Donnerstag, 28. März 2024

Warum es heute wichtiger denn je ist, dass wir unser feiges Gesicht verlieren

(Gastbeitrag) Bereits vor einem Jahr, war zu ahnen, wie wir uns mundtot machen lassen werden und man nicht laut genug mahnen kann. Jeder von uns wird sich eines Tages fragen (lassen) müssen:

„Was hast Du (dagegen) getan?“

Ich sehe jetzt schon den Schmerz und Wut in den Augen der nachfolgenden Generationen, wenn ihnen klar wird, dass ein ganzes Volk wieder in gefolgsamer Starre verharrt hat, als das Unmögliche bereits in vollem Gange war. Und so schrieb ich am 6. Januar 2016:

Auch ich trage eine Schuld

Ich habe mich im Geschichtsstudium gefragt, ob die Menschen damals nicht gemerkt haben, dass sie auf einen Katastrophe zusteuerten, warum es geschehen konnte, dass um sie herum so viel Unrecht – wie etwa die Verfolgung durch die Nationalsozialisten passierte und wie aus Alltag Krieg werden kann.

Von außen betrachtet erscheint es unlogisch, warum niemand „Halt!“ gerufen hat.

Entwicklungen sind nicht einfach Geschicke der Zeit, es sind Prozesse, an denen unendlich viele Menschen beteiligt sind aktiv oder passiv. Es sind nicht einfach nur „die da oben“ – es ist jeder von uns und jeder trägt Verantwortung und jeder trägt Schuld – auch heute!

Was würde Anne Frank sagen?

Ich stelle mir vor, ich treffe Anne Frank. Ich würde sie gerne fragen, wie man es schafft, soviel vermeintliche „Normalität“ zu erzeugen, wo doch die Realität eine ganz andere war. Dann würde ich vielleicht besser begreifen, wie wir es hinbekommen, derzeit so zu tun, als sei die Welt noch weitestgehend in Ordnung.

Das grausamste Bausteinchen, welches das Dritte Reich schuf und so erfolgreich machte, waren neben der Verfolgung und Vernichtung die kollektive Verdrängung der Geschehnisse.

Das Wegsehen und Nicht-Wahrhabenwollen – das Inkaufnehmen von Terror und das Mittragen einer menschlich gesehen untragbaren Politik. Wie Marionetten in einem bösen Spiel ließen sich die Menschen leiten – und das tun wir auch.

Schweigen, wenn man schreien müsste

„Ich halte mich aus den politischen Dingen raus“ oder „Es ändert ja auch nichts, wenn ich was sage“. Das sind die häufigsten Ausreden, wenn es drum geht, seine passive Komfortzone zu verlassen.

Ich habe es bei der Arbeit gesehen: Menschen lassen sich drangsalieren, instrumentalisieren, verkaufen ihre Seele gegen Geld. Viele sind schon dort nicht in der Lage, für sich einzustehen oder gar für andere.

Ein solches Volk ist erneut prädestiniert dazu, alles mitzumachen. Wir scheinen keinerlei Schmerz- oder Leidensgrenze zu haben.

Wir verschlucken eher unsere Zunge, als dass wir etwas Falsches sagen. Und doch müssen wir uns immer wieder fragen lassen:

Welcher Verlust wäre es denn, sein feiges Gesicht zu verlieren?

***

Foto: NLPD [CC BY 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/3.0), CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0), via Wikimedia Commons

David Berger
David Bergerhttps://philosophia-perennis.com/
David Berger (Jg. 1968) war nach Promotion (Dr. phil.) und Habilitation (Dr. theol.) viele Jahre Professor im Vatikan. 2010 Outing: Es erscheint das zum Besteller werdende Buch "Der heilige Schein". Anschließend zwei Jahre Chefredakteur eines Gay-Magazins, Rauswurf wegen zu offener Islamkritik. Seit 2016 Blogger (philosophia-perennis) und freier Journalist (u.a. für die Die Zeit, Junge Freiheit, The European).

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