Freitag, 29. März 2024

2. Kapitel, Teil 2 – Passagier

Marko Wild

III

Wir fuhren los. Kaum gestartet, wurde es schräg: Sima sprach nur noch Russisch. „Was soll das?“, fragte ich. Sima antwortete auf Russisch. „Kannst du das bitte lassen und Deutsch mit mir reden?“

Ich denke, du wolltest besser russische Sprach lernen. Auf dem Weg nach Russland narmalerweis ich rede immer Russisch.“

Wenn ich kein Wort verstehe, dann ist das ein bisschen sinnlos. Also rede bitte Deutsch.“

„Gut, dann ich rede eben gar nichts.“

Toll. Sima schwieg etwa eine halbe Stunde. Als er wieder zu reden beliebte, folgte sogleich die nächste Diskussion: unsere Route. Ich hatte ihm gesagt, ab Russland würde ich mich auf seine Navigation verlassen. Bis Russland aber bestimme ich den Weg. Nach einigen gemeinsamen Abwägungen zwischen kürzester Verbindung (über Weißrussland und Minsk sparte man etwa 200 Kilometer bis Moskau) und eventuell unproblematischerem Grenzübertritt (laut Sima würden die Weißrussen oft sehr genau hinsehen) entschieden wir uns für den längeren Weg über Litauen und Lettland. Doch wie dahin? Sima hielt die Stecke Pilsen – Prag – Jelena Gora für die beste, weil kürzeste. Betonte aber, es sei meine Entscheidung, er wäre nur Passagier. Ich hingegen wollte ursprünglich die A9 bis Berlin und dann über Frankfurt/Oder Richtung Poznan fahren. Weil ich diese Strecke kannte. Unterwegs beschloss ich, die Route Dresden – Breslau – Łódź zu nehmen. Die lag näher an Simas Route, allerdings würde ich das tschechische Mautsystem umgehen. Sima hatte keine Einwände.

Auf der A72 machten wir eine erste kurze Pause. Es war Morgen, windig und regnerisch. Als ich Sima auf dem Parkplatz herumstehen sah, musste ich lachen. „Was?!“, fragte er. „Dein Jogging-Anzug“, sagte ich. „Du siehst wie ein typischer Russe auf Reisen aus. Sima hob die Augenbrauen und zupfte an seiner Trainigsjacke: „Diese Anzug spezial!“, behauptete er in gespieltem Ernst. Ich prustete los. Er grinste. „Das muss ich unbedingt so schreiben“, rief ich, „diese Anzug spezial … das ist großartig!“

Diese Bemerkung hakte sich in Simas Gedanken fest. Und begann, in ihm zu arbeiten. Von meiner Absicht, eine Reportage über Russland zu schreiben, wusste er bereits. Als wir weiter fuhren, fragte er, ob ich denn auch über ihn schreiben würde. Ich meinte, das ließe sich wohl schlecht vermeiden, weil er Teil meiner Reise sei. „Das möchte ich nicht“, sagte er. „Ich will nicht in deine Reportasch vorkommen. Wenn ich ihn weglassen würde, meinte ich, müsse ich etwas Falsches erzählen – eine Reise, die so nie statt gefunden hätte. Das schien ihm einzuleuchten. Er schwieg. Doch ich sah ihm an, dass es ihn weiter beschäftigte. Wenige Minuten später fing er erneut von meiner Reportage an und wie sehr ihm dieser Gedanke mißfiel. Es kostete mich einige Mühe, ihn davon zu überzeugen, dass doch im Moment noch überhaupt gar nichts fest stünde und deshalb jetzt noch keiner sagen könne, wie das später genau aussehen würde. Es sei völlig sinnlos, sich bereits jetzt auf irgendetwas festlegen. Vielleicht schriebe ich am Ende auch überhaupt keine Reportage. Möglicherweise… Damit gab er sich zufrieden. Für den Moment.

In Görlitz tankte ich noch einmal voll. Inklusiver zweier Reservekanister hoffte ich nun, bis Russland zu kommen. Von da an würde der Sprit günstiger sein, unter 50 Cent pro Liter. Ich hatte 57.000 Rubel dabei. Und knapp 1000 Euro. Keine Ahnung, wie weit man damit kommen würde. Für die Strecke bis Nowosibirsk hatte ich 15.000 Rubel für Diesel eingeplant. Als in Polen auch der letzte deutsche Radiosender seinen Dienst quittierte, meinte ich zu Sima, erst jetzt würde ich mich wirklich fühlen wie in einem anderen Land. Er pflichtete mir bei: auch ihm ginge es regelmäßig so. Alles war im Fluss. Alles war möglich. Das Wetter wurde besser. Wir kamen gut voran. Die polnische A4 durch Schlesien bis Breslau war nur wenig befahren. Und das Beste: Ich musste keine Maut zahlen. Das System stand schon, doch die Betreibergesellschaft hatte es noch nicht scharf gestellt. So war ich froh, mich für diese Strecke entschieden zu haben.

Wir sprachen über Russen und Deutsche, ein Thema, bei dem Sima sich einige Kompetenz zumaß. Ich meinte, es wäre wahrscheinlich vor allem die Sprache, derentwegen Russlanddeutsche von den Deutschen eher für Russen gehalten würden. Auch bei ihm – Sima – sei der russische Zungenschlag noch deutlich zu hören. Ja, gestand er, zu Anfang habe er sich sehr angestrengt, gut Deutsch zu lernen. Doch nach ein paar Jahren habe er seine Bemühungen abgebrochen.

Ich fragte, warum.

Weiß auch nicht. Vielleicht weil niemand wollte mir geben meine alte Arbeit. Ich kenne mich gut mit Autos aus. Aber in Werkstatt ich bekomme nur Hilfsarbeit. Ich sage, ich kann das, lass mich zeigen. Aber man sagt, du hast keine Qualifikation, keine Nachweis. Ich weiß, was ich kann. In Russland ich konnte das alles machen. Und niemand fragt mich nach Qualifikation.“

Ja, so ist das leider in Deutschland“, stimmte ich ihm zu.

Aber ich will wieder besser Deutsch lernen. Wenn ich falsch sage – du darfst mich berichtigen. Ich will perfekt Deutsch sprechen, wie eine Deutsche. Ich zu lange nicht verbessert.“

Perfekt? Simas leidenschaftlicher Hang zum Superlativ erheiterte mich.

Ich lachte. „Gut, dann können wir gleich damit anfangen. Es heißt nicht lang-ge, sondern lange. Mir ist das schon oft aufgefallen: Alle Russlanddeutschen sprechen –‚ng’ getrennt aus. Daran erkennt man sie sofort. Aber das ist falsch. So spricht man nicht in Deutschland. Es wird zusammen ausgesprochen.“

Wie: falsch?“ Er verstand überhaupt nicht, was ich meinte.

Na: ‚-ng!’“, machte ich es ihm vor, „-ng … lange … zusammen, hörst du? Lange … -ng … sag‘ mal: lange.“

Lang-ge.“

Nein, eben nicht. Hör noch mal: lannnnge.“ Ich sprach es ganz weich und überdeutlich aus.

Lange?“

Ja! Richtig! Perfekt! Und jetzt: Schlange. Schlange …“

Schlang-ge.“

„Nein. Hör‘ mal: Schlannnnge …“

Schlange …“

Sehr gut! Schlange, lange, Enge, Bange, Wange.“

Schlang-ge, lang-ge …“

Nein, nein, nein, nein, nein, du hast es doch gerade richtig gesagt …“

Aber was jetzt war falsch?“

Na du hast das ‚-ng’ wieder getrennt ausgesprochen. Sag‘ mal -ng … -ng … -ng … die Zunge hier ganz weit hinten“ – ich zeigte auf die Stelle über dem Kehlkopf – „oben an dem Gaumen drücken …“

-ng … –ng … –ng …“

Genau. Und jetzt: Schlange, lange, Wange, -ng, -ng …“

Schlange, lange, Wang-ge …“

Nicht Wang-ge! Wannnnge … Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass das so schwer sein soll. Hörst du denn den Unterschied gar nicht?“

Egal!“ Er klang verärgert. „Ich keine Lust mehr. Ich habe jetzt beschlossen nicht besser Deutsch zu lernen. Ich bleibe, was bin. Und ich bin keine Deutsche. Ich bin Wolgadeutsche. Du brauchtz mich nicht mehr berichtigen!“ schloss er trotzig.

Damit war das Thema ein für alle mal erledigt. Sima blieb beim getrennten -ng.

Kurz vor Breslau machten wir eine zweite Pause. Sima wollte wissen, ob er denn einmal fahren solle. Ich könne ihn jederzeit fragen. Es war noch nicht einmal Mittag und ich fühlte mich topfit, weshalb ich entgegnete, erst einmal so lange fahren zu wollen, wie es bei mir ginge. Aber er würde heute sicher noch ran müssen. Neben uns machte eine junge Familie Rast. Die Kinder waren schlecht drauf, stritten sich ständig und weinten. Ihr vollbepackter Van trug ein deutsches Kennzeichen, Leipziger Nummer. Meine ehemalige Stadt. Ich sprach den Mann an. Er war Historiker und die vergangenen Jahre in Leipzig beschäftigt gewesen. Nun hatte er ein neues Forschungsprojekt in Warschau bekommen. Irgendetwas zur Nazizeit – Kollaboration zwischen Polen und Deutschen. Das würde ihn schon sehr interessieren, meinte er. Die ganze Familie zog gerade um. Seine Frau war Polin, sprach aber gut Deutsch. Ich fragte sie, ob sie froh sei, wieder in ihrer Heimat leben zu können. „Nein“, sagte sie, „ich hasse Warschau. Da wäre es überhaupt nicht schön. Sie seien alle schon sehr traurig, von Leipzig weggehen zu müssen. Aber was wolle man machen? Ich fragte, ob die Stelle in Warschau etwas Längerfristiges sei. Das Projekt dauere zwei Jahre, antwortete der Mann. Wie es danach weiter gehe, stünde in den Sternen. („Und dafür mit Kind und Kegel umziehen“, dachte ich mir.) Ich fragte ihn, ob denn die Historiker über die Ursachen des Zweiten Weltkrieges tatsächlich so einer Meinung wären, wie es in den Medien kolportiert werde, dass also dieser Krieg Hitlers Eroberungswillen zu zuschreiben sei. Ach nein, meinte er lächelnd, das würde schon lange nicht mehr so monokausal gesehen. Was denn unser Ziel sei, fragte er. Nowosibirsk, erwiderte ich, und stellte mich als Journalist vor, der eine Reportage über Russland schreiben wolle. Da war er baff. „Hast du das gehört?“, meinte er zu seiner Frau. So etwas habe er auch schon immer mal machen wollen. Damit war unser Gespräch beendet, denn die Kinder mussten unbedingt zur Raison gebracht werden; das Geschrei war fast nicht mehr auszuhalten. Wir wünschten uns gegenseitig alles Gute, und ich ging grinsend zu Sima zurück. „Weißt du was“, sagte ich, „ich glaube, wir sind die coolsten Hunde weit und breit. Wir fahren einfach nach Nowosibirsk. So was macht niemand!“

Sima lächelte.

IIII

Auch die 200 Kilometer Schnellstraße von Breslau bis Łódź brachten wir ohne Probleme hinter uns. Dann aber war genau die eine bestimmte Abfahrt, die ich mir vorher angeschaut und aufgeschrieben hatte, gesperrt. Die Straßenführung zwang uns in eine Umleitung und schon befanden wir uns mitten in der Stadt – etwas, das ich unbedingt hatte vermeiden wollen. Denn ich fuhr ohne Navi, nur nach Karte. Und natürlich hatte ich keinen Durchfahrtsplan von irgendeiner der Städte auf unserem Weg. In Łódź wusste ich bald nicht mehr, wo Norden, Osten, Süden und Westen waren. Wir hielten uns einfach an die Beschilderung und fuhren Richtung Warschau. Das führte uns aus der Stadt heraus auf einer zunächst nicht zuordnenbaren Route. Nach mehreren Kilometern fand ich im Osteuropa-Autoatlas die Orientierung wieder: Die Umleitung schickte uns nach Süden – also grob zurück in die Richtung, aus der wir gekommen waren. „Ich habe von Anfang gesagt, man muss fahren die andere Straße!“, meinte Sima mißbilligend. Das stimmte. Etwa 100 Kilometer nach Breslau war eine (kürzere) Verbindung nach Warschau von der Schnellstraße abgezweigt. Diese hätte aber 250 Kilometer Landstraße und damit wahrscheinlich LKW-Tempo bedeutet. Ich hingegen wollte Autobahn oder Schnellstraße fahren. Nun war der Salat angerichtet: Ich hatte mich verfahren und Sima hatte Recht behalten.

An der nächsten Kreuzung, zehn Kilometer südlich von Łódź, wendete ich und fuhr zurück. Es musste doch auch ohne Karte einen Weg durch die Stadt geben! Im Autoatlas, Maßstab 1:700.000, waren einige Fernstraßen in die graue Schraffur von Łódź gezeichnet. Hier und da ein Knick – das musste genügen. Sima sagte nichts. Vielleicht wollte er einfach nur mitverfolgen, wie ich es anstellen würde. Und siehe da: Łódź war kein Buch mit sieben Siegeln. Ich verfuhr mich kein einziges Mal und lotste uns in 20 Minuten durch die Stadt. Bald waren wir wieder auf der Autobahn. Durchatmen. Dann ging es sehr schnell. Nach 100 Kilometern erreichten wir Warschau. Die Stadt lag beeindruckend groß am östlichen Horizont. Ich dachte an den Historiker und seine Frau, die Warschau hasste und jetzt zwei Jahre lang dort leben musste… Wir umfuhren die Stadt von Westen nach Norden auf einem sehr gut ausgebauten und beschilderten Autobahnring. Nun kam, wovor ich mich etwas fürchtete: 300 endlos lange Kilometer Landstraße bis zur litauischen Grenze, meinem Tagesziel. Ich war mittlerweile 1000 Kilometer und zehneinhalb Stunden gefahren. Der Rücken schmerzte. Allmählich forderte die erbrachte Leistung ihren Tribut. 150 Kilometer nach Warschau übergab ich das Steuer an Sima.

Der setzte den Bus sehr langsam und übervorsichtig in Bewegung, wartete lange an der Ausfahrt, scherte im fließenden Verkehr nie aus und wirkte seltsam zaghaft. Ich wunderte mich und meinte, er könne ruhig „normal“ fahren. Das schien ihn zu entspannen. Sima gab ein bisschen Gas und ich erfreute mich, im zufriedenen Bewusstsein, mein Tagewerk vollbracht zu haben, an der immer schöner werdenden Landschaft. Allein diese klangvollen Namen: Grajewo, Rajgród, Augustów! Es war Erdbeer- und Pilzsaison in den Masuren. Frauen verkauften frisch Gesammeltes und Eingewecktes am Straßenrand. Auf den Weiden standen Pferde. Wald, Hügel, Wiesen und Seen waren ganz harmonisch in träumerisch-ländlichen Proportionen zusammenkomponiert. Ich dachte, wie schön die Welt doch ist. Hier müssen wir mal Urlaub machen…

Dann zog sich die Strecke doch. 33 Kilometer bis Suwałki. Und immer noch nicht die Grenze. Halb Acht. Keine zwei Stunden Sonne mehr. Gottseidank waren die Tage lang. Ich wollte endlich irgendwo ankommen. Die Kilometer wurden quälend. Endlich, die ersten Schilder kündigten LT – Litauen – an. Sima fuhr rechts ran und rauchte eine. Wie in jeder Pause. Er gab mir den Schlüssel.

Du fährst.“

Warum?“

Weil du einen Platz zum Schlafen finden willst und das deine Aufgabe ist.“

Ich hatte ihm nämlich gesagt, wie ich die Nacht verbringen wollte: wild in der Natur campieren. Was Sima gar nicht gefallen hatte. Er machte sich Sorgen, dass wir ausgeraubt werden oder Probleme mit der Polizei bekommen könnten. Seiner Vorstellung nach sollten wir besser auf einem Parkplatz im Auto schlafen. Oder noch besser: durchfahren. Also musste ich bereits nach 150 Kilometern Pause wieder ran. Was mich eigentlich nicht störte. Nur Simas rigide Art, Dinge zu entscheiden, musste ich irgendwie in den Griff bekommen.

Jenseits des verlassenen Grenzübergangs mit weiß gestrichenen, filmkulissenhaften Gebäuden einer ehemaligen Staatsmacht reihte sich Rastplatz an Rastplatz und Tankstelle an Tankstelle. Es war Abend geworden, die Beleuchtungen für die Nacht schon an. Ich versuchte, ein Muster in der Preisgestaltung zu erkennen- billiger, je weiter von der Grenze weg, oder umgekehrt? Aber es gab keines. Nach ein paar Kilometern wurden rechts die Rastplätze seltener, während mir von links eine sanft-hügelige Wiesen- und Heidelandschaft sirenenhaft zusang, ich solle doch kommen und in ihr verweilen. Mein Blick wanderte, suchte etwas zu erhaschen, ein Merkmal, eine Übereinstimmung. Ich fuhr langsam und schaute mehr nach links, als auf die Straße. Und da sah ich es, in einer Sekunde. Alles war da, ein Feldweg, ein Hügel, dessen Rückseite von der Straße aus nicht einsehbar war, eine kleine Umzäunung – eventuell für Schafe – weiter oben der Waldrand, der uns von der Gegenseite aus abschirmen würde. Obstbäume bei den Schafen. Und eine große, einzelne Esche. So stellte ich mir Cornwall, Irland oder die Bretange vor. Hier würden wir campieren.

Ich fuhr den Feldweg hoch. Sima jammerte. Wenn hier jemand kommen würde! Das sei ihm sehr unangenehm. Als wir hinter den Hügel blicken konnten, jubilierte ich: Das war perfekt! Tatsächlich ein paar Schafe. Dazu eine kleine verlassene Holzhütte. Weiter unten, neben der Esche, ein größerer Bau aus Holz, eventuell eine Scheune. Zwischen beiden ein rechteckiger, zwei Fuß hoher Mauersockel aus Natursteinen, aus dem heraus mannshohe Betonteil-Rahmen ragten. Die Mauer umschloss eine von Brennesseln überwucherte Grube. Daneben verrostete Agrargeräte, eine Egge, eine Walze. Unter der Esche war die Erde eben. Ein guter Platz für das Zelt. „Hier kommt niemand!“, rief ich Sima zu. Auch ihm schien der Platz nun ganz geeignet, denn er jammerte nicht länger. Doch wollte er es nicht zugeben und mimte weiterhin den Skeptischen. Ich stellte die Zündung aus. Gut gemacht, Bus! 1316 Kilometer am ersten Tag. Sima fand das akzeptabel, aber ausbaufähig.

Es ging auf neun Uhr zu. Kein Empfang im Handy. Ich dachte an Daheim und hoffte, sie würden wissen, dass es mir gut ginge, dass wir einen schönen und sicheren Platz gefunden hatten. Denn genau das hatten wir. Hatte ich. „Los Sima, lass uns Abendbrot machen!“ Er wollte nicht. Hatte im Auto schon gegessen. „Komm, ich gebe ein Bier aus.“ Er gesellte sich dazu. Wir setzten uns auf den Mauersockel, der eine gleichmäßig ebene Oberseite hatte, und ich breitete mein Essen aus. Tomaten, Brot, Butter, Wurst, Bier. Es roch herrlich auf diesem Hügel. Der Mond stand bereits hell und hoch, die Sonne ging gerade unter. Keine Wolke. Der Himmel war rötlich und blau zugleich. Konnte es einem besser gehen? Mir nicht.

Aber Sima, Sima …

Irgendetwas schien ihm nicht zu passen. Bevor das Licht verschwand, machte ich Fotos. Sima ging „spazier“, hielt sich auffällig abseits oder verschwand hinter einer der Hütten. Er wirkte unruhig, nervös. Als ich einmal versuchte, ihn in ein Bild zu bekommen, drehte er sich weg. Ich fotografierte mich mit Selbstauslöser und aß weiter. Der Himmel wurde überraschend schnell dunkel und der Mond gleißte bald silbern aus dem dunkelblauen Firmament. Er stand direkt über dem schwarzen Umriss der großen Esche. Ein wahnsinniges Bild! Was für ein Leben.

Nach dem Essen hätte ich mich gerne noch ein wenig unterhalten. Aber ein richtiges Gespräch wollte sich nicht entwickeln. Ich machte einen Rundgang und erkundete die Umgebung. Dann bot ich Sima mein Zelt an. Er lehnte ab. Nie im Leben würde er in einem Zelt schlafen! „Gut“, sagte ich, „dann schlafe eben ich im Zelt, und du kannst im Bus auf der Matratze schlafen.“ Er schien erleichtert. Offenbar hatte er bis zu diesem Moment nicht gewusst, wo und wie er die Nacht verbringen würde. Mir war es so ebenfalls lieber. Es war kühler hier draußen, nicht so stickig wie im Bus. Das Zelt war schnell aufgebaut, Sima erbat den Schlüssel, damit er sich einschließen könne. Ich zog die Augenbrauen hoch. Er sah meine Skepsis und nahm jeglicher Gegenwehr mit ein paar spekulativen Szenarios ebenso endgültig und unwiderruflich den Wind aus den Segeln, wie er mich davon überzeugt hatte, dass ich ihn entweder umsonst mitnehmen werde – oder gar nicht. Dann meinte Sima, es sei schon spät. Man sollte jetzt unbedingt schlafen, denn morgen müssten wir, wenn wir vorankommen wollten, zeitig aufstehen. Spätestens um Sechs.

Diese letzten Sätze lagen mir im Kopf, wie drei Dosen Ölsardinen im Magen. Bis zum Morgengrauen wälzte ich mich schlaflos herum. Als mich mein Handy zur vereinbarten Zeit wecken wollte, hörte ich es nicht. Irgendwann muss Sima an mein Zelt geklopft und meinen Namen gerufen haben. Von weit weg kam ich zu mir, übermüdet und völlig erschlagen. Ich stand auf und wusste: Für diese entsetzliche Müdigkeit gab es nur einen Grund – ich hatte mich von Sima unter Druck setzen lassen. Das würde sich heute ändern. Das hier war meine Reise. Und ich hatte Zeit.

***

Fortsetzung folgt

David Berger
David Bergerhttps://philosophia-perennis.com/
David Berger (Jg. 1968) war nach Promotion (Dr. phil.) und Habilitation (Dr. theol.) viele Jahre Professor im Vatikan. 2010 Outing: Es erscheint das zum Besteller werdende Buch "Der heilige Schein". Anschließend zwei Jahre Chefredakteur eines Gay-Magazins, Rauswurf wegen zu offener Islamkritik. Seit 2016 Blogger (philosophia-perennis) und freier Journalist (u.a. für die Die Zeit, Junge Freiheit, The European).

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