Donnerstag, 28. März 2024

7. Kapitel – Medlenno

Marko Wild

I

01. Juli, 21 Grad, heiter. Kilometerstand: 4076,7

Gestern hatte ich angenommen, mit Sima wäre endlich die Friedenspfeife geraucht. Doch über Nacht war sein Kampfgeist zurückgekehrt. Als ich ihn fragte, ob er heute zuerst fahren wolle, meinte er, ich könne ruhig fahren – er würde nicht mehr fahren. Ich tat das als eine seiner Launen ab; denn damit gedroht, dass er nicht mehr fahren würde, hatte er schon mehrfach. Die Wiese war trocken. Wir packten unsere Sachen und machten uns davon. 7:30 Uhr – nach welcher Zeit auch immer. Zu viele Mücken für ein Frühstück am Fluss. Auf der M5 gab es zur Begrüßung Ampelstau. Ich nutzte die Zeit und fotografierte LKW und Menschen, die auf der Straße herumstanden, warteten und sich unterhielten. Außerdem wollte ich eines der kleinen, blauen Streckenkilometer-Schilder festhalten, die die Entfernung bis Moskau angaben: 1703, 1704, 1705… Ich stellte es mir passend als Titelbild auf einem Fotoalbum vor. Sima war genervt, weil ich deshalb zwei Mal anhielt. Seiner Meinung nach kamen wir nicht schnell genug voran.

In einem Kafe auf dem nächsten Rastplatz holten wir uns Essen. Zu Pfannkuchen mit Sahne und Marmelade nahm ich einen Kaffee. Sima kaufte sich – ein Bier. Nicht zu fassen! Ohne etwas zu sagen, setzte er sich mir gegenüber, trank und sah ins Leere. Was das zu bedeuten hatte, verstand ich sofort.

„Du musst dann trotzdem fahren, nur dass das klar ist!“, sagte ich kalt.

„Warum? Ich muss nicht. Ich habe keine Lust mehr.“

„Ist mir egal. Wir hatten eine Abmachung. Ich halte mich daran. Wenn du dich nicht daran hältst, hast du mich angelogen.“

Sima hielt große Stücke auf seine Ehrlichkeit. Ich hoffte, ihn damit zu treffen. Er schwieg. Aber das Bier trank er nicht weiter. Ich atmete innerlich auf. Die Stimmung jedoch war hinüber. Ich blieb erst mal am Steuer. Nach ein paar Kilometern hatte Sima sich wieder im Griff. Er erzählte mir sogar, dass es in Slatoust – einer der letzten größeren Städte, bevor wird den Ural verließen – besonders schön sein solle. Außer einem bunten Willkommensschild sahen wir davon nichts. Die M5 blieb im Wald. Mir war es recht.

 

Und dann war der Ural durchquert. Er hörte einfach auf. Wir fuhren heraus, hinunter in die Ebene – und vor uns lag ein anderes Land. Offen, weit, mit Gruppen loser Wäldchen. Ich sagte, „Sibirien…“ Sima erwiderte, in Wirklichkeit sei das noch nicht Sibirien, sondern die alte kasachische Region Asija. Das eigentliche Sibirien beginne erst nach dieser Region. Eine kleine Rache konnte er sich nicht verkneifen. Auf dem heutigen Abschnitt – irgendwo nach Slatoust – wäre die Grenze zwischen Europa und Asien verlaufen, meinte er. Es gebe da an der M5 eine berühmte Markierung, ein Bauwerk, „wo alle Leute sich fotografieren lässt.“ Aber er hätte es mir nicht gesagt, damit ich nicht wieder stehen bleibe. Danke, dass du dich so um unser Vorankommen sorgst, dachte ich und nahm mir vor, diesen Punkt auf der Heimfahrt nicht zu verpassen.

Die M5 ist die Südroute durch den Ural. 200 Kilometer weiter nördlich hätte man auch über Jekaterienburg fahren können. Doch Sima, der unsere Strecke wählte, bevorzugte den kürzesten, schnellsten Weg. Deshalb hatte er zunächst auch die M7 gewählt, obwohl die M5 ebenfalls in Moskau begann. Auf der M7 sparte man gegenüber der M5, die südlicher über Samara verlief, 179 Kilometer. Ich bat Sima einmal, mir zu zeigen, wonach er sich eigentlich orientiere. Da holte er aus seinem Herrenhandtäschchen ein kleines Büchlein, zog aus dessen Einband ein zwei mal gefaltetes, lachsfarbenes DIN-A4-Blatt, das offensichtlich schon viele Reisen mitgemacht hatte, und öffnete es. Auf dem Papier war nichts zu sehen, als einige frei verlaufende, schwarze Linien und ein paar mit Städtenamen verzeichnete Punkte. Das ganze sah aus, wie eine Kinderkritzelei oder wie ein Bahn-Streckennetz oder wie ein Fluss mit Nebenflüssen auf einer sehr alten Landkarte. Wie gesagt: auf lachsfarbenem Papier. Es gab darauf weder eine Legende, noch Nebenstraßen, keine Schraffur, keine Farbe, keinen Maßstab, keine Kilometerbezeichnungen, keine Ausfahrten, keine Umgebungsangaben (bspw. Ural), keine Höhenlinien, keine Landes- oder Gebietsgrenzen, ja nicht einmal eine Himmelsrichtung oder ein Koordinatensystem. Nichts. Null Komma Null Beschriftung oder sonstige Orientierung. Nur ein paar schwarze Linien: die Nordroute, die Südroute, sowie ihre Querverbindungen.

Zugegeben: mehr brauchte man nicht. Es gibt in Russland nicht hunderte Möglichkeiten, um von Moskau nach Nowosibirsk zu gelangen. Es gibt – wenn man vorankommen will (und Sima wollte vorankommen!) – nur zwei: obenrum und untenrum. Wir waren bis Elaburga, 20 Kilometer vor Nabereschni Tschelni, auf der Nordroute gefahren, und dann hinunter auf die Sürdroute gewechselt. Kürzer ging es nicht.

 

Mit Hilfe von Simas Navigation fuhr ich uns um Tscheljabinsk herum. Obenrum. 85 Kilometer Umgehung. Die erste Millionenstadt, die wir wirklich ausließen. Was mich bereits an Moskau fasziniert hatte, setzte sich überall im Lande fort: Russlands große Städte kündigten sich nicht durch Vororte, Trabantensiedlungen oder immer dichter werdende Agglomerationen an – sie kamen ganz plötzlich. Wie aus dem Erdboden gestampft. Du fährst Hunderte Kilometer durch Wald, Wiesen, Ödland und Felder. Und dann: Zack – Millionenstadt. Wenn es eines in Russland gibt, dann sehr viel Platz. Und davon hatte man bei den großen Städten reichlich Gebrauch gemacht. Sie allesamt waren geradezu erschreckend weitläufig. Ob nun Kazan, Ufa – oder jetzt Tscheljabinsk.

190 Kilometer nach Tagesstart tauschten wir. Simas halbvolles Bier gor bei 30 Grad in der Ablage der Beifahrertür vor sich hin. Das Auto lief gut. Es begann die lange Meditation: die Westsibirische Tiefebene, das größte Flachland der Erde. Nur ein Siebtel Russlands, aber sieben Mal so groß, wie Deutschland.

 

II

 

Unsere neue Straße hieß R254 Irtysch. Mir allerdings gefiel ihre alte, noch bis Ende 2017 gültige Bezeichnung besser: M51 Baikal. So war sie auch ausgeschildert. 1532 Kilometer von Tscheljabinsk bis Nowosibirsk. Sima wollte uns jedoch so lotsen, dass wir die M51 unterwegs verlassen und 145 Kilometer Umweg in Kauf nehmen würden, um uns ein zwar nur kleines Stückchen Kasachstan, aber vier lästige Grenzkontrollen zu ersparen. Keiner von uns wusste, ob wir dazu Visa benötigt hätten, ob all unser Gepäck legal war und so weiter. Keiner hatte Lust, etwas anderes zu tun, als zu fahren, zu fahren, immer weiter gen Osten zu fahren, bis – ja bis das Fahren selbst seine therapeutische Wirkung entfalten würde. Und genau das geschah.

Auf den folgenden 700 Kilometern bis Ischim und Abatskoje, vorbei an Kurgan, durch das große, flache, unbewohnte Land mit kleinen, schilfbewachsenen Süßwasserseen in denen sich Vogelschwärme versammelt hatten, und Salzseen, in denen nichts wuchs, durch ein Land aus erdigem Boden, von dem das Auge oft nicht sagen konnte, ob er nun landwirtschaftliche Nutzfläche oder ein Sumpf sein sollte, ob der rapsähnliche, leuchtend gelbe Bewuchs zwischen den kleinen Birkenbüschen wild angeflogen und die Flur der Natur noch abgerungen werden musste, oder ob es bereits durch Menschenhand urbar gemachtes Land war; durch diese ewiggleiche, im Grunde langweilige Endlosigkeit, in der man ungehindert von Horizont zu Horizont blicken konnte, wo sich der Wölkchen-Himmel am alleräußersten, blass-flirrenden Rand, den man doch nie erreichte, mit der Erde zu vereinen schien, wo in irgendeiner undefinierbaren Entfernung links oder rechts der Straße sich ab und zu blaugraue Regenvorhänge ergossen und langsam mit dem kaum vorhandenen Winde wanderten, daneben aber die Sonne erstrahlte, wo die Hinterlassenschaft riesiger Überland-Strommasten oft der einzige Hinweis auf menschliche Existenz war – abgesehen von den manchmal näherkommenden Staubwolken, die sich dann als der graubraune Schweif eines Mähdreschers erwiesen . . . auf diesen 700 Kilometern fuhr ich Europa aus mir heraus. Die Gedanken verschwanden und an ihre Stelle trat etwas wie ein großes Durchatmen. Eine Reinigung, als würde angetrockneter Schmutz aus einem Leinentuch gebürstet und weggeblasen werden. Erst in der Erinnerung daran sehe ich, wie schön das gewesen war. Nicht nur das Land verändert sich – auch die Zeit. Sie schien ihre eigentliche Elastizität zurück zu erlangen und sich auszudehnen, größer und immer größer zu werden.

Bei Schumicha bekamen wir für 1.900,- Rubel 64,4 Liter Diesel. Die bisher günstigste Tankfüllung. Sima wirkte zufrieden. Er hatte immer noch Lust, zu fahren. Vielleicht war er endlich zu Hause. Oder so etwas ähnliches. Er trieb den Bus entspannt aber unnachgiebig voran. Die Klimaanlage lief, die Straße war passabel, der Verbrauch hielt sich in Grenzen. Mein Kopf wurde leerer und leerer… gut… Was war es noch einmal gewesen, das mich heute morgen aufgeregt hatte? Weswegen war ich hier? In Russland? Sich zu erinnern strengte an. Ich wollte loslassen. Das fiel jetzt leichter. Alles war so normal. Ein Film zog vorbei. Ein Film ohne Handlung. Das schwingende Pendel einer gigantischen Uhr namens Westsibirische Tiefebene. Hypnotisch. Sima machte einen Scherz. Draußen segelten ein paar Vögel. Strommasten. Wieder ein See. Die Straße. Die Straße… Wir fuhren und fuhren. Ein Mähdrescher. Hitze. Blauer Himmel. Ein paar Wolken. Ein Wäldchen. Nein, ein Wald! Kiefern. Wie ungewöhnlich. Musste trockener Sandboden sein. Auch schön. In mir war es ruhig geworden.

Kurgan kündigte sich an. Wie viele russische Städte durch ein imposantes Bauwerk. Diese oft phantasievoll gestalteten, meist aus Beton, seltener aus Stahl gefertigten Stehlen, freien Entwürfe, durchbrochenen Wände, Figuren oder kubischen Schriftzüge trugen einerseits den Stolz der Stadt nach außen. Gleichzeitig vermittelten sie die wesentlichen Informationen. Zuerst natürlich den Namen der Stadt. Außerdem (jedoch nicht immer) wann diese gegründet worden war und welche Art von Industrie man hier betrieb – dargestellt durch sowjetische Symbole, beispielsweise ein stilisiertes Zahnrad für Maschinenbau. Mit all dem wird dem Vorüberfahrenden mitgeteilt: wir halten hier seit 250 Jahren die Stellung, also bitte etwas Respekt! Ich hatte den Eindruck, als gäbe es unter russischen Städten einen – wenngleich taktvollen – Wettbewerb, sich mit einem möglichst interessanten Bauwerk zu präsentieren. Fast immer hatten diese etwas Heroisches an sich, etwas, das große Selbstgewissheit ausstrahlte und für das mir kein vergleichbares, deutsches Gegenstück einfiel.

Das Kurganer Bauwerk gefiel mir besonders: drei weiß gestrichene, eng beieinander stehende, 15 Meter hohe Betonprofile, die aus der Rasenkuppe eines riesigen Kreisverkehres senkrecht in die Höhe ragten, wurden in 3 Metern Höhe von einer waagerechten, kreisrunden Banderole umschlossen. Diese hatte einen sehr weiten Durchmesser, weshalb sich die eigentlich schmalen Pfeiler bogenförmig zu ihr hin verbreiterten, sie berührten und dadurch scheinbar schweben ließen. Nach oben hin wieder verjüngten sich die Pfeiler wieder und endeten leicht abgeschrägt, wie drei Tanto-Klingen. Auf der Banderole stand, jeweils unterteilt vom Wappen der Stadt, drei Mal in blaugrünen kyrillischen Lettern KURGAN. Im oberen Teil verband die frei stehenden Pfeiler eine gelbe Ähre aus Beton. Das Ganze sah extrem dynamisch und fesch aus, wie der Wiener sagen würde.

 

Nach diesem Kreisverkehr führte die M51 wieder durch ein gemütliches Kiefernwäldchen, wo Kafe auf Kafe, Gastiniza auf Gastiniza folgte. Ein Restaurant machte schon von Weitem einen guten Eindruck: Traktir Ochotnik – Gasthof Jäger. „Komm, lass uns mal halten, mal schauen, ob wir hier was essen können.“ Der Gasthof schien eher vornehm zu sein. Die Preise an der im Schaukasten ausgestellten Karte waren allerdings auch mehr als gediegen. Gegenüber gab es eine einfache Kantine – Kafe Sowuschka. Leider geschlossen. Also gar nicht lange gefackelt und weiter ging es. Wir waren Kinder der Straße geworden, der Weg momentan unser Ziel. Ich übernahm. Sima war 295 Kilometer gefahren. Sein längster Abschnitt auf der gesamten Reise. Kurgan – die Stadt, deren Name klingt wie der eines Fantasy-Bösewichtes aus der Eisenzeit, der sich mit Säbelzahntiger-Schädel und Wolfsfellen schmückt, der schwarzes Leder trägt und hübsche Eisenzeit-Frauen raubt, bevor er ihnen den Allerwertesten versohlt oder Schlimmeres antut – Kurgan lag bald so vergessen hinter uns, wie ich nicht gewusst hatte, dass es vor uns liegt, als wir noch darauf zu fuhren. Nur Sima war ein wenig enttäuscht, dass wir im Kafe nichts hatten essen können. Denn die Küche in der Region um Kurgan sei besonders gut, meinte er.

 

Mittlerweile hatte das Quecksilber die 30 Grad überschritten. Ich wollte das nächste Teilstück, rund 400 Kilometer, fahren. Zunächst bis kurz vor die kasachische Grenze; dann weg von der M51 nach Norden, Richtung Ischim. Irgendwo wurde ich angehalten. Mein erstes Mal. Durchgezogene Mittellinie überfahren. Schlimmer Verstoß. Instinktiv wählten Sima und ich die selbe Taktik: ich verstand kein Wort Russisch und Sima nur wenig Deutsch. Ich tat, als wüsste ich nicht, was der Polizist von mir wollte. Verlangte er die Zulassung, gab ich ihm den Reisepass. Erklärte er mir, gegen welche Regel ich verstoßen hatte, lächelte ich ihn an, deutete nach vorn und sagte „Nowosibirsk.“ Er wandte sich an Sima. Der jedoch hob die Hände, verzog das Gesicht und meinte, er selbst könne es mir leider auch nicht übersetzen. Ein Deutscher, der nicht Russisch sprach und ein Russe, der nicht Deutsch sprach. Der Polizist hatte keine Lust, bei diesen Temperaturen mit uns zu streiten. Genervt gab er auf. Wir konnten weiterfahren, brachen beide in Lachen aus, klatschten uns ab – Teamwork.

Es gab jetzt mehr Salzseen. In der offenen Weite konnte sich die Hitze ungehindert ausbreiten. Schutz fanden nur die Vögel in den Wäldchen, die sich wie unregelmäßige Tupfer zwischen Wasserflächen und Feldern verteilten. Hier rangen Taiga (Wald) und Steppe (Grasland) miteinander. Eine Vegetationszone, die sich als langer Gürtel quer von Osteuropa bis durch Sibirien zieht und die Ähnlichkeiten mit der nordamerikanischen Prärie hat, Wald-Steppe genannt. Hatte allerdings im Einzugsgebiet der nördlichen Wolga, in Tatarstan, der Wald noch die Oberhand behauptet, so befand er sich hier schwer in der Defensive und verteidigte letzte kleine Stellungen gegen die mehr und mehr Raum gewinnende Grassteppe. Wir diskutierten nicht mehr über die Klimaanlage. Sie lief jetzt ununterbrochen. Einmal hielt ich an, um Strommasten zu fotografieren. Kilometerlang standen sie parallel zur Straße – schurgerade aufgreiht, so dass man unter ihren Trägern hindurchschauen konnte, wie durch einen Tunnel. Flirrende Hitze. Ein faszinierender Anblick, wie aus der Schlußszene von Sieben. Neben dem Bankett wuchsen purpurfarbene Blümchen. Und wieder brauste ein gewaltiger Traktor mit Staubwolke vorbei. . .

Dann standen wir im Niemandsland, an einem Kreisverkehr, mit einer Tankstelle und einem Wegweiser. Den Abzweig nach Ischim hatte Sima verpasst. Rechts ging es nach Petruchowo und geradeaus nach Petropawlowsk / Kasachstan. War das hier der letzte Abzweig nach Norden vor der kasachischen Grenze? Falls ja bedeutete das, wir waren 50 Kilometer zu weit gefahren. Wir stiegen aus, drehten uns rundherum, schauten wie Verirrte in die Weite – wo, wo nur hatte Sima den Abzweig verpasst? Sollten wir zurückfahren? Er selbst war noch nie hier gewesen. „Komm, lass uns einfach hier links abbiegen. Wird schon richtig sein, sagte ich.

 

III

 

Die Straße, die von da aus nach Norden ging, war schmaler und kurvenreicher. Auch hatten wir immer wieder mit schlechten Abschitten zu kämpfen. Doch der Anblick der Umgebung entschädigte für vieles. Es wurde grüner und sogar ein paar Hügelchen sorgten für zaghafte Abwechslung. Auch hier schwammen viele smaragdfarbene Seen auf dem Land wie Fettaugen auf einer Bratensoße. Laut Autoatlas dürften die meisten von ihnen wohl salzig gewesen sein. Mit Sima entspann sich wieder ein Gespräch. Diesmal über den Umgang mit Geld und das Familienerbe. Wir deklinierten die Unterschiede zwischen deutscher und russischer Mentalität durch, jonglierten mit verschiedenen Szenarien – Krankheit, Pflegefall usw. – und kamen zu dem Schluss, dass in Deutschland auch innerhalb von Familien der Wert von Menschen viel stärker daran bemessen wird, was jemand äußerlich aufzuweisen hat. Obwohl doch gerade Familienbande Schutz vor Derartigem bieten sollten. Nichts Neues im Grunde. Und dennoch – aus dieser Perspektive ein dicker Pluspunkt für die russische Lebensauffassung.

Gegen 19 Uhr erreichten wir Ischim. Wir mieden die Stadt und blieben auf der Fernstraße. Ich fuhr noch 50 Kilometer weiter, bis Abatskoje, dann machten wir Halt auf einem Rastplatz. Ich hatte mein heutiges Soll erfüllt. Übererfüllt. Sima wollte fragen, ob es in einem der größeren Gebäude (eine Bank?) Internet gäbe. Ich schaute mich derweil in einem begehbaren Kiosk um. Eine Pfeife und etwas Tabak hätte ich gerne gekauft – gegen die Mücken. Zum ersten Mal versuchte ich, mich mit meinem kaum erwähnenswerten Russisch zu verständigen. Statt Tabak und Pfeife – denn die gab es nicht – kaufte ich für uns russisches Anti-Mücken-Spray. Sima hatte keinen Erfolg. Da wir noch so weit wie möglich kommen wollten, verzichteten wir wieder auf eine längere Pause. Noch ein, zwei Stunden, bis wir nicht mehr konnten. Erst dann wollten wir zu Abend essen. Sima übernahm. Doch welche Enttäuschung – gleich hinter Abatskoje begann ein hässlicher Bauabschnitt. Ungleichmäßig abgefräster, ausgebrochener Asphalt voller Rillen und Wellen, einseitg erhöhte Fahrbahnen, Bauampeln und kaum Überholmöglichkeiten. Der arme Bus. Unsere armen Nerven. Die folgende Stunde wurde extrem belastend. Und das nach dieser ohnehin bereits langen, harten Etappe. Im Endeffekt befuhren wir gerade das schlechteste Stück Straße seit Lettland – vielleicht der gesamten bisherigen Tour überhaupt. Sima drückte, wo es ging, mächtig auf’s Gas; auch er war am Ende. Ich sagte etwas. Er erwiderte, ich sei heute auch aus Versehen viel zu schnell über jenen einen harten Sprung im Asphalt gefahren. Ich musste ihm Recht geben. Wir einigten uns darauf, dass es eben manchmal nicht anders ging und trafen folgende Abmachung: er würde so vorsichtig fahren, wie es ihm möglich wäre. Sollte er an einer Stelle einen groben Fehler machen, dann könnte ich ihn darauf ansprechen. Im Gegenzug würde aber auch er mir jeden Schnitzer vorhalten dürfen. Heute schreibe ich dieses Abkommen unserer mentalen Erschöpfung zu. Heraus kam dabei nur – das sollte sich v.a. am nächsten Tag erweisen – dass ich genauso „schlecht“ fuhr, wie Sima … bzw. er genauso „gut“, wie ich. Dennoch schmerzte es, was diese Straße unserem teuren Bus antat. Doch die Russen fuhren zügig; wir konnten nicht alle aufhalten. Und wirklich schnell war es mit 60 ja gar nicht. Unsere Durchschnittsgeschwindigkeit lag auf der gesamten Strecke immer bei knapp unter 80. Sima sagte, „Bus ist gut, starkes Auto, muss das aushalten. Ich würde mit diesem Bus 10 Mal nach Sibirien fahren und keine Angst.“ Ich wünschte, er hätte Recht. Als ich schon alle Hoffnung fahren lassen wollte, dass sich auf dieser Strecke noch einmal etwas bessern könnte, hörten die abgefrästen Stellen auf. Welch eine Wohltat. Endlich wieder gleiten, endlich nicht mehr das Gefühl haben, über Granitgeröll zu poltern.

 

Sima fuhr 60 Kilometer. Als sich vor uns eine weitläufige Lichtung auftat, bat ich ihn, langsamer zu werden. Ein Sandweg kreuzte die E30. Links verbreiterte er sich zu einem Platz. Ein guter Ort zum Rasten. 21:10 Uhr laut Armaturendisplay. Wie spät auch immer das sein mochte. Der Mond leuchtete am wolkenlosen, rasch dunkler werdenden Himmel. Unser Tageswerk war vollbracht: 982 Kilometer. Wir waren verschwitzt und hungrig. Staub klebte uns in allen Poren.

Es wurde allmählich Zeit, in die Zivilisation zurück zu kehren.

Ich ging gleich los, in den Wald, Äste holen. Die Mücken hatten uns schon wieder am Schlaffitchen. Und Gnitzen – die noch größere Plagegeister sind und wie allen Mückenarten besonders in den Abendstunden ausschwärmen. Ohne Feuer, keine Chance. Bald loderten die Flammen. Ich stellte mich voll in den Rauch. Nebenbei erwärmte mir mein Gaskocher eine Konservendose Hühnernudelsuppe. Die exzellente Küche aus der Region Deutschland.

Wir waren allein. Nur der Fernverkehr rauschte noch vorbei. Wie Sternenkreuzer durch das schwarze Nichts irgendwelcher Science-Fiction-Welten. Schwarze, pfeifende Ungetüme mit den leuchtenden Augen wilder Tiere. Die Straße. Das endlose Fahren. Waren wir nicht eigenartige Geschöpfe? Unser Glück lag nicht in der Multiplikation virtueller Daten, nicht im charismatischen Glanz einer gelungenen Performance. Unser Glück lag da vorn. Und um dahin zu kommen mussten wir immer eines bleiben: in Bewegung. Die Bewegung war unser eigentliches Element. Solange sich etwas bewegt, sich dreht, solange etwas vorbeizieht, wir ein wenig Gas geben, lenken, schalten oder bremsen können, solange wir rasten, speisen, austreten und vor allem wieder aufbrechen können – dieses ewige Aufbrechen – solange die Maschine okay ist, der Rücken mitmacht und man weiß, dass es zu Hause allen gut geht – solange ist die Welt in Ordnung. Der Mond scheint. Wieder 100 Kilometer geschafft…

 

Sima und ich hatten etwas Großes vor. Wir wollten nicht völlig versifft am späten morgigen Abend in Nowosibirsk ankommen. Wir wollten schon am frühen Nachmittag da sein. Wir wollten – ich wollte – mich noch frisch machen und mit meinen ersten Gastgebern wie ein zivilisierter Mensch den Abend verbringen. Oder – falls es keine Gastgeber geben würde, denn man wusste ja nie – in der Lage sein, mir eine alternative Bleibe zu suchen. Um so zeitig in Nowosibirsk anzukommen, würden wir entsprechend zeitig aufbrechen müssen. Sima verfolgte eigene Pläne, die ich zwar nicht kannte, doch auch ihm kam der Gedanke, am frühen Nachmittag einzulaufen, sehr zu pass.

Doch so einfach war das nicht. Die letzte Etappe betrug noch einmal 900 Kilometer. Das bedeutete inklusive Pausen 12 Stunden Fahrt. Wollten wir um 14 Uhr da sein, mussten wir 2 Uhr nachts aufbrechen (an die Zeitverschiebung dachte ich überhaupt nicht). Jetzt war es 21:30 Uhr. Wir würden also maximal 4 Stunden schlafen können. Ich bat Sima, sein Handy auf die Weckzeit 1:30 Uhr zu stellen. „Was, so spät?“, fragte er. „Ja“, meinte ich. „Das wird noch einmal anstrengend morgen. Ich brauche etwas Schlaf, sonst kannst du mich gleich wegschmeißen.“ Sima sagte nichts. Wir legten uns beide im Auto hin – er auf den Vordersitzen, ich hinten auf der Matratze. Wieder zeigte das Bier keine Wirkung. Vielleicht war ich zu aufgeregt. Oder es war der Druck, unbedingt schlafen zu müssen. Jedenfalls lag ich sehr lange wach. Irgendwann dämmerte ich weg …

 

David Berger
David Bergerhttps://philosophia-perennis.com/
David Berger (Jg. 1968) war nach Promotion (Dr. phil.) und Habilitation (Dr. theol.) viele Jahre Professor im Vatikan. 2010 Outing: Es erscheint das zum Besteller werdende Buch "Der heilige Schein". Anschließend zwei Jahre Chefredakteur eines Gay-Magazins, Rauswurf wegen zu offener Islamkritik. Seit 2016 Blogger (philosophia-perennis) und freier Journalist (u.a. für die Die Zeit, Junge Freiheit, The European).

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