonden Zopf, schrieb emsig Bestellungen in ihren Block. Alles sah sehr stilvoll aus und überaus (appetit)anregend. Zwischen Dunja und einer anderen Frau entspann sich ein wenig Tuschelei. Danach Tuschelei zwischen Dunja und Gernot. Gernot – der sich hier plötzlich wieder gesprächiger zeigte, als in der Universität, wo er aus irgendeinem mir unerklärlichen Grunde teilweise hart und kalt auf mich reagiert hatte; hier jedoch erklärte er mir Sitten und Gebräuche und solidarisierte sich mit mir, vermutlich weil wir beide zwei Außenseiter waren – Gernot also beugte sich zu mir herüber und teilte mir mit, dass Dunja gerade versuche, für uns drei eine Extra-Rechnung auszuhandeln. Alle Gäste der Gesellschaft mussten eigentlich einen Pauschal-Betrag von 3.000 Rubel – knapp 50 Euro – bezahlen. Was dann sämtliche Speisen und Getränke beinhalte. Da Dunja und Gernot im Leben nicht daran dachten, an diesem Abend für 3.000 Rubel zu speisen fragten sie, ob ich mit einer Ausnahmeregelung für uns drei einverstanden wäre. Auf jeden Fall war ich das. Ein Blick in die Speisekarte zeigte mir, dass ich hier inklusive Getränken auch bei kräftigem Zulangen maximal halb soviel ausgeben würde. Außerdem war ich von Gernot und Dunja eingeladen worden. Ich hatte keine Lust, dass aus einer Einladung ein finanzieller Aderlass wurde. Kurz darauf kam die Meldung, Dunja sei es gelungen. Wir drei würden extra abgerechnet.

Ich bestellte eine Soljanka für 350 Rubel, einmal Schaschlik vom Lamm für 270 Rubel und einmal Schaschlik vom Schwein für 240 Rubel. Dazu aß ich von den mit Käse überbackenen Fladenbroten, die überall auf den Tischen lagen, und kostete vom Gemüse. Erwähnen muss ich vor allem die Getränke. Das heißt, den Wodka und den Rotwein. Letzterer nannte sich Kinbsmarauli, kam aus Georgien und soll, wie man mir sagte, Stalins Lieblingswein gewesen sein. Falls das der Wahrheit entsprach, dann konnte ich dem Diktator in diesem Punkt folgen . . . der Wein schmeckte sündhaft gut. Der Wodka war von der Sorte Altai, schmeckte weicher und delikater, als jeder andere, den ich bis dahin versucht hatte und – was das Wichtigste war – man bekam von ihm partout keinen schweren Kopf. Entsprechend wenig animierte er dazu, sich zu mäßigen. Ständig war irgend eine der Flaschen – Wein und / oder Wodka – von irgend jemandem in Beschlag genommen.

Es kam die Zeit der Reden. Reihum standen die Leute auf, sagten dies, sagten jenes, manche ernster, manche heiterer, erhoben ihre Gläser und es folgte ein lustiges Klirren und helles Klingen, ein Lachen, Küssen, Umarmen und ein lautes Durcheinandergerede. Selbst Dunja hielt eine kleine Ansprache. Als die Stimmung besonders gut war, rief Gernot plötzlich, auf mich zeigend, „na er hat doch eine Gitarre! On jehst Gitarra na Maschina! “ Und dann, an mich direkt: „Du hast doch eine Gitarre!“

Mein Sitznachbar schaute mich begeistert an: „You have Guitar?“

Ich dachte, bitte das nicht, nickte aber wahrheitsgemäß „Da.

„Na los, nu dawai“, klopfte man mir auf die Schulter, „Gitarre, Musik!“

Na toll. Wie sollte ich aus der Nummer wieder heraus kommen? Doch wenn ich schon eingeladen wurde und Gast in dieser Runde sein durfte, dann wollte ich auch etwas zurückgeben. Also holte ich das Instrument. Außerdem hatte ich einen speziellen Trumpf im Ärmel: jenes eine russische Lied, das ich schon zu Hause gelernt hatte. Wenn es überhaupt je gepasst hätte, es vorzutragen, dann jetzt und hier. Ich war aufgeregt, aber wegen des Weines und des Wodkas nicht allzu sehr. Ich entschuldigte mich für mein schlechtes Russisch und begann meine Darbietung:

„Pod laskoi pljuschewowo pljeda, wtscheraschni wisiwaaaju son…“

Nach einer halben Strophe machte es klick und schon bald brauchte ich mir um meine Textsicherheit keine Gedanken mehr zu machen. Laut und schmachtend fielen einige der Damen ein, verzogen die Augenbrauen im angedeuteten Liebesschmerz und brachten das Lied besser zu Ende, als ich es je gekonnt hätte. Danach gab es Applaus und Gernot sagte, halb anerkennend, halb etwas anderes: „Jetzt bist du der Star.“

Weiter spielen! riefen die Leute. Ich sagte, was soll ich spielen?

Beatles! Also spielte ich Yesterday. Nun fielen die Männer ein und sangen die McCartney-Nummer mit einem Akzent, der schon fast kein Englisch mehr war, und an den entsprechenden Stellen so herrlich erruptiv, wie es vermutlich nur angetrunkene Russen können. Dann reichte ich die Gitarre an meinen Nachbarn weiter. Er wollte auch einmal. Ich hatte mein Soll erfüllt.

An keinem von Dunjas Kommilitonen war das Leben spurlos vorüber gegangen. Keine der Frauen war schlank und rassig, keiner der Männer sah aus, wie ein jugendlicher Held. Keiner hatte die Blütezeit seines Körpers durch Fitness konserviert, wie das bei uns üblich geworden ist. Waren die meisten unübersehbar fröhlich und deuteten sich später beim augelassenen Tanz im Untergeschoss sogar verflossene Liebschaften an, so gelang es einer der Frauen nur schwer, beim Alkohol die Contenance zu bewahren. Schminke und Abendkostüm konnten die Trinkerin nicht verbergen. Dick und müde, mit glattem, unvorteilhaft frisiertem Haar und ausdruckslosen Augen saß sie da und becherte. Vielleicht war ihr auch der Mann gestorben, denn sie trug Schwarz.

Als im unteren Saal die Musik begann, stellte ich mich neben Gernot ans Geländer der Empore. Zusammen beobachteten wir die Tanzenden. Eigentlich gehörte der Alleinunterhalter zu einer anderen Gesellschaft, doch einige unserer Ü-50-Damen drängten unverdrossen aufs Parkett und legten los, als wäre ihnen der Teufel in die Beine gefahren. Ich grinste Gernot an und nickte. Gernot, der Conniseur, blickte weltgewandt und schwieg: Ja, mein junger Padavan, schien er zu sagen, du weißt noch sehr wenig über Russland.

Ich ging raus, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Andere Männer, die sich nicht am Tanz beteiligten, standen vorm Eingang und rauchten. Auf dem Fußweg spielte sich eine Familienszene ab. Ein betrunkener alter Herr wollte unbedingt selbst Auto fahren. Seine Tochter und deren Tochter saßen bereits im Wagen, doch der Schwiegersohn weigerte sich, einzusteigen, wenn der Alte fahren würde. Er versuchte seine Frau und die Tochter wieder aus dem Auto zu ziehen. Die ließen das mit sich machen. Da begann der Vater herumzuschreien. Es fehlte nur wenig und der Alte und der Schwiegersohn hätten aufeinander losgeprügelt. Die Enkeltochter weinte. Die Tochter weinte und schrie. Ein einziges Chaos. Irgendwann kam ein Taxi gefahren und der Tochter gelang es, ihren Vater dort zum Einsteigen zu bewegen. Ich ging wieder rein. Es war schon spät.

IV

Bis dahin war das Tomsker Abenteuer gut verlaufen. Nun kam die erste böse Überraschung. Dunja hatte unsere separate Rechnung bekommen, reichte sie wortlos an Gernot weiter, der sie mir gab: 9.316 Rubel. Gernot hatte ein Wasser bestellt, Dunja einmal Nachschub beim Wodka. Mehr nicht. Da ich der einzige war, der überhaupt etwas zu Essen bestellt hatte und überdies die Rechnung in den Händen hielt, fühlte ich mich dafür verantwortlich, dieses „Missverständnis“ (denn meiner Meinung nach konnte es nur eines sein) aus der Welt zu schaffen. Ich sprach mit der Kellnerin und zeigte ihr anhand der Karte, dass ich nur für 860 Rubel gegessen hatte. Gernot, der mir schon mehrfach erklärt hatte, dass Russen es hassen würden, über Geld zu streiten, nahm sich heraus und ließ mich machen. Dunja schaute betreten drein. Ganz so, als würde sie sagen: können wir das nicht einfach vergessen? Müssen wir uns davon jetzt den Abend verderben lassen? Ich fühlte mich allein gelassen. Und nein: vergessen wollte ich das garantiert nicht. Ich war nicht hier, um mich von diesen Leuten über den Tisch ziehen zu lassen. Mein kulturelles Einfühlungsvermögen kam hier an seine Grenze. Wenn das bedeuten sollte, eine peinliche Situation heraufzubeschwören, dann würde ich sie eben heraufbeschwören. Ich gab der Kellnerin unmissverständlich zu verstehen, dass ich diese Rechnung keinesfalls bezahlen würde. Gernot beobachtete.

Die Kellnerin ging und kam zurück mit ihrem Chef, einem kleinen, dunkelhaarigen Mann mit schwarzen Augen. Den Oberarmen nach Boxer oder Schwerathlet. Das Staryj Zamok wurde von Armeniern geführt. Ich wiederholte mein kategorisches Nein. Der Armenier gab sich Mühe, den Anstand zu wahren; jedoch sah ich, wie seine Natur in ihm brodelte und er mir gerne mein Njet ganz anders um die Ohren gehauen hätte. Die meisten von Dunjas Kommilitonen wollten mit der Sache offenbar nichts zu tun haben. Denn plötzlich war der Raum fast leer. Eine der Frauen jedoch – jene, die besonders angetan gewesen war von meinem russischen Lied – ergriff für mich Partei und begann, mit dem armenischen Chef zu diskutieren. Nach einer Weile konnte sie uns folgendes mitteilen: Man war der Ansicht gewesen, je 100 Gramm Schaschlik seien zu wenig und hatte mir deshalb 400 Gramm Schaschlik vom Schwein und 250 Gramm Schaschlik vom Lamm gebracht. In der Tat – die Teller mit dem Fleisch waren üppig gewesen. Den Großteil davon hatte ich gar nicht geschafft und zum allgemeinen Verzehr freigegeben. Ich protestierte: Erstens war das nicht die Menge, die ich bestellt hatte. Man sagte mir, das sei hier so üblich. Ich erwiderte, ich sei Deutscher und könne das nicht wissen. In Deutschland sei es üblich, dass man das bekäme, was man bestellt hätte. Dunjas Kommilitonin übersetzte: Er ist Deutscher, er konnte das nicht wissen. In Deutschland ist es üblich, dass man bekommt, was man bestellt. Sie zog die Augenbrauen hoch. Sehr gut. Das war die Front, die wir brauchten. Doch sie wurde nicht stärker. Weil keiner sich zu unserer Verteidigung berufen fühlte.

Und zweitens, fuhr ich fort – selbst wenn ich soviel bestellt hätte, wären das nur rund 2.000 Rubel. Wo kämen denn bitte die restlichen über 7.000 Rubel her? Hitzig ging es weiter. Die Armenier meinten, sie hätten uns auch etwas für die Musik im Untergeschoss berechnet, zu der einige von uns getanzt hatten. Da fühlte sich aber jemand frei, in die Taschen seiner Gäste zu greifen. Unglaublich! Meiner Ansicht nach ging es die Restaurantbetreiber überhaupt nichts an, ob jemand von unserer Gesellschaft zur Musik einer anderen Gesellschaft getanzt hatte. Wenn überhaupt, dann hätte die andere Gesellschaft das mit unserer Gesellschaft klären müssen. Außerdem – es wurde immer waghalsiger – waren uns irgendwelche zusätzlichen Getränke berechnet worden, die wir weder zu Gesicht bekommen, geschweigedenn georderd hatten. Ich fand diese Rechnung jetzt nur noch dreist und bekam dermaßen schlechte Laune, dass man es mir schon aus 100 Metern Entfernung ansehen musste. Vielleicht hatte man auch darauf gehofft, wir wären zu betrunken, um es zu bemerken. Wie dem auch gewesen sein mochte: Dunja und Gernot konnten nun nicht anders, als sich ebenfalls in die Verhandlungen einzuklinken. Vor allem Dunja redete in ihrer ruhigeren Art auf den Armenier ein.

Dieser ging und brachte eine neue Rechnung: 8.600 Rubel. Jetzt wurde ich laut. Dunjas Kommilitonin sah die Felle eines schönen Abends davonschwimmen und versuchte zu retten, was zu retten war. Sie beschwichtigte, diskutierte, erklärte Standpunkte – alles vergebens. Andere standen in Grüppchen herum und gaben ihren Senf dazu. Schon wieder stand ich im Mittelpunkt. Wieso eigentlich? Wieso war das plötzlich meine Rechnung? Gernot und Dunja unternahmen in meinen Augen viel zu wenig gegen diese Abzockerei, denn etwas anderes war es nicht. Der Armenier ging und kam mit einem zweiten, älteren Mann wieder: dem Ober-Ober-Chef. Zwar dauerte die Diskussion mit ihm an, hatte sich allerdings auch irgendwie erschöpft. Die Inhaber rückten nur wenig von der ursprünglichen Forderung ab. Dunja und Gernot ihrerseits weigerten sich, so vehement Einspruch zu erheben, wie es geboten gewesen wäre. Es gab eine dritte Rechnung. Wir strichen noch ein paar Getränke weg, die keiner bestellt hatte, und endeten bei 7.740 Rubel – rund 125 Euro. Gernot zog sein Portemonnaie und holte zwei große Scheine heraus. Mein Geld war im Auto. Ich gab ihm 1.150 Rubel – alles, was ich am Mann hatte. Zu mehr war ich eigentlich nicht bereit. Trotzdem schlug ich vor, ihm zu Hause noch etwas dazu zu geben. Gernot lehnte ab. Nun musste er wirklich zahlen. Das war etwas anderes, als die paar Rubel im Kafe auf dem Rastplatz. Entsprechend angefressen sah er aus. Doch in all dem wurde ich den Eindruck nicht los, am meisten ärgerte er sich über mich. Entweder hatte er erwartet, dass ich wenigstens anstandshalber die Hälfte der Rechnung übernehmen würde. Oder er gab mir die Schuld am Drama, weil ich überhaupt solch einen Aufstand gemacht und die Rechnung nicht widerspruchslos akzeptiert hatte. Als Gegenleistung für das viele Geld steckte ich Wein und zwei Wodkaflaschen der Marke Altai in den Rucksack – eine halbleer, eine dreiviertel voll. Draußen gab ich eine davon Gernot, der den Altai ebenfalls schätzte. Wir waren nicht die einzigen, die zugriffen. Selbst Dunja wickelte jetzt fleißig Essen in Servietten und steckte es in ihre Tasche. Seltsame Leute, dachte ich. Erst nur ein wenig am Mineralwasser nippen, und wenn alles bezalt ist, sich die Taschen vollstopfen. Gernot fasste das Ereignis mit einem scheinbar wissenden „Tja, so ist das hier; einfach nicht weiter drüber nachdenken“, zusammen.

Endlich erfuhr ich, wo wir schlafen würden: bei Dunjas guter Tomsker Freundin, die Tanja hieß und bereits die ganze Zeit mit von der Partie gewesen war, ohne dass man uns einander vorgestellt hatte. „Ich kann fahren, kein Problem“, sagte ich, als Gernot meinte, man könne den Bus auch stehen lassen und ein Taxi nehmen. Der Ärger um die Rechnung hatte mich ausgenüchtert. Mein Auto wollte ich schon dabei haben. Tanja lotste uns durch die nächtliche, nahezu verkehrsfreie Stadt. Wir verließen das Zentrum und bewegten uns merklich Richtung Periferie. Grauer Beton und Stahlträgerbrücken dominierten das Bild. Als wir unter einer hindurchfuhren, gab mein Display mit einem ungewohnten akustischen Signal Laut: pling! Ich schaute hin. Auf der Anzeige stand: Motorstörung, Werkstatt aufsuchen! Etwas griff nach meinem Herzen und presste es zusammen. Das Symbol der Vorglühanlage blinkte. Gar nicht gut, dachte ich. Die Warnung verschwand wieder. Ich war erleichtert und hoffte auf einen Irrtum, eine Fehlfunktion. Leider war dem nicht so. Pling! machte es zum Zweiten. Motorstörung, Werkstatt aufsuchen! und blinkendes Vorglühsymbol. Nun war es amtlich: mit dem Auto stimmte etwas nicht. Es war dunkel und ich saß in einer Grube mit einem Monster namens Großes Problem. Wo war es? Wann würde es sich auf mich stürzen? Würde ich entkommen? Würde alles wieder gut werden, würde der Bus zu reparieren sein? Ich hatte Angst. Zum ersten Mal empfand ich die ganze Tragweite meiner Abhängigkeit von diesem Auto. Ich war nicht nur auf es angewiesen – ich konnte es auch nicht einfach verlassen wie einen zerschlissenen Rucksack oder durchgelaufene Schuhe. Ich musste mich darum kümmern. Beinahe wie um ein Lebewesen. Auf Gedeih und Verderb. Und wenn es das Ende meiner Reise bedeuten würde.

Dunjas Freundin Tanja wohnte im Paterre eines alten Plattenbau-Vielgeschossers. Die Wohnungstür glich der eines großen Tresos aus verbeultem Stahlblech. Gernot erklärte mir unser Quartier: „Das hier ist guter russischer Standard. Klo und Bad hatte Tanja eigenhändig gestaltet. An Schnüren hängende Fische, die in der Luft baumelten, orange und gelbe Flecken an den Wänden – noch nicht ganz Kunst, eher ein plötzlicher kindlicher Ausbruch. Sie war stolz auf ihr Werk und fragte, ob es uns gefiele. Natürlich bejahten wir alle. Die Wohnung war recht klein – vielleicht 70 qm. Außer im Zimmer ihrer Tochter Nastja, die auch da war und, auf dem Bette liegend, im Internet surfte, stand nirgends mehr, als eine spärliche Grundausstattung an Möbeln. Das heißt: im Schlafzimmer ein Bett und ein Schrank. In der Kücke ein kleiner Ecktisch und ein Küchenschrank mit Spüle. Im Bad hing ein Spiegel. Das Wohnzimmer war fast nackt. Auf dem Boden lag altes, braunes Linoleum. Es sah nicht wohnlich aus, was Gernot damit erklärte, dass Tanja sehr viel arbeite und selten zu Hause sei. Das „gut“ am „guten russischen Standard“ mochte vielleicht vom Wasserklosett herrühren. Wir versammelten uns in der Küche und Gernot wies mich erneut darauf hin, dass man in russischen Wohnungen die Schuhe auszuziehen habe – zumal als Gast. Ich erzählte ihm von den Sorgen, die ich mir wegen meines Autos machte. Er versuchte mich zu beruhigen. Das sei bestimmt nur ein Elektronikproblem, nichts Ernstes.

Tanja fragte, wer Kaffee möchte, wer Tee und wer Schnaps. Am Ende kam alles auf den Tisch, dazu noch ein paar Süßigkeiten und die Reste einer von Tanja gekochten kalten Suppe, die wir alle probieren mussten und natürlich lobten. Ich wurde gebeten, unbedingt am kleinen Tisch Platz zu nehmen. Gernot beliebte, an der Wand zu stehen. Dunja setzte sich neben mich. Wir tranken. Wieder und wieder. Tanja war glücklich, ihre Freunde hier zu haben und erzählte viel. Gernot wollte sich seine angestammte Rolle als Gesprächsführer nicht nehmen lassen. So ging es hin und her. Tanja war an mir interessiert. Auch ihre Tochter stellte ein paar Fragen. Doch mir ließ mein Auto keine Ruhe. Was, wenn es ein Problem gäbe (Großes Problem!), das in Sibirien nicht behoben werden konnte – zum Beispiel, weil irgendein ein Ersatzteil nicht verfügbar wäre? Da meinte Nastja etwas in meine Richtung. Dunja übersetzte: Nastja sei KFZ-Mechanikerin für Dieselmotoren und arbeite in einer freien Werkstatt. Ihr Freund Jewgeni wäre der Besitzer. Morgen würde sie ihm von meinem Problem erzählen. Ernsthaft jetzt? Sie war KFZ-Mechanikerin für Dieselmotoren? Irre! Und das mitten in der Nacht. (Es ging ja schon auf 2 Uhr zu.) Was war das für ein seltsames Spiel, was hatte ich heute für Karten bekommen? Erst das Drama im Staryj Zamok – und jetzt das. Ich verstand gerade sehr wenig. Morgen schon – eigentlich heute – am Sonntag, sollte also Hilfe kommen… Erschöpft, hin- und hergerissen zwischen dem Funken Hoffnung durch das plötzliche Auftauchen einer KFZ-Mechanikerin für Dieselmotoren und der mich fast lähmenden Angst vor einem Großen Problem verabschiedete ich mich und legte mich schlafen.

David Berger
David Bergerhttps://philosophia-perennis.com/
David Berger (Jg. 1968) war nach Promotion (Dr. phil.) und Habilitation (Dr. theol.) viele Jahre Professor im Vatikan. 2010 Outing: Es erscheint das zum Besteller werdende Buch "Der heilige Schein". Anschließend zwei Jahre Chefredakteur eines Gay-Magazins, Rauswurf wegen zu offener Islamkritik. Seit 2016 Blogger (philosophia-perennis) und freier Journalist (u.a. für die Die Zeit, Junge Freiheit, The European).

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