Donnerstag, 28. März 2024

Warum Europa eine Umwertung seiner Werte braucht

Ein Diskussionsbeitrag von Marcus Franz 

In der Debatte um die Migrationskrise und deren Auswirkungen auf Europa ist immer wieder die Rede von den europäischen Werten. Gerne wird von den EU-Granden und den diversen Regierungs-Chefs darauf verwiesen, dass Migranten, die sich nicht an diese Werte halten, keinen Platz in Europa hätten.

Aber was genau sind diese dauernd beschworenen Werte und wer bestimmt sie? Wie werden sie festgelegt und wie werden sie gelebt?

Zunächst muss man definieren, was der Begriff „Wert“ bedeutet. Ein Wert ist immer etwas willkürlich gesetztes und jede Wert-Setzung bedingt daher, dass damit auch eine Wert-ung stattfinden muss. Die Setzung der Werte kann daher niemals alle Werte als gleich-wertig betrachten, denn sonst wären es ja keine Werte, sondern nur nihilistische Worthülsen ohne Sinn und Zweck.

Anders gesagt: Es muss für jeden, der wertet, schlechtere und bessere Werte geben und höhere und tiefer stehende. Und der Wertende muss das auch klar aussprechen und zu seinen Werten stehen: Mein Wert ist höher als Dein Wert. Daraus entsteht dann jene Leit-Kultur, an die sich jeder im nämlichen Kulturraum Befindliche anzupassen hat.

Würde der Werte-Diskurs redlich geführt und würden die europäischen Werte (die gleich noch genauer zu besprechen sind) echte Inhalte und die höchste Gültigkeit haben und eben als die besten Werte gelten, die demzufolge auch zu verteidigen sind, so müsste die EU jedem kulturfremden Ankömmling das Bekenntnis zu diesen Werten abverlangen, schriftlich und eidesstattlich. Wer das nicht täte, dürfte gar nicht erst herein. Festgelegte und klare Werte sind nicht disponibel und nicht zu verhandeln. Außer man hat die falschen oder die schwächeren als die je Anderen.

Und damit beginnt die chronische Malaise und das letztlich selbstzerstörerische Dilemma Europas. Die EU rühmt sich vor allem der „Toleranz“ , der „Menschlichkeit“ und der „Liberalität“ als ihrer höchsten Werte.  Schon beim Benennen dieser Werte stolpern die EU-Propagandisten aber in die selber gestellte Falle und müssen unters Joch dieser Begriffe, die sie zu ihren Werten erhoben haben:

Die Toleranz an sich ist kein Wert, sondern eine Haltung und wenn sie trotzdem als Wert gesetzt wird, knebelt sie sich und alle anderen dazu fantasierten eigenen Werte sofort selbst.

Die Begründung ist einfach: Wer Toleranz als Wert setzt und diesen dann noch hoch bewertet, muss immer auch andere Werte als nur die eigenen zulassen, das verlangt diese Wertung. Und zwar müssen dann sogar solche Werte, die den Wert „Toleranz“ konterkarieren, akzeptiert werden. Wir sehen den Beweis dieser gelebten und destruktiven Unsinnigkeit tagtäglich in den Nachrichten und wir spüren die monströse Absurdität der bereits tabuisierten Toleranz-Wertung regelmäßig im Alltag.

Habt doch Verständnis und Toleranz für andere Kulturen und Menschen! Mit diesem und ähnlichen Sätzen müssen die Toleranten die stetige Flucht nach vorne antreten, denn die Toleranz gestattet alles – nur das Zurück, das erlaubt sie ganz und gar nicht.

Die „Menschlichkeit“ als Wert ist überhaupt ein schwammiger und sinnentleerter Ausdruck, mit dem man alles und jedes rechtfertigen kann. Sogar Rechtsbrüche wie die Grenzöffnung 2015 kann man damit legitimieren.

#Böse formuliert: Wer am lautesten nach Menschlichkeit schreit, der hat unlautere Absichten. Als Wert taugt sie nicht, die Menschlichkeit, aber als Eigenschaft ist sie ohnehin jedem Menschen, der Gefühle und Verstand hat, zu eigen.#

Auch der Wert „Liberalität“ ist keiner, von dem man nachhaltig zehren kann. Liberal kann eine bestimmte Politik sein oder eine Volkswirtschaft, aber kein Kontinent und kein Staatenbund, der nicht einmal eine gemeinsame Verfassung hat.

Wenn dieser Wert namens „Liberalität“ erlaubt, dass illiberale Gesinnungen und Religionen genauso ausgelebt werden dürfen wie liberale (und das lässt Liberalität als Wert definitiv zu), so wird dem Konflikt sofort die Arena eröffnet. Die Wertungen prallen im so toleranten und liberalen EU-Gebäude aufeinander und müssen sich dort am Ende bis zum Äußersten bekriegen.

Das Setzen von authentischen Werten bedingt nämlich auch, dass man andere Werte als die eigenen bekämpfen, ja letztlich sogar vernichten muss. Wertung ist immer auch Zerstörung. Und wo Werte sind, ist Krieg nicht fern. Als Heimstätten postmoderner und ausdifferenzierter Gesellschaften haben sich die europäischen Staaten im Wissen um diese fundamentale Werte-Problematik einst hoffnungsvoll zu den diffusen Schlagworten Liberalität, Menschlichkeit und Toleranz bekannt.

Die von den Weltkriegen verschreckten  Kultur-Optimisten der frühen Jahre vermeinten, die europäischen Menschen könnten mit diesen Werten nach all den üblen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts im „Projekt EU“ ihr Glück auf Erden finden. Das oberste Ziel der Union war die Erhaltung des Friedens. Dass der Preis für diese pazifistische Phantasie nun die Unterwerfung sein wird, konnte ja keiner ahnen. Oder doch?

Spät ist es jedenfalls, sehr spät. Die ermattete und degenerierte EU kann dieser ihrer selbst gemachten Werte-Tyrannei offenbar nicht mehr entkommen. Sie hat durch ihre Selbstschwächung auch niemandem etwas entgegenzusetzen.

Die eigenen, sich selbst lähmenden „Werte“ eröffnen dafür all den anderen, die mit Macht ihre Werte durchsetzen wollen, jeden nur erdenklichen Raum.  Die Europäer konnten diese Räume bisher nur mit Willkommensgrüßen schmücken. Ob sie durch eine Umwertung ihrer Werte noch einmal zu alter Kraft zurückfinden können?

Erstveröffentlichung des Textes auf dem lesenswerten Blog des Autors: The daily Franz

markus-franzZum Autor: Marcus Franz – Geboren 1963, verheiratet, 3 Kinder (2009 kam der Sohn und 2011 die Mädchen, Zwillinge), Facharzt für Innere Medizin, Additiv-Facharzt für Gastroenterologie und Onkologie, Arzt für Allgemeinmedizin, Notarztausbildung, Master of Science, Krankenhausmanagement und Nationalratsabgeordneter (Freier Mandatar)

Dem Autor auf Twitter folgen: https://twitter.com/MD_Franz

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Foto: Zwei der vier Kardinaltugenden (c) CC Wikimedia

David Berger
David Bergerhttps://philosophia-perennis.com/
David Berger (Jg. 1968) war nach Promotion (Dr. phil.) und Habilitation (Dr. theol.) viele Jahre Professor im Vatikan. 2010 Outing: Es erscheint das zum Besteller werdende Buch "Der heilige Schein". Anschließend zwei Jahre Chefredakteur eines Gay-Magazins, Rauswurf wegen zu offener Islamkritik. Seit 2016 Blogger (philosophia-perennis) und freier Journalist (u.a. für die Die Zeit, Junge Freiheit, The European).

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